Nesta und Sal sind noch Teenager, als die Tropfen auf den Markt kommen. In kurzer Zeit benutzt sie nahezu jede und jeder, Nesta kann seinen Eltern sogar dabei zuschauen. Traumtropfen heißen sie, Träume geben sie. Ein kleines braunes Fläschchen und eine Einmalpipette, mit der man sich den flüssigen Inhalt in die Augen tropft, ist alles, was man braucht. Schon kann es losgehen, in einen Traum. Selbst tropfen kann Nesta nicht, noch ist er nicht sechzehn. Aber es gibt nicht nur die legalen Traumtropfen, es gibt auch die illegalen, die STs, die unter der Hand gedealt werden. Nesta, ein wenig klein geraten und eher schüchtern, kann nur davon träumen, an die illegalen zu kommen, er brächte nie den Mut auf, einen Dealer anzusprechen. Aber er hat Sal, seinen besten Freund, und dieser erfüllt Nesta auch den größten Wunsch. Mit vierzehn tropft Nesta seinen ersten Traum. Die Traumtropfen werden fortan sein Leben bestimmen.
Traumtropfen entstehen aus den Träumen von Menschen, wie genau, interessiert eigentlich niemanden, Hauptsache, sie können gekauft werden. Nun träumt zwar jeder Mensch, aber nicht alle Träume sind publikumsträchtig. Nur wenige sind ‚begabt’ genug, ein Publikum anzusprechen. Träumer zu werden, bei einer der großen Firmen eingestellt zu werden. Träume einzuträumen, die dann in Tropfenform von einem Millionenpublikum weltweit mitgeträumt werden können, wird zum begehrten Ziel von Nesta. Ein Traum-Star will er werden.
Auch Sal hat seine Träume, sie liegen in der Musik. Auflegen, Musikstücke mischen, ein Publikum mit Tönen betören, ganz oben ankommen mit dieser Kunst, ist sein Traum.
Der Weg ist hart und scheint aussichtslos. In kurzer Zeit landen die zwei, inzwischen volljährig, in einer Wohnung in den drei Hochhäusern, eine Gegend der namenlosen Stadt, wo die hausen, die keinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Doch dann hat Sal Glück und kurz darauf auch Nesta. Nicht nur wird er zum Vorträumen eingeladen, er lernt auch Tedeisha kennen, die die große Liebe seines Lebens wird. Tedeisha aber hat den gleichen Traum wie Nesta, sie will Träumerin werden. Während Nesta sich immer mehr im Tropfen verliert und damit auch die Fähigkeit, aktiv zu träumen, gelingt Tedeisha der Durchbruch als Träumerin. Auch Sal ist dabei, der Star unter den DJs zu werden. Nesta muß sich damit begnügen, Verkäufer in einer Traumathek zu sein.
Eines Tages geschieht etwas Unerwartetes. Immer mehr Menschen wachen nach dem Tropfen nicht mehr auf. Sie leben zwar, aber sie scheinen an einer Stelle im Traum ‚hängenzubleiben’. Zuerst bleiben nur diejenigen hängen, die illegale STs getropft haben, schließlich aber auch die, die legal tropfen. Keiner kann es sich erklären. Und dann erfährt Nesta, daß auch Tedeisha hängengeblieben ist. Nun hat Nesta ein neues Ziel, er muß Tedeisha aus dem Traum holen.
Eine ungewöhnliche Grundidee, eine ungewöhnliche Geschichte. Der neue Roman von Özdogan zeigt sich als wilde Mischung aus Dystopie, Science Fiction, Krimi, Spiritualität, Philosophie, Abenteuerroman und Liebesroman. Das Ergebnis ist allerdings von einer beeindruckenden Geschlossenheit. Sie entsteht zum einen, weil sehr bewußt und gezielt gebaut wurde, zum anderen, weil Themen zugrunde liegen, die man inzwischen als die ‚typischen’ Özdogan-Themen identifizieren kann. Es geht um Musik - hier vor allem Reggae, Nestas Name ist Programm - , ums Schreiben und um die große Sehnsuchts-Liebes-Beziehung. Vertrautes Terrain, vertraute Fragen, immer wieder behandelt, aber um keinen Deut weniger quälend geworden.
Der Roman besteht aus drei Teilen, zunächst wird man in die Welt der Traumtropfen eingeführt, man folgt Nesta in Traumbars, in Traumatheken und Diskotheken mit Traumecken (träumen statt chillen), vor allem zu den drei Hochhäusern mit ihren mehr als seltsamen Bewohnern. Die fremde Welt wirkt eigentümlich karg, leer und namenlos und doch ungemein lebensecht, lebendig, durchzogen von Musik. Im zweiten Teil macht sich Nesta auf seine Reise, die ihn in sehr eigentümliche Landschaften führt, wo er den Schlüssel für den ‚Hänger’ in den Träumen vermutet. Das ist der ‚spirituelle’ Teil. Der dritte ist ‚Krimi’ und klärt zugleich darüber auf, was es mit den Träumen, den Traumfängern und eben den Traumtropfen auf sich hat.
Erzählt wird sehr langsam, Wiederholungen von Szenen sind bewußt eingesetzt. Es gibt lange Schilderungen von Traumsequenzen. Bei der Lektüre verschwimmen zuweilen die Grenzen zwischen der Darstellung der Realität und der Träume, was auf Dauer dazu führt, daß man sich nicht mehr ganz sicher ist, ob man sich nicht selbst in einem Traum befindet, während man liest. Was ist ‚wahr’, der Vogel’traum’ einer der Traum-Stars, das wogende Publikum auf der Tanzfläche, während Sal auflegt, Elia, der nie schläft und nie träumt, Nestas Liebe zu Tedeisha? Das Glück oder das Unglück? Und dazwischen immer wieder die alten Rastas, den Joint zwischen den Lippen, die vor Babylon warnen, Untergang und Verdammnis denen, die zu sehr auf ihre Träume hören.
Alles fließt und ist doch da. Aber vielleicht ist auch das nur ein Traum?
Drogen und Kunst, Liebe und Musik, das Bild im Spiegel der Mensch oder ein Gott, das Leben ein Traum. Zugleich das Wissen, daß Menschen träumen müssen. Wer nicht träumt, wird verrückt und stirbt. Wer aber gar nicht träumt, dem kann es ebenso ergehen. Wo sind die Grenzen von Träumen? Ist das Leben die Grenze? Darf man Träume teilen? Darf man Träume verkaufen? Viele der Fragen entfalten erst nach Abschluß des Buchs ihre Wirkung.
Die Kapitel werden rückwärts gezählt, von 108 bis 1. Am Ende steht der Anfang. Das ist schlüssig, ebenso wie Nestas letzte Entscheidung, die wiederum zu diesem Buch führt.
Ein Roman ganz eigener Art, von einem Autor, der inzwischen eine ganz eigene Stimme entwickelt hat und sich nicht scheut, seinen eigenen Weg zu gehen.