Das Glück in glücksfernen Zeiten – Wilhelm Genazino

  • Hanser. 158 Seiten, gebunden Ausgabe, 2009


    Kurzbeschreibung:
    Vom Glück, langsam verrückt zu werden – die seltsame Liebesgeschichte des Gerhard Warlich
    Der Arbeitsmarkt für Philosophen kennt keine Gnade. Als Gerhard Warlich sich als Wäscheausfahrer bewirbt, hält ihn der Chef für »hoffnungslos überqualifiziert«. Doch er bekommt den Job und richtet sich ein in diesem nicht aufregenden, aber sicheren Dasein. Erst der Kinderwunsch seiner Freundin Traudel bringt Warlichs Halbtagsexistenz durcheinander. Als er auch noch den Job verliert, bleibt Traudel keine andere Wahl, als Warlich in die Psychiatrie einzuweisen. Wilhelm Genazino erzählt von diesem traurigen Helden und seiner viel weniger traurigen Freundin mit verblüffender Lakonie und unterwirft ihn und seine Verzweiflungen einer ebenso ironischen wie brillanten


    Zum Autor:
    Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, arbeitete nach dem Abitur zunächst als freier Journalist, später als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften (u. a. für Pardon). Seit 1971 ist er als freier Schriftsteller tätig. Von 1980–1986 war er Mitherausgeber von Lesezeichen. Er ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, u.a. dem Kunstpreis Berlin 2003 und dem Georg-Büchner-Preis 2004. Seit 2004 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er lebt in Frankfurt.


    Meine Meinung:
    Nach Wilhelm Genazinos Erfolgsroman Ein Regenschirm für diesen Tag schrieb er im folgenden thematisch sehr ähnliche Romane, wie „Die Liebesblödigkeit“ und „Mittelmäßiges Heimweh“, bei der er den genauen Blick seiner aus dem Leben gefallenen Protagonisten präsentiert. Eine Ausnahme war „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ bei der er sich an seine Jugend anlehnt.
    In „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ setzt Genazino sein Werk wie gewohnt fort, doch da der Protagonist Gerhard Wahrlich diesmal deutlich jünger als die Helden in den anderen Romanen ist, fühle ich mich an Genazinos frühes Werk erinnert. Der Kinderwunsch seiner Lebensgefährtin wirft Gerhard aus dem Kurs und lässt ihn in seine ungewöhnlichen Gedankengänge versinken. Ein weiterer Grund für sein Lebensverdruss und -untüchtigkeit wird nicht geboten, das ist mir etwas zu wenig um die Figur komplett zu verstehen. Ich vermisse Eigenständigkeit und Neues an dem Buch.


    Dafür wird die Beziehung Gerhards mit Traudel sehr intensiv beschrieben. Leider inklusive ziemlich unerotischer Sexszenen. Oft denkt Gerhard auch an seine Kindheit und seine Mutter zurück oder beobachtet genau die Kinder, z.B. in Restaurants. Traudels Kinderwunsch bedeutet eine bedrohliche Änderung in seinen gleichförmigen Leben, dem er sich nicht gewachsen fühlt, genauso wenig wie einer Karriere, er bevorzugt trotz hoher Ausbildung einen „bequemen“ Job als Wäscheausfahrer und kann selbst den kaum halten.


    Auch die queren Gedanken und die Wortspiele, die in anderen Genazino-Romanen ein Buch alleine tragen, sind diesmal ungewöhnlich trocken, fast humorlos. Mit dem Scheitern ist auch eine Überbetonung der Melancholie verbunden.
    Trotzdem ist auch „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ kein schlechtes Buch. Selbst ein mittelmäßiger Genazino ist noch lesenswert!
    Die Erzählstruktur, die Dialoge und der Handlungsverlauf sind perfekt angelegt und ausgeführt. Aber Genazino, der Büchnerpreisträger und einer der originellsten deutschen Autoren der letzten 10 Jahre, hat bisher einen hohen Maßstab vorgelegt, an dem er auch sich selber messen lassen muss.


    Doch wer einen betont lakonischen Ton sucht, ist hier nicht verkehrt


    ASIN/ISBN: 3423139501

  • Hm, schade, dass der 'neue Genazino' bei dir so schlecht abschneidet... am nächsten Mittwoch liest Genazino hier in Osnabrück und ich bin jetzt, nach einer eher kritischen Rezi, natürlich umso gespannter... werde dann berichten!!

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

  • So, nachdem ich das Buch nun gelesen und gestern der Lesung beigewohnt habe, möchte ich mich auch nochmal äußern.


    Ich kann mich deiner Meinung, dass dies ein eher mittelmäßiger Genazino sei, nicht anschließen. Bei Genazino hat man ja insgesamt das Gefühl, dass er sich an 'seinen' Themen (Entfremdung, Distanzierung, Unbehagen, Unfähigkeit, Scham) immer weiter abarbeitet, quasi als wären alle Romane ein einziger großer Text. Auch der neue Roman reiht sich da sehr gut ein und - und hier liegt für mich das entscheidende Moment - fügt ein Stückchen hinzu. Gerhard Wahrlich ist der erste Protagonist Genazinos, der seinen inneren Entfremdungsmonolog stückchenweise nach außen trägt - mit den dir bekannten Folgen. Er grenzt sich damit nicht mehr nur innerlich ab (und in dieser Abgrenzung gefällt er sich, trotz aller Probleme, die sie bereitet, im Grunde ja), sondern auch äußerlich und wird deshalb auch seinerseits wieder ausgegrenzt. Interessant in diesem Zusammenhang auch seine Wahrnehmung der Ausgegrenzten (Penner, Behinderte, Verrückte)....


    Ich fand alles in allem ein gelungener weiterer Schritt auf Genazinos Weg... bin gespannt, wo das noch hinführt.

    Unser Unglück erreicht erst dann seinen Tiefpunkt, wenn die in greifbare Nähe gerückte praktische Möglichkeit des Glücks erblickt worden ist. (Michel Houellebecq, Elementarteilchen)

  • Ich habe das Buch gestern gelesen - für mich das erste Buch von Genazino.
    Mir hat es gut gefallen, jedenfalls so, dass ich noch andere Bücher von ihm lesen möchte.
    Der lakonische Schreibstil hat mir zugesagt.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf