Karl Philipp Moritz: Anton Reiser

  • Der Anton Reiser gilt als der erste "psychologische" Roman. Das Buch ist sehr autobiographisch und deshalb so etwas wie eine Selbstanalyse des Autors. Als solche ist sie äußerst beachtlich, bis heute hochaktuell und äußerst lesenswert. Auch den modernen Leser macht das Schicksal Anton Reisers unmittelbar betroffen. Die Psyche des Protagonisten, seine innere Zerrissenheit wird so differenziert und eindringlich geschildert, dass wir darin viele Muster entdecken können, die auch heute noch in der Entwicklungspsychologie wichtig sind.


    Es geht um einen jungen Menschen, Anton Reiser, der ohne Liebe und ohne Wertschätzung aufwachsen muss. Seine Eltern sind Quietisten, eine heutzutage unbedeutende Frömmigkeitsrichtung aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Sie ist am ehesten noch mit dem Pietismus vergleichbar. Im Quietismus sind Selbstkritik und Selbstverzicht die höchsten Werte. Dem Kind wird dieser radikale Glaube aufgezwängt, es wird ihm durch ständige Wiederholung die Doktrin eingepflanzt, dass das eigene Selbst keinen Wert hat.


    Dennoch lässt Anton schon früh große Begabungen erkennen. Er interessiert sich für Philosophie und Literatur, lernt schnell und gut die alten Sprachen, dichtet, und hätte offenbar eine vielversprechende Zukunft vor sich, wenn er gefördert werden würde. Erst durch die offensichtlichen Begabungen Antons wird sein Schicksal tragisch. Der Roman protokolliert nun genau, wie der Mangel an Eigenliebe verhindert, dass Anton seiner Bestimmung folgen und zu sich selbst finden kann. Es wird zwar zugelassen, dass er studiert, allerdings nur, weil sein Talent von Lehrern erkannt wird. Von seinen Eltern erfährt er keine Unterstützung, auch keine finanzielle. Das ist zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Normal ist vielmehr, dass Studenten bettelarm sind und als Kostgänger darauf angewiesen sind, dass sie bei mehr oder minder menschenfreundlichen Gönnern endgeltlos essen oder schlafen dürfen.


    Zunächst scheint es, als sei Anton ein Opfer der Zeitumstände, der Roman eine soziale Anklageschrift à la Oliver Twist. Dann wird klar, dass Anton nicht nur gegen die sozialen Probleme seiner Zeit zu kämpfen hat, sondern auch gegen sich selbst. Zu groß ist die Sehnsucht nach Anerkennung, die ihm in der Kindheit verwehrt worden ist. Sie sorgt dafür, dass er immer wieder vom Weg abkommt. Wenn er Zuspruch erfährt, wenn er Gönner hat, macht ihn das euphorisch, aber mit Ablehnung kann er nicht umgehen.


    Es gelingt ihm nicht, sein Studium "durchzuziehen", wie man heute sagen würde. Die unstillbare Sucht nach Anerkennung kondensiert sich in dem Wunsch, Schauspieler zu werden. Zum Schauspieler ist er nicht geboren, es fehlen ihm sowohl das Äußere als auch das Talent. Dennoch glaubt er von einem bestimmten Punkt an, nur als Schauspieler glücklich sein zu können. Er bricht sein Studium ab, begibt sich mehrmals ohne ausreichend Geld auf planlose Wanderschaften, die ihn physisch und psychisch schwer belasten. Er reist einer Schauspielertruppe nach, um sich ihr anzuschließen, nimmt dafür vielen Entbehrungen in Kauf, nur um am Ende erfahren zu müssen, dass sich die Truppe aufgelöst hat. Das aber ist fast ein Glück, denn in einer mittelmäßigen Theatertruppe wäre es um sein Talent endgültig geschehen gewesen.


    Der Roman bleibt unvollendet und wirkt doch rund, denn am Ende ist klar, was Reiser tun müsste und warum er es nicht kann. Der Wunsch, Schauspieler zu werden ist Ausdruck einer falschen Identität, die sich in ihm herangebildet hat in den Jahren emotionaler Vernachlässigung. Mit der Schauspielerei hält er an dem einen Wunsch fest, der ihm in seiner Jugend hatte ausgetrieben werden sollen, dem Wunsch, als ein Mensch mit eigenen Gefühlen wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Tragisch ist diese Lebensgeschichte dadurch, dass sich aus einer berechtigten Sehnsucht heraus ein Irrtum entwickelt, ein falsches Bild von sich selbst und der Realität. All seine Klugheit und seine Fähigkeit zur Selbstanalyse versetzen ihn nicht in die Lage, seinen Irrtum zu durchschauen.


    Die Existenz dieses Romans beweist, dass der Autor Karl Philipp Moritz im Gegensatz zu seiner Romanfigur irgendwann verstanden hat. Erst dadurch war er in der Lage, diesen Roman zu schreiben, den ersten, der die Bedeutung der menschlichen Psyche bei der Sozialisierung des Individuums thematisiert.