Schreibwettbewerb Februar 2009 - Thema: "Familienbande"

  • Thema Februar 2009:


    "Familienbande"


    Vom 01. bis 20. Februar 2009 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Februar 2009 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von LeseRatteKevin



    Hallo, ich bin Tommi. Ich bin sechs Jahre alt und gehe in den Kindergarten um die Ecke. Dort habe ich viele Freunde, mit denen ich mich täglich treffe. Wir spielen dann immer Piratenschiff oder Pferdchen zusammen. Pferdchen spielen finde ich total doof, da die Mädchen mich immer als Pferd benutzen. Meine Mama heißt Susi aber ich nenne die immer Mama oder Mami. Sie bringt mich immer zum Kindergarten. Ich habe sie auch mal dabei beobachtet, wie sie in den Garten gegangen ist, einen weiß-gelben Stift aus einer Schachtel genommen hat. Sie nahm ihn zwischen ihre Finger, lutschte den Stift an und verbrennte ihn. Ich weiß zwar nicht, was das sollte, aber ich spiele dieses Spiel jetzt auch immer. Ich nehme einen Stift und lutsche dran.
    Mein Papi ist immer sehr gemein zu meiner Mami. Er trinkt den ganzen Tag etwas was nicht lecker riecht. Deswegen will ich es auch gar nicht trinken. Durch dieses Getränk wird er immer ganz komisch. Er redet dann immer so undeutlich und wird immer böse mit mir. Dabei tu ich doch gar nichts. Er hat meine Mami sogar mal geschlagen, dabei war es er, der mir beigebracht hat, dass man so etwas nicht tut. Meine Mami ist dann sofort weggerannt und hat geweint. Das kann ich verstehen, das tut ja schließlich weh. Mein Papi und meine Mami schreien sich oft an. Es ist einfach nicht toll, dass sie so etwas tun.
    Meine Schwester Lisa ist schon viel älter als wie ich. Sie ist 16. Die geht schon zur Schule, bekommt deswegen aber immer Ärger mit meiner Mami. Sie bringt immer Zahlen nach Hause. Meistens eine Vier, Fünf oder Sechs. Aber es ist doch umso besser umso höher die Zahl ist. Oder etwa nicht? Ich verstehe die Welt der Erwachsenen nicht. Meine Schwester hat auch einen Freund. Er heißt Uwe. Er hat ganz viele Haare im Gesicht. Das finde ich voll ekelig. Ich hoffe so was bekomme ich nicht. Igitt. Meine Schwester und Uwe schreien mich immer an, wenn ich an ihrer Tür klopfe. Dabei ist das doch nicht verboten. Ich fühle mich dann immer schlecht. Aber als sie mal vergessen hatten, die Tür zu schließen, habe ich gesehen, wie Beide auf dem Bett lagen und sich geküsst haben. Igitt hat das geschlabbert. Ich weiß gar nicht ob das wirklich ein Kuss war. Die haben sich eher die Münder abgeleckt. Vielleicht haben sie sich auch gegenseitig gesäubert. Ich weiß es nicht.
    Mein Goldfisch Tobi ist wirklich süß. Er schwimmt immer durch sein Glas und freut sich wenn er mich sieht. Einmal hat er mir sogar ein Kunststück gezeigt. Er ist, wie ich es manchmal im Planschbecken mache, mit dem Bauch nach oben auf dem Wasser geschwommen. Das fand ich wirklich toll. Am nächsten Tag war er wieder ganz normal und ist wieder fröhlich geschwommen.
    Meine Familie ist schon komisch. Ich glaube ich bin der einzige normale. Aber naja da kann man nichts machen.
    Ich sage einfach immer: „So ist sie, meine Familienbande!“

  • von Luc



    Nach zehn Jahren kehrt Sarah zurück. Sie hat am Amazonas mit den Eingeborenen gelebt, sich in der Wüste in einen Beduinen verliebt, Indien spirituell erkundet und in Australien eine Krokodilfarm betrieben. Zwischendurch wurde sie Schriftstellerin. Die Ärzte geben unserem Vater noch eine halbes Jahr. Er, der berühmte Filmstar, wünscht sich, seine Tochter ein letztes Mal zu sehen, bevor der Krebs siegt. Wozu? Er hat mich, er hat Mutter. Widerwillig habe ich den Kontakt zu meiner Schwester hergestellt und Sarah eingeladen. Ich erinnere mich noch gut an ihre rebellische Art, die Dauerkonflikte mit Vater. Ich verachte meine Schwester für ihre Ziellosigkeit. Während sie in den Wüsten und Regenwäldern ihre Zeit verplemperte, habe ich Verantwortung übernommen und bin Vaters Manager geworden. Sie dagegen hat ihn durch ihre autobiografischen Romane verunglimpft und verletzt.


    Ich betrete sein Zimmer. Gesprächsbereit hockt er in einem Ledersessel. Sein Zustand hat sich etwas stabilisiert.
    „Ist sie da?“, fragt er ungeduldig.
    „Das habe ich dir doch versprochen“, antworte ich, verärgert über die Aufgeregtheit in seiner Stimme.
    „Lass sie rein und verschwinde“, befiehlt er. Ich befolge jede seiner Aufforderungen. Er hat mit Brad Pitt und Al Pacino gearbeitet. Widerspruch ihm gegenüber wäre töricht. Ich öffne die Tür. Sarah marschiert auf Vater zu und hält knapp vor ihm an.
    „Arschloch“, schimpft sie ihn respektlos. Vor zehn Jahren hat er sie aus dem Haus gejagt, weil sie achtzehnjährig mit dem Nachbarn rummachte und anschließend nackt und bekifft Vaters Gartenfest sprengte. Schauspielerkollegen und Journalisten schauten konsterniert, als sie sich in den Swimmingpool übergab. Vater ist nicht streng, aber eitel und nachtragend. Zu viel war zu viel. Seitdem hat er den Kontakt gemieden. Ich bin fassungslos über ihr burschikoses Auftreten. Auf Vaters Gesicht erscheint dagegen ein breites Grinsen. Versöhnungsselig breitet er die Arme aus, seine Augen glänzen, als bekäme er einen Oscar überreicht. Sarah fällt ihm weinend um den Hals.
    „Jetzt geh schon“, ruft er mir zu. Verunsichert verlasse ich den Raum.


    Was wird aus mir, wenn mein Fixstern stirbt? Auf jeden Fall will ich im Showbiz bleiben. Ich schnupfe eine Linie Kokain, dann halte ich aus Neugier mein Ohr an die Tür.
    „Ist es schlimm, Vater?“, fragt sie ängstlich.
    „Blödsinn, die Ärzte übertreiben, ein Jahr schaffe ich noch mit Leichtigkeit“, spielt er die Tatsachen herunter und lacht bitter.
    „Sarah, ich habe deinen Lebensweg verfolgt und bewundere dich und deine Bücher. Du hast Schneid, in deinem Bruder steckt nicht halb soviel Ehrlichkeit und Kreativität. Du bist mein ganzer Stolz“, meint Vater, seine Worte treffen mich wie Messerstiche. Dieser undankbare Mistkerl! Immerhin hat er ihr nichts über meine Drogensucht, die Entziehungskuren und meine Schulden erzählt. Und zum Glück unterlässt Sarah es zu erklären, wer ihr damals das Cannabis verkauft hat.
    „Lass das jetzt, Vater“, entgegnet Sarah.
    „Aber nicht doch. Steven Spielberg interessiert sich für die Verfilmung deines Beduinenromans. Er hat mich gebeten, mit dir zu reden“, sagt er. Ich horche auf. Welch eine einmalige Chance! Wenn ich Sarah als Manager in Hollywood vertrete… Das kann sie nicht ablehnen. Schließlich sind wir eine Familie.

  • von Tom



    Das gerötete, verschwitzte Gesicht der Hebamme tauchte zwischen ihren Beinen auf. "Gleich ist es soweit!"


    Ja, gleich. Verdammt. Aber noch nicht sofort. Sie hatte das Gefühl, einen Felsbrocken im Bauch zu haben, ein versehentlich verschlucktes, riesengroßes Stück Gestein, dass auf keinen Fall durch die viel zu kleine Öffnungen passen würde, die für derlei zur Verfügung stand. Die Schmerzen waren enorm, und wenn sie Druck ausübte, also dem Kommando "Pressen!" folgte, wurden sie noch größer, unglaublicherweise. Sie fühlte sich ausgelaugt, leer, fahrig, war kaum noch dazu in der Lage, Kraft aufzubringen und sie auf den eigenen Unterleib zu konzentrieren. Sie spürte, wie ihr der Schweiß überall am Körper herunterrann, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es vorbei wäre. Egal, auf welche Weise.


    "Noch einmal!"


    Sie stöhnte, bemerkte, dass ihre Beine zitterten, außerdem hatte sie plötzlich unglaublichen Durst. Sie kniff die Augen zusammen, nahm am Rande wahr, dass ihr eine mächtige Blähung entwich, zog die Schultern hoch, verkrampfte sich.


    "Entspannen! Und pressen!" Das Gesicht der Hebamme war noch etwas dunkler, verschwand aber gleich wieder.


    Leicht gesagt. Und irgendwie widersprüchlich. Sie stieß Luft aus und bemerkte den Gegendruck. Dann spannte sie den Oberköper an, und gab, was sie noch hatte.


    "Der Kopf! Ich sehe den Kopf!"


    Ja. Etwas wurde leichter, gleichzeitig wurden die Schmerzen stärker. Ihre Beine zitterten jetzt stark, vielleicht verursachten sogar sie das Klappergeräusch, das sie wie durch Watte hörte. Sie atmete tief ein und übte weiter Druck auf den Unterleib aus.


    "Ich habe es! Nur noch ein ganz kleines bisschen!"


    Sie nickte, und auch das schmerzte. Großer Gott, diese Tortur. Sie wünschte sich, ein Mann zu sein, und kein weibliches Wesen, das im Moment der Nachfolgererzeugung zu einem schwitzenden, stinkenden, schmerzenden Stück Leib wurde, gefoltert durch die Frucht dieses Leibes.


    "Es ist da! Es ist da!"


    Die Hebamme erhob sich, und in ihren Händen hielt sie etwas, das wie blutiger, verschmierter Fleischabfall aussah. Dann kam ein Geräusch, ein Krächzen, gefolgt von einem Husten. Das Kind schrie. Sie war auch in Versuchung, loszuschreien, aber in diesem Moment setzte Entspannung ein. Sie seufzte und ließ sich nach hinten fallen. Wie überaus angenehm.


    "Ein Mädchen. Ein wunderhübsches Mädchen. Wie wird es genannt werden?"


    Sie atmete tief ein und wieder aus. "Das ist doch keine Frage", gab sie leise zur Antwort. Dann, etwas lauter, und unter Zuhilfenahme der Finger, die sie zum Abzählen benutzte: "Natürlich die Tochter der Stiefschwester der Nichte der Urenkelin der Wanderhure."

  • von B.Linzel



    Nur Janna fehlte noch. Seit zwei Tagen war sie überfällig; sie hätte längst hier sein müssen. Doch Jarvis wusste, dass seine Schwester die Scharmützel der vergangenen Tage wohlbehalten überstanden hatte. So, wie jeder von ihnen wusste, wie es um die anderen bestellt war. Nie würde er vergessen, dass der Tod ihres jüngsten Bruders sie alle bis ins Mark getroffen hatte.Wo auch immer sie sich dieses unerhörten Verlustes bewusst geworden waren. Gott, wie er den Jungen und seine große Klappe vermisste.Vor allem Janna, außer sich vor Kummer, hatte damals alles gegeben, den Verräter zur Strecke zu bringen – und nicht wenige Legenden der jüngeren Zeit gingen auf ihren privaten Feldzug zurück.


    Sein Commander marschierte noch immer auf und ab, auf und ab, ruheloser denn je. Dass er nicht riskieren konnte, Kontakt zu Jannas Truppe aufzunehmen, ja, nicht einmal Kundschafter entsenden durfte, machte den Mann rasend: In wenigen Minuten würden sie aufbrechen, der alles entscheidenden Schlacht entgegen, und ohne Janna würde es schwer werden, sehr schwer. „Sie kommt", erbarmte sich Jarvis und bedeutete dem Offizier, endlich still zu stehen. Und wirklich, da war sie, schlank und elegant. Scheinbar schwerelos, wie im Tanz, glitt sie näher. Wunderschön. Tödlich. Die Sonne in ihrem Rücken badete sie in Lichterglanz und Sterngefunkel. Klasse Auftritt.


    Er sah, wie seine Mannschaft sie begaffte, und wusste wie immer nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Sie nahm wortlos den Platz an seiner Seite ein. Seine Schwester. Kaum vorstellbar, dass ihr noch vor fünfzehn Generationen keinerlei Bürgerrechte zugestanden hätten, und sie noch vor 50 Jahren niemals in einer solchen Mission eingesetzt worden wäre. Ihre Vorstellungskraft, ihre Neugier, ihre Unberechenbarkeit, ihre nur schlecht verhohlene Nervosität vor diesem so wichtigen Einsatz, ihr Todesmut, vor allem aber die unbedingte, uneingeschränkte Loyalität ihrer Familie gegenüber, hätte man ihr als Schwäche ausgelegt. Die Erkenntnis, dass eben diese Menschlichkeit ihre, ihrer alle große Stärke war, hatte sich erst vor kurzem durchgesetzt. Wie sehr er sie liebte.


    Jarvis musterte seine Schwester eingehend; von einem seiner Cousins wusste er, dass sie beim Versuch, einige hundert in einen Hinterhalt geratene Zivilisten zu retten, üble Beulen und Schrammen davongetragen hatte. Keine Spur davon zu sehen. „Weiber" knurrte der Commander, der offenbar dasselbe bemerkt hatte: „Als gäbe es jetzt nichts wichtigeres zu tun, als sich um ein paar Schönheitsfehler zu kümmern". Jarvis beschloss, dem Mann diese Respektlosigkeit durchgehen zu lassen. Viel zu viele würden heute Abend nicht mehr unter ihnen sein. Er gestattete sich ein Grummeln, das der Commander als Grinsen auslegen durfte.


    Und dann zogen sie los: Die besten Raumkreuzer, die es in diesem Teil der Galaxis je gegeben hatte, 722 Kriegsschiffe auf dem Weg in den Subraum, einander verbunden durch die stärksten aller Bande.

  • von Leserättin



    „Sag mir, mein Junge, warum möchtest du Elisabeth heiraten?“
    „Weil ich sie liebe!“, antwortete Alexander voller Überzeugung.
    Der alte Mann nickte. „Das ist eine gute Voraussetzung. Doch bist du auch gewillt, unserer Familie treu ergeben zu sein?“
    „Gewiss, Schwiegerpapa.“ Er sprach das letzte Wort vorsichtig aus und beobachtete die Reaktion auf dem faltigen Gesicht.
    Doch die Miene des Brautvaters blieb unverändert freundlich. „So sei es dann. Aber bedenke, ich erwarte absolute Loyalität.“
    „Natürlich, Schwiegerpapa.“
    „Du darfst mich fortan Vater nennen.“
    „Danke, Vater.“ Verstohlen wischte Alexander seine Handflächen an der Jeans ab.


    Die Hochzeit wurde mit großem Prunk gefeiert. Über zweihundert Personen standen Spalier und jubelten dem Brautpaar zu. Alexander führte seine schöne Frau stolz durch die Menge, und später tanzte er mit ihr den Eröffnungswalzer.
    Bereits am nächsten Tag erwartete ihn seine erste Aufgabe als Familienmitglied: Sein Schwiegervater händigte ihm eine Pistole aus und ging mit ihm in den Keller, schießen üben.
    Über zwei Stunden durchlöcherte Alexander eine Pappscheibe nach der anderen. Trotz Ohrenschützer dröhnte bald sein Kopf und seine Arme begannen zu schmerzen. Doch er ließ sich keine Schwäche anmerken.
    „Morgen wirst du Paul exekutieren.“
    Alexander zuckte zusammen. Prompt verfehlte die Kugel die Scheibe und schlug in der Wand daneben ein. Er sah seinen Schwiegervater an.
    Der lächelte. „Du hast gehört, was ich sagte. Und hast du nicht versprochen, unserer Familie treu ergeben zu sein?“
    „Aber gleich ein Mord?“
    „Mord!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wer redet denn davon? Das ist Gerechtigkeit. Pauls Vater erschoss vergangenes Jahr meinen einzigen Sohn. Nun werde ich ihm den seinen nehmen.“ Die kalten graublauen Augen blickten Alexander direkt an.
    „Ich tue es“, brachte er hervor.


    Die Kugel peitschte durch die Luft. Ein Aufschrei ertönte, als sie ihr Ziel – Pauls Brust – traf und der hochgewachsene Mann wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte.
    Polizeisirenen ertönten.
    Alexander warf die Pistole von sich und ging dem Streifenwagen mit erhobenen Händen entgegen.


    Endlich war alles im Kasten! Alexander massierte seine Handgelenke, die noch Spuren der Verhaftung zeigten. Seine Kollegen waren ein bisschen zu ruppig vorgegangen.
    Was war er froh, dass sein nächster Drehort der Strand von Mallorca war. Alexander würde einen Liebhaber einer reiferen Dame spielen, die ihre gesamte Familie verloren hatte. Was für schöne Aussichten, dachte er. Dieser Film mit den verfeindeten Familien hatte wirklich an seinen Nerven gezerrt. Ganz war er immer noch nicht drüber hinweg. Besonders nicht, wenn er daran dachte, dass er nächsten Monat ganz ohne Kameras vor den Traualtar treten würde. Bisher hatte ihm seine Braut noch nicht gesagt, ob es eine Familie gab, mit der ihre im Streit lag ...

  • von Ushuaia



    „Ist sie tot?“


    „Mh“, der alte Zhang blickte nicht auf. Dumme Frage. Natürlich war sie tot. Am Morgen war auch die letzte Kuh klapperdürr umgefallen. Einfach so. Nur mehr ein Gerippe.


    Keine lebende Kuh lag ansonsten so herum.


    Seit Stunden war er nun hier gehockt, neben dem toten Vieh und hatte eine Lösung gesucht. Es gab keine mehr.


    „Was habt ihr sie auch noch so lange herumstehen lassen? Das Vieh hat auch noch die letzten Gräser abgefressen, völlig nutzlos“, meckerte Lao Gao.


    „Ja, ja, du weißt alles besser.“


    Der alte Zhang seufzte. Aus den Knochen würden seine Schwiegertochter wenigstens noch ein paar Töpfe Suppe für die ganze Familie herausholen. Es war die letzte Kuh des Dorfes gewesen. Ein paar Schweine gab es noch. Ein paar Hühner und Gänse auch. Aber nicht viele. Und die wenigen, die es noch gab, würden es nicht mehr lange machen. Wenn nur die Dürre endlich enden würde. Wenn es nur endlich wieder einmal regnen würde.


    Lao Gao hatte anscheinend den ganzen Tag Zeit heute. Er schmauchte weiterhin an seiner höllisch stinkenden Zigarette und bewegte sich nicht von der Stelle.


    „Xiao Gao fährt heute Mittag ins Tal“, sagte er schließlich in die Stille hinein.


    Zhang blickte auf. Xiao Gao war Lao Gaos jüngster Sohn. Wie kam es, dass er für sein klappriges altes Auto noch Benzin hatte? Aber die Familie Gao hatte immer gewusst, wie man sich Vorteile verschaffte.


    Im selben Moment hüpfte Meiling die schiefen Stufen herunter.


    Zwei alte Augenpaare richteten sich auf das Kind. Zhangs jüngste Enkelin. Seine einzige Enkelin, neben den drei Enkeln. Mager, ihre Augen groß vor Hunger, das kurze Haar struppig. Seit Wochen hatten sie kaum noch Reis. Und die diesjährige Ernte würde ganz ausfallen. Die Frauen waren schon jeden Tag unterwegs und sammelten Essbares.


    „Xiao Gao wird Suyin mitnehmen.“


    Zhang wendete sich bedächtig zu Lao Gao um. Die Augen des alten Mannes waren auf die verdorrten Felder gerichtet, auf die die Sonne seit Monaten erbarmungslos herunterbrannte. Suyin war Lao Gaos Enkelin. Sein Augenstern.


    Der alte Zhang schluckte. Jetzt war es also soweit. Seit der Wirtschaftskrise war alles aus. Sein zweiter Sohn, der als Wanderarbeiter unterwegs war, schickte seit Monaten kein Geld mehr heim. Er wusste, dass es bei Lao Gao nicht viel anders war. Zwei seiner Söhne waren als Wanderarbeiter nach Shanghai gezogen. Auch er hatte seit Monaten nichts mehr von ihnen gehört und kein Geld mehr bekommen, er wusste nicht einmal wo sie waren.


    „Xiao Gao fährt los, wenn die Frauen unterwegs sind. Er wird unten auf Meiling warten.“


    Abrupt wandte Lao Gao sich um und schlurfte davon.


    Zhang starrte wieder auf die tote Kuh.


    Wie lange würden sie von dem Geld leben können, das sie für die beiden Mädchen bekamen?

  • von AsterLundgren



    Es war ein strahlend schöner Morgen, als sich die Hochzeitsgesellschaft vor der Kirche versammelte und auf die Braut wartete.
    „Ein wirklich wunderbarer Tag, nicht wahr?“, sagte die Brautmutter zum Bräutigam, als sie langsam auf ihn zuging.
    Vincenzo ließ die Zigarette, an der er gerade noch gezogen hatte, unwillkürlich auf den Boden fallen und warf seiner künftigen Schwiegermutter ein schmallippiges Lächeln zu.
    „Ja, wirklich, sehr schön …“ Er sah ihn den Himmel herauf, der von bleichen Kondensstreifen in Stücke geteilt wurde.
    Erika konnte ihm ansehen, wie er nach Worten, doch er blieb still.
    „Du liebst doch meine Tochter?“ Sie ließ Vincenzo keine Zeit zu antworten. „Denn ich liebe sie auch, und wenn du Maria weh tust, fügst du auch gleichzeitig mir Schmerzen zu.“
    Vincenzo zertrat die glühende Zigarette unter seinen Füßen zu Staub.
    „Du wirst dich doch immer um sie kümmern, oder nicht? Du wirst sie jeden Tag auf Händen tragen, so wie es ein guter Mann tut. Du wirst Maria lieben, wie man eine Göttin nur lieben kann.“
    „Göttin, ja, jaah …“ Seine schrille Stimme vermischte sich mit dem plötzlich einsetzenden Glockengeläut.
    „Du hast vorhin das Mädchen angesehen, das hübsche. Dort hinten.“ Ihre Worte waren scharf wie Messerspitzen. „Findest du sie attraktiv?“
    „Sie ist sicherlich nicht älter als zwölf!“, empörte sich Vincenzo.
    „In fünf Jahren ist sie eine Frau.“ Erika schob sich näher an Vincenzo heran und roch seinen Zigarettenatem. „Wenn du Maria verletzt, verletzte ich dich, hast du mich verstanden? Ihr wurde schon oft genug das Herz gebrochen.“ Erika schnaubte wie ein verletztes Pferd. „Deswegen hör gut zu: wenn du ein guter Mann bist, werde ich eine gute Schwiegermutter sein. Wenn du aber einen Fehler machst, einen klitzekleinen nur, wirst du ihn bald darauf bereuen.“ Sie fasste Vincenzo an den bebenden Armen. „Willst du Maria ein guter Mann sein?“
    Vincenzo sah sie lange an. „Ja“, sagte er „ich will.“
    Als die Braut wenige Minuten später anmutig an den Altar schritt, sahen viele Augen zu ihr auf. So viele Menschen waren hier; die Großeltern und die Geschwister, die Nachbarn und die Geschäftskollegen. Nur vom Bräutigam fehlte jede Spur.



    Erika musste ihre Tochter lange trösten. Sie lag in ihrem Bett, in dem sie in ihrer Kindheit so gut und lang geschlafen hatte.
    „Auf niemanden kann man sich verlassen. Martin, Felix, Semir und jetzt Vincenzo.“ Erika strich ihrer Tochter über das feuchte Gesicht. „Bleib die nächsten Monate bei uns und erhole dich.“
    Als Erika ins Erdgeschoss lief, sah sie schon von weitem ihren Mann und seine geknebelte Beute.
    „Ich habe ihn am Flughafen gefunden. Er wollte nachhause.“
    „Natürlich wollte er das.“ Sie liefen zusammen zu dem Schuppen im Garten und kletterten durch eine Luke in den Keller herab.
    „Darf ich vorstellen“, flüsterte Erika, als die Laterne die drei unrasierten Männer erhellte. „Martin, Felix, Semir. Sie freuen sich über jedes neue Gesicht.“ Sie warf Vincenzo zu den anderen in die Zelle und eilte ins Haus zurück, um Maria einen Tee aufzusetzen.

  • von Bücherelfin



    Meine Suche hatte niemals ein Ziel, war ewiges Stochern im Nebel, im Nichts, und Leerlauf in einem.
    Erkannt habe ich das erst jetzt, nachdem ich überall gewesen bin, im neuen wie im alten, in unwegsamem, unzugänglichem und zerstörtem Land, um Dich zu suchen, Dich zu finden, Dich [und Dich und Dich und Dich und Dich und...], erkannt, es gibt Dich nicht [Dich nicht Dich nicht Dich nicht niemals Dich...], ein hohles Echo verklingt
    in meinem Herzen.


    Wohin ich auch ging, welche Richtung ich auch einschlug, ich befand mich stets in längst verlorenem Land, am Ende jeden neuen Weges nichts als ein metallenes Schild, auf dem geschrieben stand "Zutritt verboten, Tochter, in diesem Land".
    Ausgesperrt aus Dir, seit ich denken kann, und eingesperrt in mir.
    Ach Mama, ich habe so gekämpft, mein Leben lang, für Dich, um Dich [um Dich um Dich um Dich um...], aber meine Liebe hat nicht ausgereicht,
    um Dich in Dir erreichen zu können.
    Ein hinterhältiger Lügner derjenige, der einst gesagt hat, "Liebe überwindet alle Hürden", denn LIEBE für Dich habe ich wahrlich genug empfunden... Hürden bei
    diesem Hindernislauf jedoch nie überwunden, mir nur daran Arme, Beine,
    Genick und Glück gebrochen.


    Jetzt packt meine Liebe ihre Hoffnung an der Hand und geschlagen gehen sie
    gemeinsam in ein hoffentlich besseres Land.
    Das Gefühl der Niederlage ist schmerzhafter als die Suche in Dornen es je war, in Niederlage steckt NIE und NIE DER LAGE gewachsen gewesen sein.
    Ich war immer viel zu klein, Dir niemals genug [niemals genug niemals genug niemals genug niemals genug nie...]
    Warum nur?
    Ich habe doch alles gegeben, mich aufgegeben und vor Ohnmacht übergeben,
    um nur ZU DIR zu finden...


    Meine Liebe und meine enttäuschte Hoffnung freuen sich nicht an dieser neugewonnenen Freiheit, denn sie schmeckt nach Blech und Eisen und Blut.
    Einen fahlen Geschmack, hinterlassen von der Erkenntnis, dass Du, Mama, niemals mehr warst als die Summe von zwei M und zwei A, vier Buchstaben
    wahllos nebeneinander hingewürfelt...
    Es weint und weint und weint in mir und bin ich auch noch so stark,
    DER Schlag war hart.
    Das Hoffen aufgegeben, ins Niemandsland verschlagen, plötzlich ohne Suche,
    ohne Sinn.
    Es ist ein schweres Gewicht dieses
    "Es gibt DICH nicht"...

  • von Columbo



    „Wie die schon aussehen,“ brummte die alte Dame und wippte mit dem Kopf in Richtung des Farbigen, der seit ein paar Minuten mit einem kleinen Notizbuch in der Hand eine der Uhren-Vitrinen studierte. „Neger!“ Raimund Lafrent sagte nichts; einer solch harmlosen kleinen Lady konnte man sowas schon mal durchgehen lassen. Außerdem schien mit dem Kerl tatsächlich etwas nicht zu stimmen. Wozu brauchte der in einem Juweliergeschäft ein Notizbuch?
    „Zeigen Sie mir doch bitte diese schwarzen Ohrringe! Onyx, nicht wahr?“ Der Juwelier nickte: „Gefasst mit kleinen Brillanten. Wirklich zauberhaft – und trotzdem nicht zu auffällig.“ Lafrent schloss den Schaukasten auf, nahm die Schublade heraus und musterte die Kundin. Ein schickes, aber schlichtes Hütchen, beige Lederhandschuhe, ein cremefarbener Mantel, braune Schuhe mit flachen Absätzen: Volltreffer. Diese auf den ersten Blick so unscheinbaren älteren Damen hatten ein dickes Portemonnaie; nach über 25 Jahren in der Schmuckbranche hatte Lafrent eine Nase für so etwas. „Und die da drüben schauen sich hoffentlich Verlobungsringe an,“ flüsterte die Dame ihm zu und wippte mit dem Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Dort küsste sich ein junges Pärchen, als gelte es ein Casting für die Neuverfilmung von „Neuneinhalb Wochen“ zu gewinnen. „Das hätte es bei uns damals nicht gegeben.“ Lafrent schmunzelte, ließ jedoch den seltsamen Notizbuch-Schreiber keine Sekunde aus den Augen. „Ich darf Sie kurz alleine lassen?“ Der Juwelier zupfte seine Anzugsweste zurecht und ging mit festem Schritt zum Uhrenrregal. „Kann ich Ihnen helfen?“ Der Mann reagierte nicht. „Entschuldigen Sie, mein Herr, darf ich Sie fragen, was Sie notieren?“ „Was geht das Sie an?“ Lafrent atmete durch und blieb höflich: „Naja, wissen Sie, wir haben ja nicht gerade billige Stücke im Sortiment und ...“ Das Pärchen hatte seinen innigen Körperkontakt unterbrochen und wandte sich der Szene zu. Der junge Liebhaber baute sich drohend vor dem Schmuckhändler auf: „Und was? Nur weil der Typ schwarz ist, wird er blöd angemacht oder wie?“ Oh, Gott, jetzt bloß keine Diskussion über Vorurteile und Rassismus. „Nein, natürlich nicht....“ Lafrent war zwischen Notizbuchschreiber und Pärchen eingeklemmt, „ich wollte ja nur darauf hinweisen ...“


    Als die Kripo eintraf, konnte sich der Juwelier an den genauen Wortwechsel nicht mehr erinnern. Vielleicht vier, fünf Minuten hatte ihn das Trio am Uhrenregal mit der Diskussion aufgehalten. Die ältere Dame habe inzwischen brav gewartet und später schließlich ein billiges Paar Ohrringe gekauft. Schlichtes Silber. Dass in den Schmuckschubern der Vitrine sieben teure Stücke fehlten, entdeckte er erst eine halbe Stunde später - so aufgeregt sei er von dem hektischen Disput noch gewesen. „Kennen wir“, stöhnte der Kripobeamte bei der Personenbeschreibung, „mal wieder Queen Mum!“ So heiße die Sonderkommission unter Kollegen. Bislang wisse man lediglich, dass die ältere Dame zusammen mit dem Schwiegersohn und den beiden Enkelkindern auf Beutezug gehe. Ab und zu sei auch die Tochter mit dabei. „Familienbande“, raunte Lafrent leise und schaute zu, wie einer der Spurensicherer mit einem feinen Pinsel das Glas nach Fingerabdrücken absuchte.

  • von Persephone



    Ich verstehe das Problem nicht, es war doch alles super gelaufen. Keine Unterbrechungen, keine Schwierigkeiten, alles so wie geplant. Trotzdem ist er total sauer. Was hat er denn getan, dass es so abwärts ging mit ihm? Was ist nur mit ihm passiert?


    Ich versuche ihn zu beruhigen. Doch er schlägt mir auf den Arm. Zum Glück nicht fest. Der Kleine macht mich noch irgendwann verrückt. Verdammte Scheiße. Warum lassen die mich nur immer wieder mit ihm allein? Das ist nicht fair. Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Sofort wird er still und tritt leise auf mich zu. Dann klettert er mir auf den Schoß und gibt mir einen Kuss. „Warum du weinen tun?“, fragt er mich.


    Ich kann ihm nicht antworten, stattdessen nehme ich ihn an die Hand und gehe mit ihm in die Küche. Dort gebe ich ihm einen Keks, und er läuft davon. Ich mache mir einen Tee und setze mich an den Tisch. Warum ist er so, wie er ist? Am Anfang war er doch noch relativ normal gewesen. Okay, er hat immer schon alleine gespielt. Auch bei uns zu Hause wollte er nie mit anderen spielen. Immer nur mit den Bausteinen, nie mit etwas anderem. Dann sind die mit ihm zum Arzt. Er sagte uns dann die Diagnose. Erst war es ein Schock. Doch mit den Tabletten ging es. Er nahm am Familienleben teil, auch wenn sich alle an seinen geregelten Tagesablauf halten mussten. Es lief eigentlich ganz gut.


    Doch seit ein paar Wochen ist es wieder schlimmer. Er fängt immer sofort an zu schreien, wenn ihm irgendetwas nicht passt, und er schlägt auch um sich. Das kann an die Nerven gehen. Immer wieder die Blicke von den anderen auf der Straße oder auf dem Spielplatz. Er ist doch schon acht und benimmt sich wie zwei. Wie soll man das den anderen bloß erklären? Man sieht ja nichts. Er sieht total normal aus. Nur wenn man ihn etwas genauer betrachtet, kann man erkennen, dass sein linkes Auge ein bisschen schielt. Aber das muss ja nichts heißen. Da spüre ich, wie er mich am Ärmel zieht. Ich sehe ihn an. In seiner Hand hält er einen zermatschten Pfannkuchen vom Frühstück: „Für dich, Anni!“, sagt er liebevoll. Ich nehme den Pfannkuchen aus seiner Hand und schiebe ihn mir in den Mund.
    Danke, kleiner Bruder. Ich hab dich lieb.

  • von churchill



    Mein Opa hatte einen Bauch,
    dazu ein Doppelkinn,
    inzwischen sieht der Dümmste auch,
    dass ich sein Enkel bin.


    Oma bestimmte klar den Ton
    und stets geschah ihr Wille.
    Den Willen habe ich wohl schon,
    doch meist in aller Stille.


    Der and’re Opa war ein Star
    im Singen und im Dichten.
    So gut, wie Opa damals war,
    bin ich bislang mitnichten.


    Die and’re Oma kenn ich nur
    vom Häkeln und vom Stricken.
    Ich bin von ähnlicher Statur,
    doch kann ich nicht mal flicken.


    Mein Vater wäre gar zu gern
    so richtig streng gewesen.
    Doch jede Strenge lag ihm fern.
    An mir ist’s abzulesen.


    Die Mama hatte ich so lieb,
    sie half in vieler Not.
    Erinn’rung ist es, die mir blieb,
    sie ist schon lange tot.


    Mein kleiner Bruder hat mich oft
    geärgert bis aufs Messer.
    Auf Änd’rung hatte ich gehofft.
    Es ist bis heut nicht besser.


    Die Schwester hat ein großes Maul.
    Ich auch. Wir taten’s erben.
    Sie ist recht fleißig, ich recht faul.
    So bleibt’s wohl bis zum Sterben.


    Wer an Vererbung glaubt, der denkt
    meist an das Allerbeste.
    Was meine Ahnen mir geschenkt,
    war’n leider nur die Reste.


    Ich will nicht meckern und stell fest:
    So ist nun mal das Leben.
    Das Gute, diesen kleinen Rest
    will ich den Kindern geben.


    Sie werden Stars und haben Glück,
    das weiß ich ganz genau.
    Denn ihr Talent, das geht zurück
    allein auf meine Frau.


    Mein Opa hatte einen Bauch,
    dazu ein Doppelkinn.
    Ich hab ne Frau. Und Kinder auch.
    Mann, wie ich glücklich bin ...

  • von arter



    „Warum glauben Sie für die Stelle geeignet zu sein?“ Göbel spazierte hinter seinem Schreibtisch auf und ab und warf Morten aus den Augenwinkeln geringschätzige Blicke zu. Dabei zitierte er kopfschüttelnd aus Mortens Bewerbungsmappe: „Fachstudium der Betriebswirtschaft mit Mühe und Not überstanden, dann drei Jahre Ferien, unterbrochen von einem zweiwöchigen Praktikum in einer Werbeagentur. Ohne Arbeitszeugnis.“.
    Göbel blieb hinter seinem Schreibtisch stehen, stützte sich auf die Tischfläche und durchbohrte Morten mit seinem stechendem Blick.
    „Ich wollte schon immer als PR-Manager tätig sein.“, log Morten, ohne auf die Vorwürfe einzugehen, „Die Tatsache, dass ich hier bin, beweist doch, dass ich auch vor schwierigsten Aufgaben nicht zurückschrecke.“
    „Wenn Unverfrorenheit Ihre einzige Qualität ist. Hier haben sich sogar Harvard-Absolventen beworben, die gewohnt sind weit schwierigere Herausforderungen zu meistern.“ Göbel wandte Morten den Rücken zu, öffnete eine Schublade und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. „Sie erlauben“, sagte er und ohne eine Antwort abzuwarten zündete er sich eine Zigarette an.
    War das eine Machtdemonstration oder ein Verhaltenstest? Morten überlegte, ob es strategisch klug wäre, sich das Rauchen zu verbitten. Dann entschied er anders:
    „Gibst du mir auch eine?“
    Auf Göbels Gesicht erschien für einen Moment etwas, das ungläubiges Erstaunen ausdrückte. Dann ging er scheinbar ungerührt darüber hinweg und warf Morten die Schachtel zu.
    „Also, warum sollte ich Sie einstellen?“
    Morten zündete sich eine Zigarette an und pustete ein paar Rauchwolken über den Schreibtisch.
    „Vielleicht brauchst du jemanden, dem du bedingungslos vertrauen kannst. Eine rechte Hand. Jemanden aus der Familie!“
    „Familie? Wie meinst du das?“ Unwillkürlich wechselte nun auch Göbel zum „Du“.
    „Du bist für mich so etwas wie ein Onkel“, erwiderte Morten. „Mein Urgroßvater hieß Göbel. Er war der Bruder deines Großvaters“
    „Mieser Versuch!“, Auf eine Art amüsierte ihn die Dreistigkeit des Bewerbers.
    „Die Abkömmlinge meines Großonkels kenne ich gut. Alles patente Leute, keine Versager wie du“
    „Dein Opa hatte noch einen älteren Bruder. Erich. Mit 19 im Krieg gefallen hinterließ er meine schwangere Urgroßmutter, die dann mit einem GI nach Amerika ging“, hakte Morten nach.
    „Könnte stimmen. Von Erich hat mein Großvater tatsächlich mal erzählt. Aber das erhöht deine Chancen nicht einen Deut.“, lachte Göbel.
    „Da wäre noch was“. Morten legte eine vage Nuance in seine Stimme. Halb gelangweilt, halb amüsiert zog Göbel eine Augenbraue hoch.
    „Die Tochter, die meine Urgroßmutter bekam, kehrte nach Deutschland zurück auf der Suche nach ihren Wurzeln verliebte sie sich in Egon, der mit deiner Mutter verheiratet war, ohne zu wissen, dass er ihr Cousin war. Sie hatten eine Romanze und sie wurde schwanger. Als der Schuft die Zusammenhänge erkannte schickte er sie mit einer lächerlichen Abfindung zurück in die Staaten“.
    „Du behauptest mein Vater hätte ein uneheliches Kind mit seiner Cousine gezeugt?“.
    „So ist es. Und zwar meinen Vater, der Dein Halbbruder ist. Damit bist Du sogar mein leiblicher Onkel!“
    „So Bürschchen, jetzt langt ’s“ Er schleuderte Morten die Bewerbungsmappe entgegen. „Mach dass du raus kommst!“
    „Nur noch eines. Wenn nichts dazwischen kommt, bist du bald der Opa meines Sohnes.“
    „Hä?“
    „Was ist nun mit dem Job, Papi?“

  • von Quetzalcoatlus



    Kronos griff unwillig in die Schale mit den Süßigkeiten, kaute ein wenig auf der aus Weingummi angefertigten Nachbildung des Damoklesschwertes herum und spuckte sie dann angewidert unter den Glastisch.
    „Ich darf doch um ein wenig bessere Manieren bitten!“, tadelte Rhea, ohne ihre elegante Sitzhaltung auch nur einen Zentimeter zu verändern. „Solch ein Verhalten ziemt sich nicht für einen Gott.“
    „Ich bin ein Titan“, korrigierte Kronos. Er legte Wert darauf, nicht auf eine Stufe mit solch niederen Gottheiten wie den Schutzpatronen des Misthaufens oder des gebrauchten Kaffeefilters gestellt zu werden. „Behalte das bitte im Auge, Weib.“
    „Ganz recht“, bestätigte die Göttin gelassen. „Und ich bin für den Moment weder deine Gemahlin noch deine Schwester, sondern deine Therapeutin. Behalte das bitte im Auge, Mann.“
    „Ich brauche keine Therapie“, grummelte Kronos. „Was ich brauche, ist Abwechslung von all dieser verdammten Glückseligkeit um mich herum.“
    „Nun, jene Glückseligkeit scheint unvermeidlich, wenn man das Goldene Zeitalter in einem Maße verbreitet, wie die Sterblichen es mit Torheiten tun.“
    „Ich pfeife auf das Goldene Zeitalter!“, schimpfte der aufgebrachte Titan.
    „Sieh es als das für dich bestimmte Schicksal an.“
    „Wir Götter sind das Schicksal!“, zürnte Kronos. „Es war nie meine Absicht, solch obszöne Mengen an Freude und Wohlstand zu verbreiten. Hier im Elysion ist sich jeder Trottel zu schade zum Arbeiten. Alles singt und tanzt nur um mich herum! Man könnte mir wenigstens gebührende Dankbarkeit entgegen bringen.“
    Rhea seufzte. „Für eine Steigerung deines Wohlbefindens ist es zwingend erforderlich, das Leben positiver zu betrachten.“
    Kronos ließ ein Ehrfurcht gebietendes Knurren ertönen. In einer Ecke des Raumes zerfielen daraufhin die Spinnweben ehrfurchtsvoll zu goldenem Staub.
    „Dieses nichtsnutzige Dekadentenpack geht mir eben auf den Sack!“, grollte er.
    „Eine solche Wortwahl halte ich für unangebracht.“ Rhea klopfte sich mit ihrem aus Zerberuszahnschmelz gefertigten Kugelschreiber gegen die Zähne. „Besonders für jemanden, der es nicht lassen konnte, seinen eigenen Vater mit einer Sichel zu kastrieren. Schon damals zeigte sich bei dir ein ausgeprägter Hang zu gewalttätiger Konfliktlösung.“
    Kronos lachte hämisch. „Als ob unser feiner Herr Sohn nicht dasselbe mit mir anstellen würde, wenn er nur könnte.“
    „Du gibst dich schon wieder deiner negativen Grundeinstellung hin“, tadelte Rhea. „Aber du wirst dich bald selbst mit ihm aussprechen können. Zeus hat sich nämlich für einen Besuch angekündigt.“
    „Aussprechen!“, schnaubte Kronos verächtlich. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er herkommt, um mit mir ein Gespräch zu führen.“
    „Nein, das war in der Tat noch nie euer beider Stärke.“ Auf Rheas Stirn zeigten sich einige göttliche Runzeln. „Wahrscheinlich ist er wieder auf eines eurer albernen Familienduelle aus.“
    Kronos’ Augen begannen zu flackern. „Wenn er Waffen mitbringt, ist hoffentlich auch eine Sichel dabei.“ Für einen Moment erhellte sich sein Gesicht. „Und dann werden wir ja ein für alle Mal sehen, wer in dieser Familie Eier in der Hose hat!“
    Rhea lächelte bescheiden. „Du wirst langsam besser darin, das Leben positiv zu betrachten.“