Pseudonym und Vita - Wo liegen die Grenzen?

  • Sabine_D : Trotzdem wiederhole ich die Frage. Warum muss die Vita stimmen? Was daran ist im Hinblick auf das Lesevergnügen wirklich wichtig? Du gehst als Leser ja keinen Vertrag mit dem Autor ein. Du kaufst ein Produkt, das ganz unabhängig davon, wer es hergestellt hat, gut oder schlecht sein kann. Was ist an der Lebensgeschichte des Herstellers von so essentiellem Interesse, dass Sie Deiner Meinung nach "stimmen" muss?

  • "Was ist an der Lebensgeschichte des Herstellers von so essentiellem Interesse, dass Sie Deiner Meinung nach "stimmen" muss?"(tom)


    tom, ich gestehe jedem autor seine anonymität zu!
    WENN er sich aber "outet", möchte ich nicht beschwindelt werden.
    warum mich so etwas interessiert? zum einen ist bei manchen autoren die lebensgeschichte beinahe ebenso interessant wie ihre geschichten (karl may), zum anderen kann es hilfreich sein, die "essenz" aus dem gelesenen zu bewerten. zB hatte ich mal ein ziemlich "enges verhältnis" zu den büchern eines ganz bestimmten autors. sie wirkten so ... aufbauend, waren aber nicht auf der ratgeberschiene. und dann bekam ich mal mit, dass er selbstmord begangen hat. ich hatte damals echt eine weile probleme damit, seine bücher wieder zu "genießen". insofern spielt die vita mE eine rolle (und sollte stimmen - oder weggelassen werden).
    :wave

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben." (A. Lincoln)

  • Zitat

    Original von Tom
    Sabine_D : Trotzdem wiederhole ich die Frage. Warum muss die Vita stimmen? Was daran ist im Hinblick auf das Lesevergnügen wirklich wichtig? Du gehst als Leser ja keinen Vertrag mit dem Autor ein. Du kaufst ein Produkt, das ganz unabhängig davon, wer es hergestellt hat, gut oder schlecht sein kann. Was ist an der Lebensgeschichte des Herstellers von so essentiellem Interesse, dass Sie Deiner Meinung nach "stimmen" muss?


    Tom, das sehe ich als Leser aber anders:
    Wenn mir ein Buch so richtig gut gefällt, dann interessiert mich natürlich die Vita des Autors.
    Es kann auch vorkommen, dass ich seine HP besuche oder mich sonst wo über ihn informiere - und da möchte ich die Wahrheit erfahren.
    Ich gehe davon aus, dass Alter, Herkunft, Interessen, erste Schreibambitionen, besondere Merkmale usw. stimmen. Ich möchte also die Wahrheit über einen Autor wissen, der mich mit seinem Roman "bereichert" hat!

  • Tom, wenn ich ehrlich sein soll kann ich dir die Frage nach dem Warum gar nicht richtig beantworten.


    Ich meine, wenn der Autor schon Dinge über sich selbst preisgibt, sollten sie stimmen.


    Bei einem Roman weiß ich um die fiktive Handlung, bei der Vita erwarte ich Ehrlichkeit. Wenn der Autor das nicht kann oder will, soll er sie ganz weglassen.

  • Heinz Strunk heißt eigentlich Mathias Halfpape. Anne Hertz gibt es überhaupt nicht, weil sich dahinter zwei Autorinnen verbergen. Der "große" Thomas Pynchon hat seit vierzig Jahren keine Bilder mehr von sich an die Öffentlichkeit gegeben; seine Lebensgeschichte ist Gegenstand vieler Spekulationen. Bret Easton Ellis hat sich einen Spaß daraus gemacht, die Vita seiner Figuren (insbesondere des Patrick Bateman aus "American Psycho") nach und nach auf seine eigene zu übertragen - schlussendlich hat er aus diesem "Spiel" einen ganzen Roman ("Lunar Park") gemacht. Viele Bücher sind überhaupt nicht von den Autoren, deren Namen draufstehen. Und auch bei den Büchern, bei denen das nicht der Fall ist, und die von prominenteren Weltbürgern stammen, mag es große Unterschiede zwischen öffentlicher und tatsächlicher Vita geben.


    Ich verstehe zwar den Wunsch, nach der Lektüre eines besonders ergreifenden Romans irgendwie die Verbindung zum Autor zu suchen, möglicherweise sogar nach Übereinstimmungen mit der eigenen Vita. Ich kann auch die Enttäuschung nachvollziehen, wenn hier mit falschen Fakten gearbeitet wird (vollständig sind sie allerdings nie!). Aber es besteht kein Anspruch auf Korrektheit. Auch und insbesondere Autoren haben das Recht, zwischen Werk, Kunst- und Echtperson zu trennen. Im Musikbereich ist das gang und gäbe; die meisten Musiker schmücken sich mit Kunstnamen und geschönten oder erlogenen Vitae, weil das - aus ihrer Sicht - Bestandteil des Gesamtkunstwerks ist. Es ist sogar Ausdruck der Kunst.


    Davon abgesehen - meistens dürfte es stimmen. Autoren sind eitel, die überwiegende Mehrheit jedenfalls. ;-)

  • Es gibt für mich einen guten Grund, bei der Vita ehrlich zu sein:


    Lesungen und Internet.


    Wenn ich den Leuten gegenübersitze, die unsere Lesungen besuchen, oder Leserunden im Netz begleite, muß ich ehrlich herüberkommen. Das geht aber nicht, wenn ich in der Vita eine Scheinexistenz aufgebaut habe.


    Solange ein Autor keinen Kontakt mit Lesern haben will, kann er sich hinter einer getürkten Vita verbergen. Aber bei einem gewissen Bekanntheitsgrad hat er die Presse am Hals und die stürzt sich gnadenlos auf alles, was interessant sein könnte. Zudem kommt, wenn besagter Autor sich im Netz bewegt, schnell etwas an Tageslicht.


    Mir ist noch etwas anderes wichtig: eine falsche Vita wäre mir viel zu anstrengend. Da müsste ich ja aufpassen, was ich erzähle. Nein, es ist leichter, ein paar Daten von sich preiszugeben, als dauernd lügen zu müssen.


    Man muss ja keine Geheimnisse verraten, wenn man welche hat.


    Gruß Sysai

  • @ tom: ich kann deine zeilen nachvollziehen, aber ich bleibe trotzdem bei meiner meinung: WENN, wünsche ich mir WAHRES!


    "Man muss ja keine Geheimnisse verraten, wenn man welche hat." (sysai)


    exakt.
    (obwohl ich jetzt neugierig geworden bin und mich düüüsteren spekulationen hingeben werde! :lache)


    :wave

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben." (A. Lincoln)

  • Also wenn wir schon bei "Leserwünsche an die Autoren" sind, möchte ich mich auch noch einmal äußern:
    Mir ist die Vita eines Autoren erst einmal völlig egal. Herkunft, Ausbildung, Wohnort, persönliche Erfahrungen etc. spielen für mich vorerst keine Rolle. Der Text muss für mich seine Anziehungskraft aus sich selbst schöpfen. In seltenen Fällen interessiert mich dann der dahinterstehende Autor so sehr, dass ich mich über Tagebücher, Biographien, Briefe etwas über ihn erfahren möchte. Das ist dann interessant, aber dadurch hat sich nie meine eigene Rezeption eines Romans grundlegend verändert.


    Von daher kann ein Autor oder Verlag die schauerlichste Biographie erfinden, ich würde es nachsehen. Was ich (wie schon erwähnt) befremdlich finde, sind diese gehäuften Pseudonyme. Ich möchte den Überblick über das Werk eines Autoren haben - entweder um von einem bestimmten Autoren möglichst Vieles und Unterschiedliches zu lesen oder um ihn zu meiden. Beides wird mit verschiedenen "Markennamen" eines Autoren unmöglich, es sei denn man ist Hobbydetektiv und sucht ständig nach den Identitäten hinter den Autorennamen. Dass es für diese Entwicklung auf dem Buchmarkt marketingtechnische Gründe gibt und ich keinem Autoren die Unterwerfung unter diese Regeln übel nehme, schließt nicht das persönliche Gefühl der bewussten Irreführung aus.

  • Anton : Meinst Du, alle Autoren lesen auch privat solche Bücher wie diejenigen, die sie selbst schreiben? Oder glaubst Du, dass sämtliche Popmusiker in ihrer Freizeit auch die Art von Musik hören, die sie produzieren? Oder wenigstens ihre eigene Musik mögen? Es ist (eine) Arbeit, Bücher zu schreiben, die erfolgreich veröffentlicht werden. Häufig - gerade bei Literatur, die wenig autobiographische Anklänge hat - werden hier Kompromisse eingegangen, oder ein Autor hat mit der Zeit erkannt, dass er etwas gut kann, das überhaupt nicht oder nur teilweise seinem eigenen Geschmack entspricht. Viele Leser nehmen an (oder wünschen sich), dass Bücherschreiben einer Selbstverwirklichung gleichkommt, die viel mit den häufig kolportierten Klischees rund um das Schriftstellerdasein zu tun hat. In der Realität stimmt das aber selten. Vielleicht rührt daher der Wunsch her, mehr "Wahres" über Autoren zu erfahren, die sich dieserart produzieren.

  • Zitat

    Original von Tom
    Anton : Meinst Du, alle Autoren lesen auch privat solche Bücher wie diejenigen, die sie selbst schreiben? Oder glaubst Du, dass sämtliche Popmusiker in ihrer Freizeit auch die Art von Musik hören, die sie produzieren? Oder wenigstens ihre eigene Musik mögen?


    Ja, das hoffe ich.
    Und ich unterstelle diesen Zünften eine Menge Idealismus.

  • Zitat

    Original von TomHäufig - gerade bei Literatur, die wenig autobiographische Anklänge hat - werden hier Kompromisse eingegangen, oder ein Autor hat mit der Zeit erkannt, dass er etwas gut kann, das überhaupt nicht oder nur teilweise seinem eigenen Geschmack entspricht.


    Kann ich bestätigen. Beispielsweise Herz-Schmerz-Literatur für 12-jährige Mädchen oder Erstlesebücher für 7-jährige sind nicht unbedingt das, was ich selbst am liebsten lese. ;-) Zwar habe ich gerade von beidem einen Stapel davon zu Hause liegen, man sollte sich ja in dem Genre auskennen, in dem man schreibt, aber es gibt so einiges an Literatur, was ich für mich selbst lieber lese. :grin


    Grüßle,
    Judith

    Toni und Schnuffel / Tricks von Tante Trix / Papino und der Taschendieb / Das Dreierpack und der böse Wolf
    Tanz mit Spannung / ... und jetzt sehen mich alle! / Voll drauf / Die Kellerschnüffler u.a.

  • Zitat

    Original von drehbuch
    "Was ist an der Lebensgeschichte des Herstellers von so essentiellem Interesse, dass Sie Deiner Meinung nach "stimmen" muss?"(tom)


    tom, ich gestehe jedem autor seine anonymität zu!
    WENN er sich aber "outet", möchte ich nicht beschwindelt werden.


    :wave


    Sehe ich genauso...und finde es schlimm, wenn man das noch erläutern muß.


    Als Leser von Büchern gehe ich in einen Buchladen und kaufe ein Buch, eine Fiktion, eine Geschichte, die erfunden ist...und, wo mir bewußt ist, dass sie/es erfunden wurde.


    Wer sie geschrieben hat und warum, interessiert mich dabei da noch nicht.


    Wird allerdings gleichzeitig mit diesem Buch in der Umschlagsklappe, auf der letzten Seite oder im Vorwort o.ä. die Vita des Autors/der Autorin vorgestellt, geschieht das ja nicht ohne Gründe. Der Verlag und/oder Autor will damit ja etwas erreichen: "Seht alle her, ich bin kompetent, alt, jung usw. usf. genug, um dieses Buch/diese Geschichte zu veröffentlichen..."


    Ab dann wird es kritisch, finde ich und der Autor muß sich von den Lesern dann auch gefallen lassen, dass man die veröffentlichten Zusatzinformationen bewertet. Denn das ist sehr wohl eine Bewerbung/Anbiederung, die wir Leser ja dann auch lesen sollen.


    Fazit: wenn ein Autor/eine Autorin nicht möchte, dass die Leser/-innen über sein/ihr Werk hinaus irgendetwas bewerten sollen, sollte man diese Zusatzinfos (von denen ich übrigens der Meinung bin, dass sie 99,9% aller Leser/-innen gar nicht interessieren,) gar nicht erst anbieten!


    Tut man es doch und lügt dann, muß man sich allerdings gefallen lassen, dass man dann auch entsprechend als Lügner bewertet wird...genau wie Liesschen Müller von nebenan.


    Und noch etwas: Idealismus erwarte/erhoffe ich von allen Menschen...und fände es schade, wenn man ihn verloren hat.


    Only my two cents
    Ikarus

  • Was ich nicht ganz verstehen kann, AutorIn sein ist doch idealerweise nicht nur ein Beruf, sondern auch eine Leidenschaft. Wenn die erfahrenen AutorInnen hier davon sprechen, daß vieles auf Zwang der Verlage geschieht, ja daß ein Teil der Persönlichkeit, wie das Pseudonym Hansi Müller als Marke und Eigentum betrachtet wird, kann es dann überhaupt noch Spaß machen, unter diesen Zwängen zu schreiben? Macht einen das nicht in gewisser Weise zum "Schreibsklaven"? Oder sind das die Beschränkungen, die man einfach hinnehmen muß, um diesen Beruf leben zu können? Aber verkauft man da nicht einen Teil seiner Seele mit?


    Denn ich finde es schon etwas eigenartig, Pseudonyme zwar zu haben, weil man dazu gezwungen ist oder wird, aber sie gleichzeitig aufzudecken, weil man es nicht ethisch findet. Wo ist denn da der Sinn?


    Nicht polemisch gemeint, sondern pures Interesse an einer schwierigen Frage.

  • Zitat

    Was ich nicht ganz verstehen kann, AutorIn sein ist doch idealerweise nicht nur ein Beruf, sondern auch eine Leidenschaft. Wenn die erfahrenen AutorInnen hier davon sprechen, daß vieles auf Zwang der Verlage geschieht, ja daß ein Teil der Persönlichkeit, wie das Pseudonym Hansi Müller als Marke und Eigentum betrachtet wird, kann es dann überhaupt noch Spaß machen, unter diesen Zwängen zu schreiben? Macht einen das nicht in gewisser Weise zum "Schreibsklaven"?


    There is no business like showbusiness!


    Ich denke, auf jede kreative Tätigkeit trifft diese Aussage zu einem gewissen Grad zu, weil man mit etwas an die Öffentlichkeit geht, das unterhalten, bewegen, informieren oder was auch immer soll. Es macht in viel größerem Umfang angreifbar als als der Verkauf von Würstchen am Bahnhofsplatz.


    Und gerade im Bereich Schreiben befindet man sich immer in einem Abhängigkeitsverhältnis, wenn man nicht gerade einer der ganz großen Namen ist. Ich schätze, viele gehen lieber Kompromisse ein als sich in ihre Prinzipien und Ideale zu verbeißen.


    Do ut des. So funktioniert es überall auf dem Markt.


    Aber wie gesagt, ich fände es auch am hilfreichsten, auf eine Vita ganz zu verzichten. Auf der Schallplatte steht ja auch meistens nicht, woher der kommt, der da singt, und ob er Familie oder einen Schulabschluss hat. ;-)

    :flowersIf you don't succeed at first - try, try again.



    “I wasn't born a fool. It took work to get this way.”
    (Danny Kaye) :flowers

  • Hm....
    ich persönlich gehöre zu den Menschen, die die Vita meist komplett ignorieren.
    Wenn ich sie aber lese, hoffe ich, daß sie der Wahrheit entspricht, sonst bräuchte ich sie als Info für mich noch weniger.
    Was habe ich von einer komplett erfundenen Vita, also ich als Leser? Gar nichts !
    Meiner Meinung dient die Vita dazu, dem Leser aufzuzeigen, daß der Autor auf dem Gebiet seines Buches, sei es nun fiktional oder nicht, gewisse Kenntnisse aufweist.


    Beispiel:
    Ich lese zur Zeit mit Hingabe die Krimis von Anne Holt, die Dame war laut ihrer Vita, Journalistin, Polizistin und Ministerin, außerdem lebt sie in einer lesbischen Lebensgemeinschaft. Ihrr Bücher handeln von einer lesbischen Kommissarin in Norwegen. Aufgrund ihrer Vita gehe ich also davon aus, die Frau weiß wovon sie schreibt, sei es die lesbische Problematik im Polizeiberuf, oder rechtliche oder taktische Inhalte ihrer Bücher. Natürlich würde es den Unterhaltungswert der Bücher nicht schmälern, wenn sich herausstellte, daß sie eigentlich Gretchen Müller heißt und in Hintertupfingen Socken strickt. Aber ich würde mir als Leser und Käufer verarscht vorkommen, weil mir anhand der Vita vorgegaukelt wurde, daß hier eine bestimmte Kompetenz besteht, die de facto dann doch nicht da ist.


    Wenn ich zu meinem Gemüsehändler gehe und der preist mir seine Orangen an und sagt, er habe sie selbst gekostet und sie seien ganz vorzüglich gewesen, daraufhin kaufe ich diese Orangen, stelle selbst fest, sie sind ganz vorzüglich und erfahre dann aber, daß der Händler die Orangen vorher nicht probiert hat und dies seine normale Verkaufstaktik ist, so werde ich auf seine Meinung beim nächsten Mal nicht mehr hören, ob die Orangen nun wirklich vorzüglich waren oder nicht, ändert nichts daran, daß seine Glaubwürdigkeit geschmälert wurde.
    Und genauso sehe ich das auch bei erfundenen Vitae, wer mich aufgrund einer Lüge zum Kauf animiert, der sinkt in meiner Achtung ganz gewaltig.
    Wohlgemerkt, wir reden hier von komplett erfundenen Vitae, nicht von kleinen Veränderungen oder Auslassungen.


    Ich persönlich habe einen recht hohen Anspruch an Wahrhaftigkeit. Lügen mag ich nicht, weder in einer Vitae noch sonst wo. Wer nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu sagen, sollte aus meienr Sicht, dann doch besser ganz den Mund halten.