Vielleicht erinnert ihr euch noch an die Reden des Indianerhäuptlings Wie-hiess-er-noch, der aus einer primitiven Kultur in unsere Zivilisation kam und uns den Spiegel vorhielt.
Dies hier ist sowas Ähnliches, aber - finde ich - auf höherem Niveau. Der hochrangige Staatsbeamte und Vorsitzende der Dichtervereinigung "Neunundzwanzig moosbewachsene Felshänge" im China vor tausend Jahren, Kao-tai, begibt sich auf eine Zeitreise in die Zukunft und landet in Ba-Yan, im Min-chen des 20. Jahrhunderts. An seinen in der Vergangenheit gebliebenen Freund schreibt er Briefe über das, was ihm widerfährt und wie er diese merkwürdige Zeit erlebt.
Kao-tai übermittelt seine Briefe auf Zeitwanderpapier, das er an einem bestimmten Kontaktpunkt ablegt, von wo es die Reise zum Empfänger antritt. Wie die Briefe in die Hände des "Herausgebers" gelangt sein mögen ;-), weiss ich noch nicht. Ich bin noch nicht ganz durch; vielleicht wird das noch erklärt.
Herbert Rosendorfer schreibt diese Briefe mit einem leisen Humor, bei dem man oft schmunzeln muss - vor allem angesichts der Alltagsbeobachtungen z.B. über Autos, Essensgewohnheiten der "Grossnasen" und das Oktoberfest in "Min-chen", und der Wortschöpfungen des Chinesen, der die erlernten deutschen Wörter und Namen so verballhornt, dass man des Öfteren erst raten und dann lachen muss. Der Text insgesamt ist aber ins Deutsche "übersetzt" ;-), so finden sich bisweilen Fussnoten des Herausgebers, der Bezüge zur chinesischen Kultur etc. erläutert.
Das Buch soll natürlich gleichzeitig zum Nachdenken anregen. Und das tut es, finde ich, viel feinsinniger als der o.g. Indianerhäuptling - nicht umsonst ist "Kao-tai" hochgebildet, und seine Beobachtungen und Erkenntnisse sind zwar zwangsläufig naiv, aber zugleich höchst intelligent. Leider ist es bereits 1986 erschienen, die damaligen Anliegen - z.B. Kalter Krieg und Waldsterben - sind nicht mehr alle aktuell, und die heutigen fehlen noch. Sehr lesenswert ist es dennoch - und ich sehe gerade, dass es eine Fortsetzung gibt, 1999 erschienen: "Die grosse Umwendung". Aus der Amazon-Kurzbeschreibung: "Nun kehrt der Mandarin aus dem 10. Jahrhundert auf der Flucht vor Feinden in das wiedervereinigte Deutschland zurück. Er landet in einer Stadt namens Kö-leng – und das mitten im Karneval." Na dann!