Über die Autorin (aus dem Buch abgetippt):
Viola Roggenkamp, 1948 in Hamburg geboren, stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie. Nach ihrem Studium der Psychologie, Philosophie und Musil reiste und lebte sie mehrere Jahre in verschiedenen Ländern Asiens und in Israel. Sie lebt heute als Schriftstellerin in Hamburg und gilt als eine der renommiertesten feministischen Publizistinnen in Deutschland.
Inhalt (auch abgetippt):
Viola Roggenkamp erzählt in "Familienleben" eine Geschichte, die so noch nie erzählt worden ist. Deutsch-jüdisches Familienleben in den 60er Jahren in der Bundesrepublik. Eine anscheinend ganz normale Familie, die in Hamburg lebt, im feinen Harvestehude, in einer heruntergekommenen Villa, mit einer etwas anderen Vergangenheit als ihre deutschen Nachbarn.
Die Mutter, Alma Schiefer, sie ist Jüdin, liebt ihre heranwachsenden Töchter, Fania und Vera, maßlos und besitzergreifend. Und nicht minder ihren Mann, Paul, einen Deutschen, der sie vor den Nazis rettete. Auch Hedwig, die jüdische Großmutter, ist eine Überlebende. Jeden Montagmorgen wird Paul Schiefer, Handelsreisender für Brillengestelle, mit Winken und Küssen von seiner Familie verabschiedet. Und jeden Freitag bei seiner Heimkehr ebenso überschwenglich begrüßt. Während der Vater unterwegs ist, müssen die Töchter die gewaltige Liebeslast ihrer schönen, temperamentvollen Mutter alleine tragen. Fania, die jüngste, erzählt die Geschichte dieser eigenwilligen Familie. In der die Mutter ihren endlosen Kampf gegen die Feinde von gestern führt und der weiche, einst mutige Vater mit dem alltäglichen Leben nicht klarkommt. In der alle wissen, dass es sie nicht gäbe, wenn der Vater die Mutter nicht vor der Vernichtung bewahrt hätte. In der die Sehnsucht nach einem eigenen Leben so verzweifelt intensiv ist wie die Angst vor der Welt da draußen.
(...)
Elke Heidenreich sagte übrigens zu dem Buch:
"Ein großer, schöner Familienroman. Wenn man dieses Buch liest, ist man ganz glücklich."
Meine Meinung:
Zuerst einmal möchte ich Frau Heidenreich widersprechen: man ist NICHT ganz glücklich, wenn man dieses Buch liest. Und das ist ganz gut so, kennt man doch Tolstois Ausspruch über glückliche Familien (und glückliche Gefühle bei der Lektüre?): die sind alle gleich, und somit wohl auch reichlich langweilig. Auch diese Familie hier ist auf ihre ganz eigene Art und Weise dysfunktional, tatsächlich aber hebt diese sich wohltuend von anderen Familienromanen ab, und zwar durch die Thematik. Es gibt ja einige Romane über das Aufwachsen im Deutschland der 60er Jahre und einige über jüdische Familienbanden, eine Kombination beider Thematiken war mir aber bis dato noch nicht untergekommen. Deshalb möchte ich die Elke nicht ganz schlecht machen: es ist tatsächlich ein großer, schöner Familienroman. Und originell auch noch dazu!
Die 13-jährige Fania Schiefer erzählt diese Familien- und Alltagsgeschichte in einem, ich möchte es fast "stream of conciousness" nennen. Damit hatte ich Anfangs übrigens so meine Probleme. So kunstvoll und realistisch diese Art des Erzählens auch sein mag, so schwer fand ich es auch, bis ich mich daran gewöhnt hatte. Der Stil erinnert sehr an den von Zeruya Shalev (die ich übrigens sehr verehre). Ich möchte Euch ein Beispiel geben:
"Meine Mutter steht vom Schreibtisch auf, ihre Tochter will weg, ohne Kuß, sie kommt auf uns zu, sie zupft an meiner Baskenmütze, sie küßt mich, sie küßt ihre Mutter. Na, dann geht, seid vorsichtig, und grüßt schön. Endlich können wir gehen, wir hätten ohne diesen Kuss gehen können, unsere Füße hätten wir angehoben, die Knie geknickt und gestreckt, unsere Beine hätten uns zur Wohnungstür hinausgetragen, und wir wären zerrissen gewesen. Wir müssen uns vorher noch einmal berühren, und ich fühle deutlich, anders kann auch ich es nicht mehr. Vielleicht konnte ich es nie anders."
Es ist also ein sehr abgehackter Stil, bei dem man manchmal beim Lesen aus dem Atem kommt. Nach gut hundert Seiten hatte mich der Roman, und insbesondere Fanias' Stimme aber gefangen.
Es ist ein Roman über Familie, über das immerwährende Zusammenspiel aus Liebe und Hass, die familiäre Vertrautheit so charakterisiert. Ein Buch über Wurzeln, und das was man daraus lernt und mitnimmt, sowie das, was man davon in der Vergangenheit lässt. Es ist auch ein Buch darüber, wie Vergangenheit alle Familienmitglieder beeinflusst, selbst wenn diese die Vergangenheit nicht miterlebt haben.
Ein Buch auch über Geheimnisse, und wie schwer diese wiegen können.
Vordergründiger ist es aber ein Entwicklungsroman. Fania und Vera, ihre ältere Schwester, sagen sich nach und nach von ihren Eltern und voneinander los, entdecken die Welt, die Liebe und letztendlich sich selbst. Diese Entwicklung ist schmerzhaft, aufregend, beängstigend, wunderbar. So wie Raupen, die aus ihren Kokons brechen.
Fazit:
Ich kann diesen Roman jedem empfehlen, der ein Faible für Familienromane hat (in denen vordergründig nicht sehr viel passiert), der ein wenig Zeit mitbringt, um sich auf Fania einzulassen und der Interesse an den 60s hat, aber auch am Judentum.
Dieses Buch ist keines meiner Lieblingsromane geworden (das heisst bei meinem Bücherverschleiss aber nichts), ich denke aber nach 2 Jahren noch gerne daran und habe es definitiv als ziemlich beeindruckend in Erinnerung.