Gestern war mein zweiunddreißigster Geburtstag. Heute fühle ich mich sehr, sehr alt.
Es gibt diverse Möglichkeiten, sich innerhalb eines Sozialgefüges zu profilieren. Während meiner Schulzeit war ich in durch und durch männliche Revierkämpfe verwickelt: Mehr Alkohol als Hannes, mehr Frauen als Daniel, mehr Einsen als Ludger. Und jetzt? Jetzt bin ich Versicherungskaufmann und teile mein Großraumbüro mit acht Frauen. Jetzt heißt es: größere Torten als Anne. Das ist nicht mehr mein Revier ...
Vor zwei Wochen war Anne mit einer fünfstöckigen Sahnetorte, deren oberstes Stockwerk mit einem originalgetreuen und handgeschnitzten Marzipanmodell des Büros inklusive aller Kolleginnen verziert war, gekommen. Selbst die Mülleimer waren am richtigen Fleck gewesen. Ich liebe Marzipan und das Miniaturbüro war ungesehen in die eigens mitgebrachte Plastikschüssel gewandert. Meine Frau Sabine war gleichermaßen begeistert und neidisch gewesen. Das und ihr unzähmbarer Ehrgeiz haben dazu geführt, dass Sabine meiner Kollegin den Kampf angesagt hatte. Ein Fernduell. Doch das war nicht mein Kampf ...
Gestern war Sonntag. Mein Geburtstag. Backtag. Eigentlich nur ein Backvormittag, denn Nachmittags wollten wir in das Thermalbad und Abends mit Freunden feiern. Sabine verkündete also nach dem Frühstück erwartungsgemäß: „Dann backen wir jetzt mal.“
„Gut, ich mähe dann mal den Rasen“, versuchte ich, dem bevorstehenden Martyrium zu entgehen.
„Stopp, so nicht! Ich sagte, WIR!“ Ihre Worte legten sich um meinen Hals und zogen mich gewaltsam zurück in die Küche.
„Also, ich brauche noch sechzehn Eier, sechs Tüten Backpulver, unsere kompletten Aromavorräte, fünf Liter Sahne und drei Kilo Zucker!“.
„Sag´ mal, Bienchen, was hast Du eigentlich vor?“, wagte ich, vorsichtig zu fragen.
„Sieben Stöcke“, stieß sie nur knapp heraus, während sie die Küche bereits in eine undurchsichtige Mehlwolke hüllte. Kurz darauf hörte ich ein dumpfes „Mist“ welches der Wolke eine klare Richtung gab.
„Oh Mann, ich habe nur das Mehl gerührt. Was machen wir denn jetzt?“, erkundigte sich meine holde Backfee bei mir. Ich erahnte einen panischen Gesichtsausdruck.
„Keine Ahnung, Marmorkuchen kaufen?“, fragte ich, mit den Gedanken schon im Whirlpool.
„Sehr witzig! Dann musst Du leider noch schnell los und frisches Mehl kaufen. Der Supermarkt im Bahnhof hat auch sonntags geöffnet. Drei Kilo reichen definitiv nicht“!
„Und wenn Du auf ein bis zwei Stockwerke verzichtest?“, riskierte ich einen zaghaften Vorstoß. „Jetzt komm, diskutiere nicht lange rum, wir haben nicht viel Zeit. Du musstest für heute Abend ja unbedingt noch Gäste einladen“.
„Hey, ich habe Geburtstag! Da ist es doch wohl erlaubt, ein bisschen zu feiern“.
Bienchen begann, leicht zu brummen, sah mich vorwurfsvoll an und erwiderte: „Du hast aber ganz genau gewusst, dass wir heute für Deine Firma, für DEINE Kollegen noch einen Kuchen backen müssen!“
Ich wollte gerade etwas antworten, mich verteidigen, ihr sagen, dass dies nicht mein Kampf war, da übermannte mich der Fluchtreflex und ich ging bereitwillig einkaufen.
Im Bahnhofssupermarkt war es gerappelt voll. Warum können sich die Leute nicht während der normalen Öffnungszeiten in den normalen Supermärkten bevorraten? Fünfundvierzig Minuten später war ich wieder zu Hause. Mit zwei Tüten Mehl und kurzzeitig regenerierten Nerven.
„Was hat das denn so lange gedauert? Jetzt muss ich mich total stressen! Komm in die Küche, Du musst mir helfen ... na mach schon!“
Bucklig von der bevorstehenden Last trottete ich in die Küche und nahm mir auf Anweisung die Eier vor. Meine Frau rannte derweil mehrmals um mich rum, bis sie vor der Rührschüssel wieder zum Stehen kam.
„Wo ist denn die Butter?“
„Im Kühlschrank“, antwortete ich und begann seelenruhig, das zweite Ei zu öffnen. Stille. Sabine sagte nichts, sondern fixierte mich wie ein Frosch, kurz bevor er eine Mücke fängt.
„Achso, Moment, ich gebe sie Dir“. Ungeduldig riss sie mir den Butterberg aus den Händen. Nach kurzer und fachmännischer Prüfung traf mich jedoch erneut ihr Zorn: „Ich habe Dich gestern gefragt, ob die Butter noch gut ist“.
„Ich hole noch schnell welche.“
Diensteifrig hastete ich zur Garderobe und machte mich erneut auf zum Supermarkt. Auf dem Weg dorthin genoss ich den Regenschauer, der das Mehl aus meinen Haaren spülte.
Eine Stunde später kam ich mit der Butter nach Hause. Das Treppenhaus rannte ich hoch, um den Eindruck zu erwecken, ich hätte Stress gehabt. Doch sie fragte gar nicht nach. Stattdessen lief sie mir freudig mit dem ersten Stockwerk in der Hand entgegen. „Schau mal, das Fundament ist fertig! Ab jetzt geht es schnell“, sagte sie lächelnd und begrüßte mich mit einem Kuss. „Schau du mal, ich habe die Butter“, antwortete ich ebenfalls glücklich, bis wir uns eine gefühlte Ewigkeit später beide zeitgleich fragten, ob nicht wenigstens ein bisschen von der Butter im Fundament hätte sein sollen.
Während ich die Reste des Kuchens von der Wand wischte, rief meine zornesrote Sabine aus der Küche: „Jetzt lass doch den Teig da wo er ist, verdammt! Wir müssen es dieser widerlichen Anne zeigen. Das mit dem Thermalbad kannst Du vergessen!“
Wie ein geprügelter Dackel wackelte ich in die Küche, rührte Teig auf Anweisung, schlug Eier gemäß Befehl und reichte Zutaten unter Androhung von Konsequenzen. Nach drei Stockwerken lag endlich ein leichtes Lächeln in Bienchens Gesicht. Der Stachel wurde eingezogen und sie ließ mich die Schüsseln auslecken. Lecker! Dann noch die Rührhaken. Ich liebe diesen Teig, und meine Seele schrie nach einer Belohnung. Wie ein Kätzchen machte ich die Schüsseln sauber.
Dann fiel mein Blick auf die Uhr. Sabine bemerkte dies, presste die Lippen zusammen und zog die Augenbrauen hoch. Ich verstand und sagte die Party ab. Um dreiundzwanzig Uhr begann ich, die Teigreste aus der letzten Schüssel zu kratzen, während Sabine der siebenstöckigen Torte den letzten Schliff durch bunte Sahneverzierungen verlieh. Fertig!
„Schatz, holst Du jetzt bitte das Marzipan aus dem Kühlschrank?“, flötete es zuckersüß aus dem Raum des Grauens. Vorsichtig steckte ich meinen Kopf in die Küche, voller Angst, eine Guillotine könnte auf mich herab sausen. „Wir wollten doch noch Euer Versicherungsgebäude modellieren.“ Zack!
Ich unterdrückte ein Gähnen, warf einen wehmütigen Blick auf die noch verpackten Geschenke und krempelte die Ärmel hoch. Nachts um vier war es dann fertig, das neunstöckige Firmengebäude, einschließlich aller Nebengebäude, Parkplätze (der Chefparkplatz war originalgetreu beschriftet), Autos und den Rolläden.
Heute Morgen wachte ich mit fürchterlichen Bauchschmerzen auf. Doch meine Frau zwang mich zur Arbeit. Schließlich war es ihr ... nein, mein großer Tag. Ganz uneigennützig half sie mir tragen und fuhr mich zur Firma, während ich mich auf der Rückbank vor Schmerzen krümmte. Es war wohl einfach zu viel Teig gestern.
Mühsam trugen wir das Prachtstück von Torte in den Aufenthaltsraum, verfolgt von einer riesigen Traube Menschen, denen ich auf den Weg dorthin begegnete. Leute gratulierten mir, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass sie in dieser Firma arbeiten. Und jeder von ihnen hatte bereits einen Teller in der Hand. Weiß der Geier, wo sie den so schnell her hatten. Da ich physisch nicht dazu in der Lage war, nahm meine Frau den Tortenheber und verteilte bereitwillig Stücke von diesem ekelhaften Klotz. Von Krämpfen geschüttelt, lehnte ich meinen Anteil ab. „Wer ist denn nun diese Anne“, fragte meine Frau nach einer Weile. Eine andere Kollegin bekam dies mit und sagte, während sie an der Marzipan- Dachterrasse nagte: „Krank.“ Dann ging alles sehr schnell: Erst sah ich, wie die Finanz mit zehn Plastikschüsseln davon schlich, dann sah ich das frustrierte Gesicht meiner Frau und zuletzt die Neonröhre im Krankenhauszimmer. Und dann wieder meine Frau, wie sie an meinem Bett saß. Daneben meine Freunde.
„Schau mal, Schatz. Deine Freunde haben Dir einen Kuchen gebacken.“ Ludger hielt den Apfelkuchen hoch.
„RAUS!“, schrie ich „Alle raus! Und nehmt den Kuchen mit!“
Endlich Stille! Wie ich mich jetzt auf meinen Haferbrei freue. „Schwester!?“