Originaltitel: "Paradise Lost"
Zum Buch
Großartig erzählt Milton den tragischen Fall des Menschengeschlechts: Satan und sein Gefolge haben sich gegen Gott erhoben, wurden besiegt und zur Strafe in die Hölle verbannt. Sie errichten dort das Pandämonium, die Heimstatt aller gefallenen Engel und beschließen, Gott von nun an durch List und Trug zu bekämpfen und ihn in seinem neuen Lieblingsgeschöpf zu treffen, den Menschen zu verführen und so Gottes Ratschluß zu durchkreuzen.
Nach der Schöpfung betritt Satan den Garten Eden, wo er Eva verleitet, eine Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu pflücken und Adam davon abzugeben. Adam und Eva werden daraufhin aus dem Garten Eden verbannt, sie haben "das Paradies verloren".
Über den Autor
John Milton (1608-1674) war nach seinem Studium in Cambridge zunächst in Italien und danach für kurze Zeit als Privatlehrer in London tätig. Er kämpte auf Seiten von Oliver Cromwell (1599 bis 1658) gegen die Royalisten und unterstützte die Puritaner mit politischen Schriften. Nach Wiederherstellung des Königtums (1660) wurden seine Bücher öffentlich verbrannt und er selbst musste sogar für kurze Zeit ins Gefängnis. Seine bedeutendsten Werke erschienen erst nach 1660. Völlig erblindet, verarmt und vereinsamt, diktierte er das größte englische religiöse Epos Das verlorene Paradies, das 1668 zum ersten Mal erschien.
Über den Übersetzer
Hans Heinrich Meier, zunächst Lehrer an der Kantonsschule in Chur, war von 1966 bis 1986 Ordinarius für englische Sprache und englische Literatur des Mittelalters an der Universität Amsterdam. Seit Anfang der 60-er Jahre beschäftigte er sich mit der Übersetzung von Paradise Lost.
Meine Meinung
Die Handlung beginnt nach dem Sturz Satans und der anderen abtrünnigen Engel aus dem Himmel und kurz vor der Erschaffung des Menschen. Da Satan Gott nicht mit bloßer Kraft besiegen kann, beschliesst er ihm sein neues Spielzeug, den Menschen, zu verderben, indem er ins Paradies eindringt und Eva beschwatzt vom Baum der Erkenntnis zu essen, was ihm ja bekanntermaßen gelingt. Gott, in seiner Allwissenheit, hat das alles natürlich sowieso vorausgesehen und könnte es in seiner Allmacht vielleicht auch verhindern, wäre da nicht der freie Willen, den er den Menschen gegeben hat, weil er es blöd finden würde, nicht aus freiem Willen angebetet zu werden. Und so strickt er sich einen etwas komplizierteren Plan zurecht, der die Kreuzigung seines Sohnes beinhaltet. Nun ja, die Geschichte ist bekannt.
In Rückblicken erfahren wir zwischendurch, wie es zum Sturz der Engel kam, sowie von der Erschaffung der Welt mit all ihren Geschöpfen, und dann nach dem Sündenfall der Menschen gibt es in den letzten beiden Gesängen noch eine Vorausschau auf die Zukunft der Menschen, inklusive Sinnflut, Auferstehung Jesu und aktueller Kirchenkritik.
Gegen Dantes "Göttliche Komödie" ist dieses Buch hier ein Spaziergang. Ausser man fängt an, in die Anmerkungen zu schauen. In meiner englischen Ausgabe gibt es zu fast jeder Zeile des Werkes eine Anmerkung. Milton verwendet sehr viele Bilder aus der griechischen und römischen Mythologie und aus der Bibel, dazu viele Wortspiele, die nicht immer übersetzbar sind. Ich konnte der Geschichte aber auch gut folgen, ohne immer alles nachzuschauen. Die Bilder ließen bei mir Kopfkino ablaufen.
Gott und seine Engelsschaar eignen sich ebensogut für so einen Epos wie die griechischen Götter. Mein heimlicher Held ist natürlich Satan, aber es gibt auch noch ein paar andere gutaussehende Engel. Einige abstrakte Begriffe treten auch als Figuren auf, zum Beispiel die Sünde, der Tod, die Nacht. Adam ist rechtschaffen und etwass naiv, aber immerhin nicht total dumm. Einmal fragt er, ob es nicht einfacher wäre, wenn die Erde sich drehen würde, anstatt, dass alle Himmelskörper jede Nacht die weite Reise um die Erde antreten. Ich glaub, die Antwort war: "Es könnte so sein oder so, aber damit solltest Du Dich nicht beschäftigen." Eva ist eine etwas dümmliche Blondine, die zu Adam aufschaut und lieber Blumen pflegen geht, wenn die Männer sich unterhalten.
Während ich mich dunkel erinnern kann, dass die einzelnen Götter in der "Ilias" zwar parteiisch waren, aber insgesamt die Kräfte gleich verteilt waren, ist Gott hier eindeutig auf einer Seite, nämlich auf seiner eigenen, und setzt seinem Sohn den Sieg gleich in Person mit in den Streitwagen. Der arme Satan hat also keine Chance. Allerdings kommt Gott zumindest bei mir nicht gut weg, er erscheint eher als ein kleiner Tyrann, der seine eigene Sandburg zerstört, weil jemand anders gewagt hat, mit seinen Backförmchen zu spielen. Ich glaube aber nicht, dass Milton das so gemeint hatte.
Zur Übersetzung:
Ich liebe diese Übersetzung von Hans Heinrich Meier. Sie ist von 1968 und dann 2006 von ihm noch einmal durchgesehen worden. Sie ist wie das Original in Blankversen geschrieben, aber nicht zeilengetreu (d.h. der Übersetzer braucht im Deutschen mehr Zeilen als Milton auf Englisch). Dadurch, dass der Übersetzer nicht versucht, die gleiche Zeilenzahl einzuhalten, kann er enger am Original übersetzen und braucht auch praktisch keine Wortverkürzungen. Die Passagen, die ich vergleichen habe, waren ziemlich wortgetreu, ausserdem liest sich die Übersetzung ganz toll, fast wie Prosa und trotzdem sehr poetisch. Die Ausgabe enthält ein Nachwort und ein alphabetisch sortiertes Names- und Sachregister. Ich mag eigentlich lieber chronologisch sortierte Anmerkungen, am liebsten noch mit einem kleinen Hinweis im Text, dass es zu einer Stelle eine Anmerkung gibt, ich bin aber auch hier fast immer fündig geworden, wenn ich etwas nachgeschlagen habe.
Als Beispiel eine meiner Lieblingsszenen (Adam fragt Raphael im 8. Gesang, ob Engel sich auch lieben und Raphael sagt: Und wie! :grin)
"Du tadelst nicht, dass ich die Liebe übe,
Denn Liebe, sagst Du, führt zum Himmel hin,
Ist beides, Weg und Weiser; dulde drum,
Daß ich dich mit Verlaub noch etwas frage.
Lieben die Himmelsgeister nicht? Wie drückt
Sich ihre Liebe aus? In Blicken nur?
Tauschen sie Ströme ihres Lichterglanzes,
Der Tugend Kräfte, oder Sinnenreiz?"
Welchem der Engel, lächelnd und erglüht
In Himmelsrosenrot, der Farbe Liebe,
Entgegnete: "Es sei genug, daß du
Uns glücklich weißt und daß nicht außerhalb
Der Liebe Glück besteht. Und was du rein
Als Leib genießest (denn du warest rein
Erschaffen worden), das genießen wir
In höchstem Maße auch und finden nicht
Behinderung durch Haut, Gelenk und Glieder,
Die nur beschränken; leichter, als die Luft
Mit Luft sich mischt, vereinen sich die Geister
Vollkommen, wenn sie sich umfangen, und
Begehren Reines zu dem Reinen nur;
Auch mischen sie sich frei von jedem Zwang,
der Fleisch an Fleisch und Seel an Seele bindet."
Hach, ich liebe das Buch. Meine einzige Sorge ist gerade nur, dass es mein erstes Buch des Jahres ist und ich nicht weiss, ob ich in diesem Jahr noch etwas Schöneres lesen kann.
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