Die Gesänge Mihyârs des Damazeners – Adonis

  • Gedichte 1958-1965


    Ammann Verlag, 205 Seiten


    Aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Stefan Weidner


    Kurzbeschreibung:
    Adonis ist von abendländischer wie von orientalischer Literatur geprägt. Gerade diese Polyphonie ist es, die Lesern verschiedener Herkunft einen Zugang zu seinem Werk ermöglicht. Er bezieht sein großes internationales Renommee nicht zuletzt daher, daß seine Gedichte auch in der Übersetzung Wesentliches von ihrem Reiz bewahren. Mit einer für zeitgenössische Leser schockierenden Offenheit wird den traditionellen islamischen Herrschaftsformen ein Individuum gegenübergestellt, das sich über alle Formen der Gemeinschaft hinwegsetzt. »Die islamische Kultur braucht einen Nietzsche, der ebenso rücksichtslos und rigoros die erstarrten Prinzipien der arabisch-islamischen Kultur zerstört und neue Prinzipien sichtbar macht für eine spirituelle und intellektuelle Renaissance« (Adonis in einem Interview). Unter Berufung auf die Konzeptionen Rimbauds, Mallarmés und der Surrealisten spricht Adonis der Dichtung die Fähigkeit zu, einen essentielleren Zugriff auf das Sein zu haben als die gewöhnliche Sprache.


    Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners vereinigt die frühen Werke des Dichters, die Schwerpunkte bilden die beiden Hauptwerke »Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners« und »Das Buch der Verwandlungen und des Auszugs in die Gefilde des Tages und der Nacht«. Sie bilden den Auftakt zu einer auf vier Bände angelegten Werkausgabe dieses großen Poeten, die sein dichterisches und essayistisches Werk umfassen soll.
    Neue Züricher zeitung: Mit dem Projekt einer vierbändigen deutsch-arabischen Adonis-Edition beweist der Zürcher Ammann-Verlag gleich viel Mut wie literarisches Gespür. Der Lyrikband «Die Gesänge Mihyars des Damaszeners» eröffnet die aussergewöhnlich schön präsentierte Werkausgabe des wohl bedeutendsten arabischen Dichters der Gegenwart; es ist dies nicht das erste Buch Adonis', aber sicher eines seiner wichtigsten. Es erschien 1961 erstmals in Beirut und bedeutete für den jungen Dichter den literarischen Durchbruch. Adonis war gerade erst nach Beirut übergesiedelt. Damals war Beirut die Hauptstadt der arabischen Künstler und Intellektuellen und eine Oase der Meinungsfreiheit im arabischen Raum.


    Über den Autor laut Verlag:
    Adonis, 1930 unter dem Namen Ali Ahmed Said Esber in Syrien geboren. Als junger Poet schickt er seine Gedichte an eine Zeitschrift. Ohne Erfolg. Erst als er ein zuvor abgelehntes Gedicht unter dem Pseudonym Adonis nochmals einreicht, wird es angenommen und veröffentlicht. Und er behält dieses Pseudonym bei. Adonis lebt heute als libanesischer Staatsbürger in Beirut und Paris. Mit Joseph Brodsky, Derek Walcott und Seamus Heaney gehört er zu den großen Dichtern unserer Zeit.


    Buchvorstellung und Eindruck:
    Dies ist der erste Teil der auf vier Bände angelegten Werkausgabe des syrischen Dichters Adonis.
    Den zweiten Band habe ich hier rezensiert: Ein Grab für New York – Adonis


    Alle Gedichte des Bandes sind in arabischer Sprache und in deutscher Übersetzung enthalten.


    Die Gedichte des Titelgedichts, das ca. 90 Seiten umfasst, beginnen mit prosaartigen Psalmen.


    Psalm:
    „Er naht wehrlos wie ein Wald, und wie die Wolken wird er nicht zurückgetrieben. Gestern trug er einen Kontinent und rückte das Meer von der Stelle.


    Er zeichnet den Nacken des Tages, erschafft einen Tag aus seinen Füßen und borgt sich die Schuhe der Nacht, dann wartet er auf etwas, das nicht kommt. Er ist die Physik der Dinge - er kennt sie und nennt sie mit Namen, die er nicht verrät. Er ist die Wirklichkeit und ihr Gegenteil, er ist das Leben und alles, was es nicht ist.


    Wo der Stein zu einem See wird und der Schatten zu einer Stadt, da lebt er - lebt und führt die Verzweiflung in die Irre, auswischend die Weite der Hoffnung, dem Boden vortanzend, damit er gähnt, und den Bäumen, damit sie schlafen.


    Und da verkündet er die Kreuzung der Extreme und ritzt auf die Stirn unseres Zeitalters das Zeichen der Magie.“


    Nach diesem ersten Psalm wird mit „Kein Stern“ die Hauptfigur definiert.


    „Kein Stern ist er, keine Offenbarung eines Propheten
    Kein Antlitz, sich dem Mond ergebend“


    Myhär ist eine Art Zarathustra von Nietzsche und auch ein Alter Ego des Dichter.


    „Ich bin ein Prophet und Zweifler“
    „Ich bin ein Argument gegen das Zeitalter.“
    (Seite 22)



    Ganz zentral ist die Freiheit des Individuums.
    Adonis Kunstfigur wohnt eine eigene Art von Religiosität inne:


    „Ein Gott ist gestorben …
    … Entsteigt vielleicht meinen Tiefen ein Gott.“
    (Seite 25)
    „- Ich wähle weder Satan noch Gott
    Beide sind eine Mauer
    Beide verschließen mir die Augen –„
    (Seite 27)


    „Ich bin Sprache für einen kommenden Gott“ (Seite 31)


    Myhär ist eine schwer fassbare Figur.


    Um zu zeigen, worüber wir hier sprechen, hier das Kapitel „König Myhär“ von Seite 10, in dem die Hauptfigur weiter entworfen wird:


    Ein König ist Mihyar
    Ein König, und der Traum ist ihm ein Schloss
    und Gärten aus Feuer.
    Eine Stimme, die starb
    Klagte heute über ihn bei den Worten.
    Ein König ist Mihyar
    Er lebt in des Windes Reich Und herrscht in der Geheimnisse Land.


    Das Ganze wird noch geheimnisvoller. Zum Beispiel hier ein Kapitel von Seite 30:


    Gegenwart


    Ich öffne eine Tür auf die Erde
    Entfache das Feuer der Gegenwart
    In den Wolken, die sich spiegeln und folgen
    Im Ozean und seinen verliebten Wellen
    In den Bergen und ihren Wäldern, in den Felsen
    Den schwangeren Nächten eine Heimat erschaffe ich
    Aus der Asche von Wurzeln
    Aus den Äckern der Lieder, aus Donner und Blitz
    Die Mumien der Zeiten verbrennend.


    Die Schwierigkeit des kompletten Textes, der überwiegend in free-verse-form gehalten ist, ergibt sich aus dem großen Kontext, der dahinter steckt.
    Der Spreizschritt zwischen traditioneller arabischer Dichtung und der Moderne, die Adonis erschließt.


    Die vielen Einflüsse, neben arabischen auch europäische, vor allem sogar Deutsche wie Novalis und Hölderlin.
    Die Mythen der Odyssee sind ebenfalls eingeflossen.


    Durch das Zusammenspiel aller dieser Einflüsse hat der nicht vorbelastete Leser erst einmal das Problem der fehlenden Vorkenntnisse, die man durch googel, Nachwort und Kommentare versucht notdürftig zu schließen. Aber das ist eine Aufgabe ohne Ende. Daraus ergibt sich wiederum auch ein Reiz des Gedichtbands. Es gibt so vieles zu entdecken.
    Außerdem muss es dem Leser gelingen die Schönheit der Sprache in den einzelnen Sätzen und den Motiven zu finden, die voller Reichtum stecken.


    Hinzu kommen die experimentellen Techniken, die Adonis einsetzt.


    Neben dem mächtigen und umfassenden titelgebenden Hauptwerk „Die Gesänge Myhärs des Damaszeners“ von 1961 sind noch kürzere Gedichte dem Buch beigefügt:
    - Zwei Totenklagen
    - Das Buch der Verwandlungen und des Auszugs in die Gefilde des Tages und der Nacht
    - Die Tage des Falken
    - Das Kapitel der Bäume
    - Die Verwandlungen der Liebenden


    Teilweise sind diese „Zugaben“ gekürzt, um nicht den Rahmen zu sprengen.


    Insbesondere für Das Buch der Verwandlungen verwendet Stefan Weidner treffend den Begriff Surrealismus. Ein Verstehen der Bedeutung ist eigentlich nicht möglich.
    Dafür besitzen die Sätze den Reichtum eines syrischen Dalis.
    Die Schönheit der Sätze in „Die Blume der Alchemie“ ist grenzenlos. Ein grandioser Text!


    Ein Buch, in dem die Sprache selbst im Mittelpunkt steht.
    Ein fantastisches Buch!


    [SIZE=7]Edit: einen Schreibfehler entfernt[/SIZE]

  • Die Gesänge Mihyârs des Damazeners:


    Ein Highlight des Buches war mich der einzig übersetzte Teil aus dem Falkenzyklus, den ich deshalb hier separat vorstelle:


    Die Tage des Falken – Adonis


    Dieses Langgedicht schrieb Adonis 1962. Es ist sehr positiv gehalten, obwohl der Bruder des Protagonisten, wie im vorgestellten Prosatext „Der Falke“ beschrieben vom Feind getötet wurde, während es ihm noch gelang zu entkommen.


    Die Tage des Falken beschreibt die Zeit, als Abd ar-Rahmân der Erste aus Damaskus nach Andalusien floh und dort 756 nach Christus die Umayyaden-Dynastie gründete.


    Um dahin zu gelangen waren Wechsel der Zeiten notwendig:
    „Stimme, wechsle den Klang
    Ich höre das Rauschen des Euphrat.“


    Abd ar-Rahmân besiegt den Feind, der ihn den Falken der Khoraish nannte.
    „Nichts bleibt von den Koraish
    Als das Blut, das wie ein Speer hervorschießt
    Nichts als die Wunde bleibt“


    Er wird der König, der das Land zum Blühen bringt.
    „Ich weiß, den Sand zu verwunden
    Und eine Palme in seine Wunde zu pflanzen“


    Daraus erwächst das große Cordoba.
    „Perle, die von Damaskius strahlt“
    Cordoba, die reiche Kalifenstadt.


    Die Künste, wie z.B. auch die Poesie erreichte dort eine nie gekannte Größe. Auch die Lebensqualität und die Toleranz wurde sehr groß.
    So wünscht der Protagonist dieses Gedichts, er wäre ein Dichter. Die Figur löst sich somit von der historisch belegten Vorlage und wird zu einer modernen Figur, die aus Büchern und Lyrik schöpft.




    Abgeschlossen wird dieses monumentale Gedichtband Die Gesänge Mihyârs des Damazeners durch ein Nachwort und Kommentaren zu den Gedichten sowie eine Adonis-Zeittafel.