OT: Last Exit to Brooklyn 1964
Last Exit to Brooklyn ist eine Zusammenstellung von fünf Erzählungen, zwei kurze, zwei mittellange und eine lange von über einhundert Seiten, sowie einem abschließenden Ende aus 45 kurzen Prosastücken, in denen Personen, Themen und Einzelmotive der vorhergegangen Erzählungen noch einmal aufgenommen werden. Das Ganze ist eine Komposition der Hölle, auf Erden, bildlich, sprachlich, musikalisch, eine Schau auf Grauen und Leid, das sich Menschen zufügen. Weil sie Menschen sind oder weil sie keine sind, ist eine der Fragen, die der Autor stellt, indirekt in den Texten und direkt mit der Auswahl der Bibelzitate, die er jeder Geschichte voranstellt.
Handlungsort ist ein heruntergekommener Teil Brooklyns zwischen Hafen, Kasernen, Fabriken und Wohnsilos, die auftretenden Personen sind Trinker und Huren, Schläger, Arbeitslose, Transvestiten. Es sind Menschen, bei denen es schon hoch gegriffen wäre zu sagen, daß sie keine Orientierung oder keine Zukunftsperspektive haben, weil sie nicht einmal ein Leben haben. Ihr Dasein spielt sich ab von einer Schlägerei zur nächsten Flasche, zur nächsten Kopulation (man kann es nicht anders nennen, selbst Sex wäre schon zu romantisch), zum nächsten Saufgelage zur nächsten Schlägerei.
Das Grauen hält an von Selbys erstem bis zu seinem letzten Satz, daß die Lektüre dennoch fesselnd ist, hat seinen Grund darin, daß es dem Autor gelingt, seine Personen vor dem Hintergrund des immer gleichen und unabänderlichen Elends lebendig werden zu lassen.
In der ersten Geschichte Another Day, another Dollar tritt eine kleine Gruppe jugendlicher Schläger auf, die in der Bar ‚The Greeks’, die auch in den anderen Geschichten ein zentraler Ort ist, herumhängen. Sie wissen nichts mit sich anzufangen, ihre Energie erschöpft sich im Trinken und großen Sprüchen. Reagieren sie, so reagieren sie mit Gewalt, wenn kein Gegner in Sicht ist, prügeln sie sich untereinander, aus Spiel kann auch mal Ernst werden. An dem Abend, den Selby schildert, kommt es zu einer wüsten Schlägerei mit drei Soldaten, deren Details minutiös beschrieben werden.
Die zweite Geschichte The Queen Is Dead, eine der bekanntesten Geschichten Selbys überhaupt, handelt von Georgette, einem Transsexuellen. Sie verfügt über einige Bildungssplitter, aus denen sie sich eine romantische Traumwelt zusammengezimmert hat. Held ihrer Traumwelt ist Vinnie, einer der Schläger aus der ersten Geschichte. Sie liebt ihn, er bemerkt sie kaum, für ihn ist sie ein durchgeknallter Homo. Das Ende ist erwartungsgemäß schrecklich, am schrecklichsten jedoch ist es, daß Georgette ihre Selbsttäuschung fast bis zum letzten Atemzug durchhält. Das letzte Wort der Geschichte lautet ‚Shit.’ Bilanz eines Lebens.
Fast harmlos nach diesen Schrecken dann die kurze Erzählung And Baby Makes Three, die Geschichte einer Hochzeit, die nur zustande kommt, weil das sehr jungen Paar eben ein Kind bekommen hat, weil man eben irgendwann heiratet, weil der Brautvater eben ein Fest mit viel Bier spendiert und weil man sowieso nichts Besseres zu tun hat. Ebenso gleichgültig fährt der Bräutigam am Abend mit einer anderen Frau davon, während seine frischgebackene Ehefrau mit dem Säugling nach Hause geht, froh, einmal früh ins Bett zu kommen.
Tralala, Titel der vierten Geschichte, ist zugleich der Name der Protagonistin. Selby beschreibt eingehend ihr Abrutschen in die Prostitution. Zu Beginn der Erzählung gerade fünfzehn, endet, genauer gesagt, verendet sie mit knapp achtzehn nach einer Massenvergewaltigung auf einem Müllhaufen.
Strike, die fünfte Erzählung, ist wegen ihrer Komplexität schon fast ein eigenständiger Roman. Es gibt auch zwei Protagonisten, der eine ist Harry Black, Metallarbeiter und Gewerkschaftler, der andere der Streik des Titels, den die Gewerkschaft führt, und den Harry an vorderer Stelle mitorganisiert. Harrys Geschichte ist auf den ersten Blick die eines kleingeistigen machtbesessenen Ekels, bis man dahinter kommt, daß sein eigentliches Problem seine latente Homosexualität ist. Harry, nahezu sprachlos, wie alle Personen in diesen Geschichten, gefühlsverarmt, unfähig, weiter zu denken als bis zum nächsten Tag, ist Täter und Opfer zugleich. Seine Geschichte ist eine meisterhafte Mischung aus dem Wirken unausweichlicher und unabänderlicher Gesetzmäßigkeiten, also klassisch tragisch, und der Passionsgeschichte. Die entsetzliche Schlußszene enthält Elemente der Kreuzigung, bis hin zum Ruf nach einem Gott, der ungehört verhallt.
Der sechste und letzte Teil, mit dem Titel Landsend, wurde von Selby mit ‚Coda überschrieben. In kurzen Schlaglichtern werden die Bewohner eines Blocks mit Sozialwohnungen vorgeführt. Es gibt Familienszenen, Gemeinschaftsauftritte und Szenen der Einsamkeit, innen, außen, Erwachsene, Kinder. Es ist eine Art musikalischer Komposition in Worten. Ging es bislang um Gefühle und Vorstellungen im Innern der Figuren, hört man sie hier nun schreien, im Fall von Mary und Vinnie sogar bildlich, ihre Dialoge sind durchgängig in Großbuchstaben gedruckt.
Ein ‚Frauenchor’, eine Gruppe von Hausfrauen auf einer Bank am verdreckten Spielplatz, beschwört und verstärkt die Häßlichkeit des Szenarios wie ein griechischer Chor. Sind es die Erynnien oder Geister jener alten Frauen, die es sich während des Terreurs der Revolutionszeit in Frankreich angeblich am Rand des Schafotts bequem gemacht haben und auf das Bösartigste jeden Kopf kommentierten, der rollte?
Dazwischen gibt es Anschläge vom Schwarzen Brett, die darüber informieren, wie viele Zwangsräumungen es im letzten Monat gab oder daß ein toter Säugling in der Verbrennungsanlage gefunden wurde.
„Wir möchten, daß dieser Wohnblock sicher ist für jeden. Es liegt an Ihnen, dazu beizutragen.“
Namen aus den vorgehenden Geschichten tauchen wieder auf, allerdings in anderen Zusammenhängen. Ist der Vinnie, der sich hier Schreiduelle mit seiner Frau liefert, der Vinnie, den Georgette liebte? Ist die Lucy, die sich von Abraham abschleppen läßt, die gleiche Lucy, die nur aus diesem Block fortwill? Wer ist die namenlose Mutter, deren Kleinkind fast aus dem Fenster fällt, weil sie es allein aus der Wohnung gelassen hat?
Die Personen verschwimmen, das Leid und Elend des und der einzelnen wird zum Leid der Menschen an sich.
Geschildert wird mitleidlos, distanziert. Zugleich ist die Distanz aufgehoben durch die durchgängige Verwendung von Slang. Man erfährt alles aus dem Mund bzw. den Gedanken der Figuren. Sie verfügen über ein sehr kleines Vokabular, schimpfen und fluchen ist die einzige Art, mit der sie auf Reize reagieren können, wenn sie nicht einfach nur lachen. Alles ist entweder zum Totlachen oder zum Totschlagen. Es gibt keine Mitte, so, wie es auch kein Maß gibt.
Streckenweise ist die Lektüre nur noch schwer erträglich, die Schilderungen sind direkt, roh, die Brutalität, körperlich wie seelisch, wird zum Äußersten getrieben. Deutlich werden aber auch die Hilflosigkeit, die seltsame Langeweile, die Antriebslosigkeit, die sich wie Mehltau über alles legen. Opfer des Verfalls ist auch die Sprache, Verstöße gegen Grammatik, Orthographie und Interpunktion sind die Regel. Der Text ist fortlaufend, auch Dialoge sind als solche gekennzeichnet, es ist nicht immer leicht zu entscheiden, wann und ob ein Sprecherwechsel stattgefunden hat.
Dieses äußerst komplizierte stilistische Mittel setzt Selby souverän ein. Als Leserin kämpft man auf allen Ebenen, es gibt kaum Ruhepunkte, man wird mitgerissen in diesen Orkus, Stumpfsinn und Gewalttätigkeit schließen eine ein. Man ist dem Toben ausgesetzt.
Sehr fordernde Lektüre, hart, ein Erlebnis.
edit: Wort ausgebessert