Die ‚Schule der Arbeitslosen’ heißt Sphericon. Sie steht in einem ehemaligen Industriegebiet, am Rand einer namenlosen Stadt irgendwo in Deutschland. Sphericon ist eine ‚Wohnschule für arbeitslose Erwachsene’. Gefördert wird das Projekt vom der Bundesagentur, die die ‚Schüler’, von da an ‚Trainees’ genannt, dorthin bringt. Was die Trainees erwartet? ‚Eine Chance ... eine Hoffnung.’ Eine ‚Weiterbildung’ für drei Monate, von da an Trimester genannt. Eine Zeit voller Herausforderungen und Neuorientierungen. Das machen das Hochglanzprospekt der Schule und die Angestellten der Bundesagentur den Arbeitslosen deutlich. Das Ergebnis? Die Trainees werden ‚stabilisiert, flexibilisiert, euphorisiert’ aus dem Kurs hervorgehen.
Natürlich ist der Schulbesuch völlig freiwillig, ‚aus eigener Einsicht’.
Zur Reise und zum dreimonatigen Aufenthalt braucht man nicht mehr als den Inhalt einer Reisetasche oder eines kleinen Koffers. Die Bundesagentur berät. Dunkle Kleidung ist erwünscht, einer Schuluniform ähnlich. Die Fahrt beginnt vor dem Arbeitsamt, unterwegs gibt es Lunchpakete und Informationsmaterial, fast wie bei einer Kaffeefahrt oder einem Betriebsausflug. An einer Raststätte verschwinden zwei Teilnehmer. Warum? Wohin? Das ist nicht wichtig. Von Bedeutung ist nur, daß sie damit jeden Anspruch an die Bundesagentur aufgegeben haben. ‚Ab jetzt stehen sie außerhalb jedweder Obhut.’ Sie können vergessen werden.
Die Schule, das ‚Trainingslager’ überrascht mit völlig neuen Konzepten. Die Unterrichtssprache ist deutsch und englisch, am liebsten wird ein Deutsch mit ‚variablen Anteilen des Englischen’ gesehen. Männer und Frauen schlafen im gleichen Raum, die Geschlechter sind nur durch die Schließfächer getrennt. Modernste Konzepte der Koedukation. Toiletten und Duschen liegen auf der anderen Seite des Gangs. Essen gibt es nur aus Automaten, vornehmlich Suppen, Landjäger, hartgekochte Eier, Schokoriegel. Bedient werden die Automaten mit sog. Bonus Coins. Diese wiederum werden entsprechend der Leistung, die ein Trainee zeigt, ausgeteilt. Es gibt keine Strafen in Sphericon, aber zu den Grundprinzipien der Schule gehört es, daß die Trainees Leistung zeigen. Leistung ist wichtig, Leistung wird belohnt. Das Bewertungssystem allerdings bleibt undurchsichtig.
Die Leistung besteht in der aktiven Suche eines Arbeitsplatzes. Aktiv heißt: rund um die Uhr mit dieser Aufgabe beschäftigt sein. Dazu gehört, zu erkennen, was man falsch gemacht hat, die Vergangenheit ablegen, neu werden. Mit dem bestehenden Lebenslauf hat man keine Arbeit gefunden, also muß ein Lebenslauf ‚erarbeitet’ werden, mit dem man eine Stelle finden wird. Was bislang richtig war, hat sich als falsch erwiesen, die Arbeitslosigkeit ist der Beweis. Also wird aus richtig falsch gemacht, damit es richtig wird. Lebensläufe sind Fiktion, die nur einem Ziel gelten, eine Stelle zu finden. Alles ist erlaubt, geschrieben, animiert, gefilmt, gesungen, jede Tat und Untat. ‚Ich will eine Kampfsportart sehen. Hier unten will ich einen Kampfsport sehen’, verlangt ein Trainer und er bekommt sie.
Lebensläufe werden ebenso schnell gebastelt, wie sie wieder verworfen werden. Welches ist das ideale Leben, das einer eben die eine Stelle einbringt? Das Individuum hat keine Bedeutung mehr, von Bedeutung ist nur die Arbeitstelle, für die man sich zurechtschneidert.
Die Schule hilft, bis zum Äußersten zu gehen. Tag und Nacht wird man nach der Motivation und dem Fortschritt der Arbeit an sich selbst, sprich am Lebenslauf, befragt. Tritt man auch nachts um drei noch überzeugend bei einem simulierten Vorstellungsgespräch auf? Ist man endlich neu genug für den Erfolg?
Arbeit, Arbeit, es geht um Arbeit. Nichts sonst zählt. Im Fernsehen läuft die Serie ‚Job Quest’, später die zweite wichtige Serie ‚Job Attack’. Gespielt wird ‚Job Quest’ auf dem Tisch oder am PC, gelesen wird das Buch ‚Job Quest’, wichtige Szenen schallen per Lautsprecher durch die Schulkorridore. An den Wochenenden wird die Aufnahme sexueller Kontakte gefördert, wer sich promiskuitiv zeigt, gleich, mit wem, gilt als flexibel und damit bereit für Arbeit jedweder Art. Arbeit, Arbeit. Freedom ist Work. Work is Freedom.
Es gibt sogar einen Arbeitstheologen. Gibt es Arbeit nach dem Tod? Kann ein Jenseits ohne Arbeit überhaupt ein Paradies sein?
Der größte Kampf steht den Trainees aber erst bevor. Bei einem Besuchs des zuständigen Regionalleiters der Bundesagentur wird bekanntgegeben, daß an der Schule eine Stelle für einen weiteren Trainer geschaffen wurde. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer dürfen sich bewerben. Sollen sich bewerben. Müssen sich bewerben.
Diese Dystopie, die in Deutschland in nächster Zukunft angesiedelt ist, ist ein einfacher Bericht. Der Ton ist sachlich, kühl. Einige wenige Personen sind hervorgehoben, um bestimmte Entwicklungen zu verdeutlichen, aber sie gelangen nie ganz in den Rang von Identifikationsfiguren. Dem Autor geht es um die Gruppe, die Masse, die ‚Patients’ oder ‚Clients’, die als Arbeitslose keine Individualität mehr besitzen. Der Umgangston, eine Mischung aus mütterlich-besorgt, herablassend und gottgleich-autoritär, der die Arbeitslosen zu seltsamen Wesen zwischen unmündigen Kindern, halbmitschuldigen Opfern und echten Versagern macht, ist genauestens getroffen.
Ebenso authentisch klingt die Sprache aus deutsch und englisch, eine Mixtur aus positivem Denken, platten Weisheiten, vermeintlich objektiver Wissenschaftssprache und versteckten Drohungen, der man sich nur schwer entziehen kann. Das Grauen wächst langsam, Anklänge an Diktaturen bis hin zu Faschismen sind bewußt eingesetzt. Die Geschichte wird immer kälter. Es gibt keinen Humor, es gibt nur eine kühl sezierende Ironie und emotionslos protokollierten Zynismus.
Es gibt auch im Verlauf der kargen Handlung keine Hoffnung, kaum Widerstand, keinen Aufstand. Einmal wird berichtet, daß außerhalb Sphericons von Arbeitslosen Tankstellen angezündet wurden. Wahrheit oder Lüge? Beginn einer Veränderung oder nur eine Angstvision derer, die ihre Arbeit verteidigen müssen? Wo ist die Wirklichkeit?
Die Entwicklungen des modernen Wirtschaftslebens, das Massenarbeitslosigkeit bewußt einkalkuliert, sind in diesem Roman ebenso konsequent zu Ende gedacht wie Fehlentwicklungen der gesamten Arbeitsorganisation der westlichen Gesellschaften. Das Beängstigende daran ist, daß der Autor nur um Haaresbreite von der Realität entfernt ist. Man ist beim Lesen oft in der Gefahr, einem Trainer, dem Schulleiter oder dem Psychologen recht zu geben in ihren Einschätzungen ihrer Trainees wie dem Arbeitsleben. So verführerisch sind die Parolen, so vertraut sind sie schon aus den heutigen Medien, so fest sind sie schon in den Köpfen verankert. Arbeit ist nicht mehr nur das Goldene Kalb, Arbeit ist längst Gott-du-sollst-nichts-neben-ihm-haben, vor allem nicht den Menschen.
Das Ende ist dementsprechend erschreckend, eisig. Das Trimester ist vorbei, die Trainees werden von den Bussen der Arbeitsagentur wieder abgeholt. ‚Deutschland bewegt sich’ steht auf den Bussen, neben dem roten A. Doch die Trainees werden nicht nach Haus gebracht, die Reise geht weiter. Niemand ist je zurückgekehrt.
Der Stoff, aus dem der Horror gemacht ist.