Schreibwettbewerb Januar 2009 - Thema: "Krise"

  • Thema Januar 2009:


    "Krise"


    Vom 01. bis 20. Januar 2009 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Januar 2009 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von churchill



    „Du, Liebling?“
    „Ja, mein Schatz?“
    „Du hast mich doch lieb, oder?“
    „Natürlich. Das weißt du doch.“
    „Sag mal, du hast doch letztens gesagt, dass wir eigentlich ein neues Auto brauchen könnten ...“
    „Habe ich das?“
    „Ja, das hast du gesagt. Und wir bräuchten doch eigentlich wirklich eins“
    „Schon ...“
    „Aber?“
    „Wir bräuchten auch einen neuen Fernseher. Einen DVD-Recorder. Und ein Notebook. Dann wäre da noch die Kreuzfahrt und das Haus. Könnten wir auch brauchen ...“
    „Schatz, du nimmst mich nicht ernst. Hast du heute nicht die Nachrichten gehört?“
    „Doch. Selbstverständlich nehme ich dich ernst.“
    „Nimmst du nicht“
    „Nehme ich doch. Sehr sogar.“
    „Wirklich?“
    „Wirklich.“
    „Und wie lautet deine Antwort?“
    „Nein.“


    „Liebling?“
    „Ja?“
    „Ich habe dich doch gefragt, ob du die Nachrichten gehört hast.“
    „Habe ich.“
    „Da haben die gesagt, dass wir jetzt 2500 Euro kriegen, wenn wir ein neues Auto kaufen. Und die Krankenkasse wird billiger. Und für jedes Kind kriegen wir noch 100 Euro extra.“
    „Kriegen wir nicht.“
    „Doch, das hat die Koalition beschlossen!“
    „Kriegen wir trotzdem nicht.“
    „Wieso nicht?“
    „Wir haben keine Kinder.“
    „Aber theoretisch kriegen wir das.“
    „Es bringt uns aber praktisch nichts.“
    „Aber 2500 Euro für ein neues Auto bringen uns was. Das siehst du doch ein, oder?“
    „Nein.“


    „Du ...“
    „- - -“
    „Du, ich rede mit dir.“
    „Leider.“
    „Was hast du gesagt???“
    „Ich sagte: Leider habe ich das gerade nicht gehört“
    „Hast du wohl! Ganz genau hast du mich gehört. Also gut, wir haben keine Kinder. Aber wir können doch auf die unglaubliche Chance nicht verzichten, für ein neues Auto 2500 Euro geschenkt zu bekommen!“
    „Doch.“
    „Du, ich habe da einen ganz süßen Wagen gesehen, der würde supergut zu mir passen. Und dann noch die 2500 Euro.“
    „Nein!“
    „Warum denn nicht?“
    „Die 2500 Euro bekommt nur der, der ein mehr als 10 Jahre altes Auto abwrackt.“
    „Der was?“
    „Abwrackt.“
    „Was?“
    „Dich.“

    „Hab ich das jetzt richtig gehört?“
    „Kaum.“
    „Bitte???“
    „Kaum möglich, dass du die Abwrackprämie bekommst. Zumindest nicht für dein Auto. Das ist nämlich noch keine 10 Jahre. Im Gegensatz zu ...“
    „Zu ...?“
    „Zu bedenken ist, dass die ganzen Maßnahmen auf uns nicht zutreffen. Also vergiss es.“


    „Ich kann das nicht vergessen. Wir können doch unsere Wirtschaft nicht verkommen lassen. Vor allem nicht die Autoindustrie. Wenn wir jetzt alle ein neues Auto kaufen, dann ist unser Land gerettet. Das hat die Kanzlerin gesagt.“
    „Wir kaufen aber kein neues Auto.“
    „Zu spät.“
    „- - -“
    „Hörst du?“
    „- - -“
    „Ich sagte: Zu spät!“
    „Das heißt?“
    „Ich hab das Auto schon gekauft. Das mit der Prämie haben die mir da nicht so genau erklärt wie du. Die haben gesagt, es wäre genau richtig, dass ich gerade heute ein Auto kaufe. Weil es die Kanzlerin gesagt hat. Und der Außenminister. Und weil es auch der bayrische Ministerpräsident gesagt hat, habe ich extra ein bayrisches Auto ... Du ... Liebling ... Was ist denn? ... Wohin ...?“
    „- - -“
    „Gehst du???“
    „Ja.“
    „Wohin?“
    „Wirtschaft. Unterstützen. Praktisch. Nachhaltig. Für immer.“

  • von Loewin



    Es ist so weit. Ich atme tief durch und trete mit einem flauen Gefühl in der Magengrube an den Bühnenrand. Noch bin ich vom schwarzen Vorhang verdeckt. Auf der Bühne diskutieren die eifersüchtige Ehefrau und ihre Haushälterin darüber, wie sie den Ehemann in flagranti erwischen können. Ich wage einen Blick in das Meer der Köpfe. Ausdruckslose, gelangweilte Gesichter starren auf das Geschehen ohne ihm wirklich zu folgen. Schnell wendet sich mein Blick zurück zu meinen Kollegen.
    „… und vergiss die Pralinen nicht!“ – Mein Stichwort. Mit trockenem Mund stürze ich übereilig auf die Bühne. „Melanie, die Katze hat wieder mal ihr Futter nicht drin behalten“, krächze ich. Mein Text hört sich aufgesetzt und vollkommen sinnlos an. Atemlose Stille. Warum geht es nicht weiter? Ich schaue auf und stelle fest, dass die beiden Frauen mich entsetzt anstarren. Siedend heiß läuft es mir den Rücken herunter während mein Herz plötzlich direkt in meiner Kehle zu schlagen scheint. Den Text hätte ich erst in meiner nächsten Szene sagen sollen. Ich stolpere einen Schritt auf „Melanie“ zu und stottere, „Äh, ich meine natürlich, Schokolade – Pralinen – äh, da habt ihr gerade von gesprochen. Die mag ich gerne…“ Hilflos, mit vor Scham brennendem Gesicht, werde ich immer leise und verstumme schließlich ganz. „Melanie“ wirft mir einen hasserfüllten Blick zu und stürmt von der Bühne ohne ihren Text zu beenden. Die „Haushälterin“ tritt nah an mich heran und zischt aus dem Mundwinkel „Toll!“ Erschrocken weiche ich zwei Schritte zurück - und trete ins Leere.
    Ich falle eine endlos lange Sekunde. Ehe ich aufschlage, erwache ich. Ich sitze stocksteif in meinem Bett.
    Endlich überkommt mich ein Gefühl der Erleichterung und ein abergläubisches Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Da war er, der obligatorische Alptraum vor der Premiere. Jetzt kann nichts mehr schief gehen.

  • von Bücherelfin



    Angie öffnete die schwere Schultüre und trat hinaus. Erleichtert atmete sie auf. Heute war ihr letzter Schultag gewesen und sie fühlte sich leicht, während sie die Straße entlangging. Befreit.
    An der Bushaltestelle standen ein paar der Jüngeren und gafften sie unverfroren an. Als hätten sie noch nie ihren zur Hälfte rasierten Schädel gesehen, als hätten sie noch nie das dreireihige Nietenband um ihren Hals gesehen, noch nie ihre Löcher in den Hosen, die schweren Schnürstiefel, ihre tiefschwarz geschminkten Augen.


    - Als hätten sie Angie noch nie gesehen.
    Wahrscheinlich hatten sie das auch wirklich nicht.
    Angie gesehen, meine ich.


    Auf ihrem Weg zur S-Bahnstation merkte sie, wie aus ihrem Bauch das kribbelnde Gefühl hochstieg, welches sie immer befiel, wenn sie aufgeregt oder nervös war. Dabei war sie das gar nicht, aufgeregt oder nervös. Ihr Entschluss stand fest und sie fühlte sich sicher. Nie wieder würde sie…


    - Angie ging Richtung Bahnhof und ich folgte ihr. Heute würde ich sie ansprechen, ich würde es tun, es endlich schaffen, mein bisschen Mut zusammen zu klauben, und alles so aussehen lassen, als wäre es keine große Sache. Angie anzusprechen.
    Die unnahbare Angie, die dark lady, deren Augen manchmal voller Tränen sind, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Aber ich sehe sie trotzdem, ich sehe Angie.


    Während sie mit der Rolltreppe hoch zum Bahnsteig fuhr, musste sie plötzlich an ihre Mutter denken und ihr Bauch krampfte sich trotz ihres Entschlusses kurz zusammen.
    „Angela!?
    Mein Gott, wie siehst du bloß wieder aus?! Musst du denn immer so heruntergekommen herumlaufen? Und immer so schwarz? Du siehst aus wie der Tod! Die Leute reden schon… dabei warst du doch immer so…
    Ach übrigens, heute Abend bin ich nicht da, du weißt schon, bei Rosi ist doch um sechs wieder Tupperparty. Aber Papi ist ja zu Hause.“
    „Mach dir keine Gedanken, Schatz, wir werden uns einen netten Abend machen, stimmt´s mein kleines schwarzes Engelchen?!“
    Du Wichser. Papi.
    Piss off!


    - Ich stand mittlerweile nur wenige Meter von ihr entfernt. Gleich, gleich würde ich es tun… Kann mir doch egal sein, was die anderen denken werden. Ich mag Angie einfach. Punkt. Gleich…


    Sie stellte ihren Schulrucksack auf der Wartebank ab und kontrollierte noch einmal, dass der Brief auch wirklich gut sichtbar vorne steckte.
    „Meine liebe Marie, geliebte, gute, große Schwester…“
    Noch eine Minute, bis die S-Bahn einfahren würde. In ihrem Bauch kribbelte es immer stärker und sie hielt kurz die Luft an. Ein Rauschen in ihren Ohren. Kühl war es heute, sie fröstelte und wickelte sich enger in ihren weiten, schwarzen Mantel. Sie nestelte am Discman in ihrer Tasche, steckte sich die Ohrhörer in die Ohren, drückte vor bis Nummer 4 und dann auf Pause.
    In der Ferne konnte sie bereits die S-Bahn sehen und trat näher ans Gleis.


    - Im Nachhinein weiß ich nicht, ob sie mich aufgrund des einfahrenden Zuges nicht gehört hat oder… vielleicht hat sie so und so nichts mehr gehört. Ich weiß nicht…
    „Angie, ich wollte…“


    Play
    „Engel fliegen einsam“ – Christina Stürmer

  • von Luc



    Jack ging das eigentlich zu weit, nach Feierabend noch eine unbezahlte Zusatzschicht einzulegen. Aber sein Chef bestand darauf. Das Geld wurde knapp und knapper. Und er hatte ja Recht: Besser sie sparten bei den Einkäufen, als bei der Mitarbeiteranzahl oder dem Gehalt. Neulich hatte Jack den Direktor sogar vereinsamt in einem simplen Mercedes gesehen, wo er früher mit dem Porsche vor das Glashaus gefahren kam und sich von einer Pornoblondine den Oberschenkel streicheln ließ. Die Lage war also ernst. Auch weil die Sponsoren nicht einfach absprangen, sondern vom Fenstersims der New Yorker Börse in die Tiefe stürzten.


    Natürlich benutzten sie auch tote Zebras und Wasserbüffel. Aber diese Tiere hatten niemals genügt. Der Direktor kaufte jeden Monat zu. Es war bereits das dritte Mal in diesem Monat, dass Jack und Jimmy ausrückten, die Kosten drücken. Jimmy fuhr seinen VW-Bus. Der Chef hatte ihnen untersagt, ein Fahrzeug aus dem unternehmenseigenen Fuhrpark zu nutzen. In der Dunkelheit kamen sie am Park an. Jack packte das Werkzeug aus - jedes Mal benutzen sie anderes. Wieviel selbstbezahlte Hämmer hatten sie inzwischen in den Fluss entsorgt? Sie liefen durch den beleuchteten Park und sahen einen Penner auf einer Bank liegen. Jack erhob den Hammer. Der Mann schrak auf.
    „Jack?“, fragte der Kerl.
    „Der kennt dich“, meinte Jimmy erstaunt.
    „Haben sie dich auch rausgeschmissen?“, fragte der Mann und Jack erkannte Bill, den ehemaligen Chef der Werbeabteilung.
    „Du?“, fragte Jack.
    „Willst du mich umbringen?“, fragte Bill.
    „Ich muss“, antwortete Jack.
    „Warum?“
    „Der Job! Außerdem habe ich Schulden. Mein Auto ist geleast. Ich muss mein Haus abbezahlen und die nächste Scheidung steht an“, erklärte Jack.
    „Das kannst du doch nicht machen“, flehte Bill.
    „Wieso nicht?“ entgegnete Jack.
    „Das wäre Mord“, stellte Bill fest. Jack senkte leicht den Hammer.
    „Na und?“, fragte er.
    „Du kommst in den Knast“, sagte Bill.
    „Quatsch, Bush ist nicht für den Irakkrieg ins Gefängnis gewandert. Kein Banker hat je eine Strafvollzugsanstalt von Innen gesehen. Warum sollte ich in den Knast wandern?“, erwiderte Jack sarkastisch und schlug Bill tot.

    In dieser Nacht waren es drei Leichen, die sie abtransportierten. Niemand scherte sich um die Penner im Park. Gemeinsam fuhren sie zum Zoo und luden ihre Opfer aus. Vor dem Affenhaus stand ein Ferrari, eine Pornoblondine verwöhnte darin den Direktor oral. Nach einiger Zeit stieß er steifbeinig zu ihnen. Jack wollte Bill zu den Löwen schaffen, die anderen Leichen waren für den neuen Eisbären aus Deutschland bestimmt, dem die Berliner den Namen Knut gegeben hatten. Jimmy nannte ihn Hellboy.
    „Guten Abend“, sagte der Direktor. Jack ahnte wegen der Freundlichkeit Übles. Jimmy und Jack grüßten untertänigst zurück.
    „Wir müssen weiter rationalisieren. Das Geld wird knapp und knapper“, sagte der Direktor, dem der Hosenstall offen stand. Die Welt versank in der Gier und würde ihn mitreißen, dachte Jack und sah zu Jimmy, der verdächtig ruhig blieb.
    „Ich bin gekündigt?“, fragte Jack ahnungsvoll.
    „Nicht nur das“, entgegnete der Direktor. Jimmy zog ein Messer.
    „Zum Eisbären oder den Löwen?“, fragte Jimmy.
    „Zu Hellboy, er hat so süße Knopfaugen“, bat Jack.

  • von Leserättin



    Verdammt! Konrad ballte die linke Hand zur Faust. Die rechte quetschte die Maus. In rascher Folge hämmerte sein Zeigefinger auf die linke Maustaste. Doch es half nichts. Sein Vermögen schwand. Einmal blinzeln und Hunderttausend waren weg.
    Adrenalin pulste durch seine Adern, Schweiß brach ihm aus.
    Immer weiter nahm die Summe ab. Was vor einer Stunde noch drei Millionen gewesen waren, präsentierte sich nun mit nur noch zwei Nullen nach der Drei. Konrad investierte das verbliebene Geld. In Aktien natürlich. Das war die einzige Möglichkeit, es zu vermehren, zurückzugewinnen, was verloren war. Oder den Schaden zu begrenzen.
    Aber Dreihundert waren viel zu wenig, selbst wenn die Anteile im Kurs stiegen. Konrad orderte weiteres Geld, überzog sein Konto bis zum absoluten Limit. Alles investierte er, bis zum letzten Cent.
    Angespannt blickte er auf den Monitor, einem von der Schlange hypnotisierten Kaninchen gleich. Ja, das war er, nichts weiter als ein Beutetier in den gnadenlosen Fängen der Börse.
    Er verlor. Tausend, noch einmal Tausend. Es waren die falschen Aktien gewesen. Er hatte welche erwischt, die kontinuierlich in den Keller gingen – mit seinem Geld. Keine Chance mehr auf Rettung.
    Verloren, alles.
    Konrad schaltete den PC aus, fingerte nach der Zigarettenschachtel in seinem Hemd. Tief inhalierte er den Rauch. Langsam beruhigte sein Puls sich.
    Eine Runde durchs Zimmer, ein kurzes Luftschnappen am Fenster. Dann zurück an den PC. Konrad genoss das Gefühl, wie sein Herz seinen Rhythmus beschleunigte. Der Startbildschirm erschien, Bulle und Bär leuchteten ihm in bunten Farben entgegen. Konrad lächelte ihnen zu. Diese Wirtschaftssimulation war ein Meisterwerk der Programmierung. Er hatte das Spiel selbst geschrieben, testete es mehrfach pro Tag. Alles war bis ins kleinste Detail realistisch. Auch die Bankenkrise hatte er mit eingebaut. Ein spontaner Einfall, nachdem sie ihn selbst mehrere Hunderttausend – echte Euro – gekostet hatte.
    Doch wenn das Spiel erst auf dem Markt war, würde er richtig reich werden. Mindestens so reich wie seine Spielfigur zu Beginn einer jeden Runde. Davon war Konrad fest überzeugt.

  • von Steena



    „Und dass du mir ja auf dem Weg mit keinen Fremden sprichst! Was da alles passieren kann! Erst letzte Woche war wieder ein Fall in den Nachrichten. Frau, abends allein auf der Straße – niemand hat die mehr gesehen!“ Mit einem Räuspern versuchte ich meine belegte Stimme wieder auf Vordermann zu bringen. „Die Reise läuft ab, wie wir es besprochen haben: Keine Umwege, kein Spielchen. Wenn du dich nicht spätestens morgen meldest, alarmiere ich die Polizei. Das sollte an Zeit ausreichen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Vergewaltigungen, Erpressungen, Lösegeldforderungen! – Oh, wie konnte ich mich da nur drauf einlassen. Es wird nicht gut gehen, ich spür’s!“ Selbst die Hände waren mir schwitzig geworden und unter den neugierigen Blicken einer Passantin wischte ich sie an meiner Jeans ab. Was guckte die denn so blöd? Noch nie eine besorgte Frau gesehen? Meine Schritte hallten auf dem nassen Kopfsteinpflaster wider. Hinter der nächsten Biegung würden wir uns verabschieden müssen. Eine Trennung für immer? Dass mit meinem Verlassen der Wohnung ein Gewitter heraufgezogen war, sah ich als Zeichen an. Eine Warnung, die mich zur Vernunft rufen wollte. Noch konnten wir umkehren ...


    Viel zu rasch erschien das Gebäude vor uns, braune Backsteinmauern, über der Tür thronte ein leuchtend gelbes Schild. Gemeinsam verbrachte Momente sah ich vor meinem inneren Auge, die Stunden, in denen wir Witze geteilt hatten, liebevolle Worte, geflüsterte Versprechen, Spannung, die kaum auszuhalten war – all das hatten wir geteilt. Was, wenn er nicht zurückkam, die andere gar netter fand als mich? Wer würde mich dann mit wenigen Sätzen begeistern, vom ersten Augenblick an in seinen Bann ziehen? Mein Herz schlug heftig gegen die Brust, als hätten wir einen Marathon hinter uns, dabei war ich gar nicht erpicht darauf, schnell anzukommen. Die Tür fiel hinter uns mit einem Knallen ins Schloss. Es musste doch eine Möglichkeit geben, es zu verhindern.
    Viel zu schnell waren wir an der Reihe. An normalen Tagen stand ich minutenlang an, warum heute nicht? Innerlich flehte ich, dass ein Wunder geschehen möge, oder zumindest eine Katastrophe, nur ein klitzekleines Erdbeben.
    „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“
    Mit weit geöffneten Augen starrte ich den Beamten an, unfähig auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Unsicher hoben sich meine Hände, ferngesteuert, denen eines Roboters gleich, schoben sie das kleine Päckchen über den Tresen. „Das macht dann 85 Cent“, entgegnete der Mann und entriss mir meinen Schatz! Gefühlskalt griff er nach ihm, fragte nicht einmal, ob ich mir sicher sei! Wie in Trance fingerte ich den fälligen Betrag aus meiner Tasche, stand dann unschlüssig weiterhin vor dem Schalter. „Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Misstrauen begegnete mir im Blick des Herrn. Lediglich ein Kopfschütteln erhielt er als Antwort, dann drehte ich mich abrupt um und stürmte nach draußen in den Regen.
    Nun war’s geschehen. Mein erstes Wanderbuch hatte seine unaufhaltsame Reise begonnen! Ob das gut gehen wird ...?

  • von AsterLundgren



    „Wir müssen reden.“
    Olaf stand vor der Spüle und schälte Kartoffeln.
    „Tun wir das nicht schon seit einer halben Stunde?“
    „Ich meine richtig reden.“
    Er versuchte, nicht den Mut zu verlieren, als Corinna ihm die Schürze umhängte, auf der in großen Buchstaben „Mami ist die Beste“ stand.
    „Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich es sagen soll und ob es richtig ist.“ Eines der Kinder schrie im Hintergrund und Corinna verschwand im nächsten Moment im Wohnzimmer.
    „Ich fühle mich nicht gut.“, sagte er, als Corinna wieder in der Küche stand. Apple-Shayenne hing in ihren Armen und lag nun dort, still und beinahe bewegungslos.
    „Du bist sicherlich krank.“
    „Das ist es nicht.“ Er schnitt sich mit dem Schäler in die Finger und Blut tropfte in die Spüle, doch es kümmerte ihn nicht. „Ich habe genug, von allem, wenn ihr ehrlich bin. Die Arbeit, die Kinder. Immer und immer dasselbe tun, wie in einer Dauerschleife. Niemals anhalten. Nie nach Luft schnappen.“
    Corinna verdrehte die Augen und bemerkte gar nicht, dass das Abendessen mittlerweile in Blut schwamm. „Nun sei doch nicht so schrecklich melodramatisch!“
    „Paris.“, sagte Olaf plötzlich. „Ich dachte, ich könnte nach Paris gehen. Oder Rom, vielleicht auch Südafrika. Hauptsache fort.“
    Corinna sah erschrocken auf. Jetzt sah sie ihn, wirklich und wahrhaftig. Sein rotes Gesicht und seine blutüberströmte Hand. „Warum hast du das nicht früher gesagt?“ Sie fasste ihn am Arm. „Von diesen schrecklichen Camping-Urlauben habe ich schon lange genug!“ Jedes Wort spuckte sie hervor, als rede sie sich alle Wut von der Seele. „Lass uns einen von diesen Club-Urlauben machen, wie man es im Fernsehen sieht. I want to go tu Rio, du weißt schon.“
    „Das meine ich nicht.“ Olaf wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen. „Ich meine keinen Urlaub, auch keine Auszeit. Ich möchte gehen, verstehst du?“ Als sie nur dastand und nichts sagte, fuhr er rasch weiter fort. „Ich habe mir so viel mehr erwartet vom Leben. Ich dachte, ich sei etwas Besonderes.“
    Corinna verzog das Gesicht. Rasch drückte sie Olaf das Kind in die Arme und zog sich die Bluse über den Kopf. „Nun sieh dir das an: Apple-Shayenne hat mir über die Schulter gespuckt.“



    Olaf öffnete die Augen. So würde es enden, ganz sicher. Jedes Wort umsonst.
    „Das sagst du dir schon so lange.“, flüsterte er und merkte es gar nicht. Du verschiebst es von einem Tag auf den anderen, von einem Monat zum nächsten. Hangelst dich von Jahr zu Jahr.
    Er öffnete die Tür und setzte sich in der Dunkelheit neben Corinnas Bett. Als er zu reden anfing, merkte er irgendwann, dass es so furchtbar still war im Zimmer.
    Er machte das Licht an und sah den Zettel auf Corinnas glattgestrichener Bettdecke.
    Zwei Sätze nur, ein paar fette, tintenschwarze Striche.
    ICH HABE MIR MEHR ERWARTET VOM LEBEN.
    ICH BRAUCHE EINE AUSZEIT.
    Und ganz unten, in so kleinen Buchstaben, dass Olaf es beinahe übersehen hätte, stand: „Ich bin in Paris. Aber bitte suche nicht nach mir.“
    Im Hintergrund begann Apple-Shayenne zu schreien.

  • von Sinela



    Wohlig räkelte sich Ilse im Bett, streckte und reckte sich, um sich dann wieder auf die Seite zu legen. Ihre Gedanken waren bei dem Traum, den sie gerade gehabt hatte. Sie wollte sich die Einzelheiten nochmal ins Gedächtnis rufen, war er doch sehr angenehm gewesen. Nach einigen Minuten seufzte sie auf. Ihre Blase drückte, es half wohl alles nichts, sie musste aufstehen. Als sie ihre Augen aufschlug, erblickte sie die wohlvertrauten Einzelheiten ihres Schlafzimmers: Den Kleiderschrank an der gegenüberliegenden Wand, die Vitrine mit den hübschen Tierfiguren, die sie sammelte, die selbstbemalten Bilder daneben.... Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Wieso sah sie all diese Dinge so deutlich? Mit Entsetzen registrierte sie, dass es bereits taghell war, die Sonne musste schon vor einiger Zeit aufgegangen sein. Der Wecker bestätigte ihre Befürchtungen – sie hatte verschlafen! Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett, trat auf die Socken, die sie gestern Abend achtlos neben das Bett hatte fallen lassen, rutschte aus, versuchte armerudernd das Gleichgewicht zu halten – und fiel rücklings auf das Bett zurück. Mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem saß sie da und dankte all ihren Schutzengeln für diesen glimpflichen Ausgang. Aber nur kurz, dann wagte sie das Abenteuer des Aufstehens erneut und diesmal bewältigte sie es ohne Schaden. Mit langen Schritten durchquerte sie den Flur, düste in`s Bad, riss sich das Nachthemd herunter und betrat die Dusche. Im Eilverfahren machte sie sich nass, seifte sich ein, wusch alles wieder ab – um dann festzustellen, dass sie in ihrer Hektik kein Handtuch mitgenommen hatte. Ilse fluchte laut, heute ging aber auch alles schief. Tropfnass rannte sie in das Wohnzimmer, holte ein Handtuch aus dem Schrank, trocknete sich ab und schlüpfte in ihre Klamotten. Auf den Kaffee und das Marmeladenbrötchen musste sie heute verzichten. Wenn sie sich beeilte, überlegte sich Ilse, würde sie nur eine knappe Stunde zu spät kommen. Während sie die Jacke anzog, fiel ihr Blick auf die Wasserlachen, die sie auf dem Boden hinterlassen hatte. Sie zuckte die Schultern, das Aufwischen musste bis zum Abend warten, keine Zeit jetzt dafür. Sie schnappte sich ihre Tasche, nahm den Haustürschlüssel vom Board neben der Wohnungstür und eilte mit langen Schritten zum Aufzug. Wieso kam das blöde Teil bloß wieder nicht?
    „Ich krieg die Krise, nun komm endlich, du Miststück!“
    „Frau Kramer, sie sind aber früh auf heute? Wollen sie ins Freibad?“
    Genervt schaute sich Ilse um und sah ihren Nachbarn auf sie zukommen.
    „Nein, ich gehe zur Arbeit.“
    „Was, sie arbeiten jetzt auch Sonntags?“
    Ilse schaute Herr Maier fassungslos an.
    „Sonntag?“, flüsterte sie. „Heute ist Sonntag? Das gibt es doch gar nicht!“
    Sie fing zu lachen an, lachte bis ihr die Tränen kamen. Das dürfte sie bei Gott niemanden erzählen – sie hatte tatsächlich Sonntags zur Arbeit gehen wollen! Immer noch lachend verabschiedete sie sich von Herr Maier, ging zurück in ihre Wohnung und legte sich wieder ins Bett. Was für ein Morgen!

  • von arter



    „Wohin gehst Du?“, fragte sie, als er seinen Mantel vom Haken nahm.


    „Dorthin, wohin du mir nicht folgen kannst.“, antwortete er und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.


    Als die Tür ins Schloss gefallen war, beschlich sie die befremdliche Erkenntnis, dass er nicht einfach nur kurz weg war. Ein Schlag in die Magengrube. Wahrscheinlich war er für immer gegangen.

    Sie hatte es in seinen Augen gelesen. Ein triumphierender Ausdruck, der etwas wusste, das sie erst dann erfahren sollte, wenn es nicht mehr abzuwenden war.


    Warum, fragte sie sich. Hatte sie ihn eingeengt? Er beklagte sich nie, hat ihre Regeln akzeptiert, kleine Selbstverständlichkeiten des Alltags. Getragene Wäsche in den Kasten, die Zahnpastatube ordentlich ausdrücken, schmutzige Schuhe draußen ausziehen. Manchmal musste sie ihn erinnern doch er hat es immer eingesehen.


    Wirft man deshalb gleich die Liebe fort? Gewiss, es war nicht mehr die ungestüme Leidenschaft der ersten Zeit. Zuletzt hat es immer weniger geprickelt. Genau genommen spielte sich im Bett überhaupt nichts ab. Aber er hatte auch gar nicht mehr danach verlangt. Sie war es, die immer wieder versuchte ihm klar zu machen, wie sehr sie seine Leidenschaft von früher vermisste.


    Wenn jemand Grund hätte, mit der Situation unzufrieden zu sein, dann war sie es doch. Was bildete er sich eigentlich ein? Wut kochte in ihr hoch. Das durfte sie sich nicht gefallen lassen. Weit konnte er noch nicht sein. Wenigstens ihre Meinung würde er sich noch anhören müssen.


    Sie rannte aus dem Haus. Es war ihr egal, dass sie in rosafarbenen Plüschpantoffeln durch Pfützen platschte, dass der Regen das Nachthemd durchweichte. Seine schweren Schuhe hatten deutliche Spuren im Matsch hinterlassen. Wohin er auch immer gegangen war, sie würde ihn bald eingeholt haben.


    Die Spuren führten in Richtung Stadtpark. Eine ältere Dame kam ihr entgegen, bedauernde Verwunderung im Blick. Sie ignorierte das und rannte über die Straße. Ein Hund hielt ihre Verfolgungsjagd für ein Spiel und begleitete sie bei ihrem Lauf. Das Herrchen pfiff hinterher. Sollte er denken was er will!


    Die Spuren endeten am öffentlichen Urinal der Stadt. Glück gehabt. Wenn er jetzt hier herauskam, dann würde er sich etwas anhören können! Er hatte offenbar schon längst sein Schäflein ins Trockene gebracht. Bestimmt war es diese Betty, dieses blonde Gift aus der Marketing-Abteilung. Die hatte schon lange ein Auge auf ihn geworfen. Meinten die beiden, sie sei so blöd und merkte das nicht?


    Erstaunen spiegelte sich in seinen Augen, als er aus dem Klohäuschen trat. Ihre Blicke trafen sich. Sie öffnete den Mund um ihm die Meinung zu sagen. Keine Spur von Erschrecken gewahrte sie in seinem Gesicht, nur etwas das Besorgnis ausdrückte. Dann gab es nichts mehr das ihre Tränen zurückhalten konnte. Ein jaulendes Geräusch, das so ähnlich klang wie „Warum hast du das getan?“ brach aus ihr heraus.


    Er ging wortlos auf sie zu, zog seinen Mantel aus und legte ihn um ihre Schulter. Dann nahm er sie in den Arm. „Weißt du Schatz“, sagte er zärtlich, „Ich wollte endlich mal wieder im Stehen pinkeln“