Jahres-Gewinner Schreibwettbewerb 2008!

  • Liebe Eulen,


    hier findet Ihr alle Monats-Gewinner-Beiträge des Jahres 2008.


    Vom 01.01.2009 bis zum 10.01.2009 habt Ihr die Möglichkeit, Euren Favoriten des Jahres 2008 zu wählen. Für die Abstimmung wird ein Extra-Punktethread eingerichtet, in dem Ihr wie üblich 3-2-1 Punkte verteilen könnt.


    Der Jahres-Gewinner des Schreibwettbewerbs 2008 erhält von uns einen Büchergutschein von Amazon.de über


    25,- EUR.


    Viel Erfolg!

  • "Angeklagt"
    Thema: Kunst
    Autor: churchill
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    „Angeklagter, Sie sind ohne einen Verteidiger erschienen. Wollen Sie sich selbst verteidigen?“
    „Ich habe nicht vor, mich zu verteidigen. Es ist da nichts, was zu verteidigen wäre.“
    „Die Vorwürfe sind hart. Es geht um Sachbeschädigung und schwere Körperverletzung. Sie riskieren viel, wenn Sie auf Verteidigung verzichten.“
    „Risiko ist eine subjektive Größe.“
    „Kommen wir zu den Fakten: Sie werden beschuldigt, in der Passionskirche die Orgel zerstört und mit den herausgebrochenen Pfeifen Besucher der Kirche schwer verletzt zu haben. In Gutachten ist von Gehirnerschütterungen und Platzwunden die Rede.“
    „Gutachten sagen etwas über Gutachter aus. Ob etwas zu erschüttern war, bezweifle ich.“
    „Angeklagter, räumen Sie denn die Vorwürfe ein? Sachbeschädigung? Körperverletzung?“
    „Absicht und Wirkung lassen sich meiner Überzeugung nach nicht juristisch verhandeln.“


    „Sie sind ein schwieriger Fall. Versuchen wir es anders: Sie wurden eingeladen, in der Passionskirche ein Konzert zu geben. Die Menschen kamen mit höchsten musikalischen Erwartungen. Ihnen eilt der Ruf eines erstklassigen Musikers voraus.“
    „Ich holte ihn stets ein.“
    „Am Anfang verlief das Konzert offensichtlich völlig normal.“
    „Einspruch. Es verlief im Einklang mit gewissen Erwartungen.“
    „Ich lese hier von jubilierendem Orgelspiel, die Menschen waren entzückt“
    „Korrekt. Das war zu erwarten.“
    „Aber dann: Sie spielten völlig atonal. Die Besucher dachten, Sie seien an der Orgel zusammengebrochen, es war nur noch ein, ich zitiere, „Klangbrei“ zu vernehmen. Unruhe machte sich im Publikum breit.“
    „Selbstverständlich.“


    „Hatten oder haben Sie gesundheitliche Probleme? Entsprechende Gutachten wären wichtig für das Strafmaß.“
    „Über Gesundheit von Organist, Publikum oder Gericht möchte ich hier nicht spekulieren.“
    „Zügeln Sie sich!“
    „Ist Zügeln eine Tugend?“
    „Also: Sie spielten nach Zeugenberichten eine halbe Stunde lang völlig falsch und ohrenbetäubend schrecklich.“
    „Unzutreffend. Was hier bezeichnenderweise als falsch wahrgenommen wurde, dauerte exakt dreiunddreißig Minuten“.


    „Und dann kam es zur Gewalttat. Trifft es zu, dass Sie Backsteine auf die Tasten legten, selbst den Orgeltisch verließen, Pfeifen aus der Orgel herausrissen und gezielt von der Empore auf die Besucher warfen?“
    „Ansatzweise. Ich legte auch Backsteine auf die Pedale und fixierte das Schwellwerk. Gezieltes Werfen trifft nicht zu. Die Sicht war schlecht. Immerhin ist die Empore zwanzig Meter hoch. Darüber hinaus waren ja nicht mehr so viele Menschen in der Kirche.“
    „Weiter heißt es, dass es plötzlich still war. Gleich danach flogen noch Backsteine die Empore herunter ...“
    „Das ist logisch. Durch das Wegnehmen der Backsteine vom Spieltisch kam es zu der einkalkulierten Stille von einigen Sekunden, bevor es dann wieder lauter wurde.“
    „Ja, durch die Schreie der Menschen, die von den Orgelpfeifen und Steinen getroffen wurden!“
    „Richtig. Es war fantastisch.“


    „Fantastisch? Angeklagter, abgesehen davon, dass das Konzert den Besuchern schon zuvor nicht gefallen hatte: Es geht hier um Körperverletzung. Wenn nicht sogar um versuchte Tötung!“
    „Gefallen? Streben nach Gefälligkeit ist versuchte Tötung. Tötung der Wahrheit.“
    „Ich stelle fest, der Angeklagte ist nicht willens, seine Schuld einzuräumen. Das Gericht wird sich zur Beratung zurückziehen. Angeklagter, Sie haben das letzte Wort.“
    „Konsequenz siegt über Bestrafung.“
    „Konsequenz?“
    „Das Thema des Konzerts war mir doch vorgegeben: Hosianna – Kreuzige ihn!“

  • "Verliebt in den Chef"
    Thema: Grenzen
    Autor: arter
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    Ich kann es selbst nicht glauben, aber es ist so. Ich liebe meinen Chef. Daran wäre im Grunde nichts prekäres, wäre ich eine hübsche, verträumte Sekretärin mit masochistischen Neigungen. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn ich bin männlich, sehr glücklich verheiratet und definitiv heterosexuell. Ich liebe meinen Chef auch nicht als Mensch. Meinen Chef kann man eigentlich gar nicht lieben. Er ist ein egoistischer, selbstgefälliger Drecksack, der zu cholerischen Ausbrüchen neigt. Nein, seine Persönlichkeit hat es mir nicht angetan, ich begehre ihn rein körperlich.
    Er hatte mich in sein Büro zitiert. Mit hochrotem Kopf fläzte er sich in seinen Sessel. In der Hand hielt er eine Mappe. Ich kannte diese Mappe. Es war die Konzeption, an der ich in den vergangenen Wochen gearbeitet hatte.
    „Roland, das ist Mittelmaß“, sagte er. Er versuchte mühsam, beherrscht zu wirken. In hohem Bogen flog mein Pamphlet auf den Schreibtisch, wo es mit einem lauten Klatscher landete.
    „Wie lange willst du daran gearbeitet haben? Zwei Wochen?“ Er hatte sich jetzt etwas vorgebeugt. Seine Stimme hatte deutlich an Lautstärke gewonnen.
    „Ich sag dir was das ist: Allerweltskacke.“ Auf seiner Stirn schwoll eine Ader gefährlich an. „Was hast du in den vergangenen zwei Wochen getan? Mit Nora geflirtet? Im Internet gesurft? Kaffe getrunken?“. Seine Artikulation entwickelte sich rapide in Richtung Geschrei. Putzig hatten sich die Haare seines Vollbartes aufgerichtet wie die Stacheln eines Igels.
    „Ich reiß mir den Arsch auf, damit ihr am Monatsende eure Kohle nach Hause tragen könnt und ihr hängt nur eure Zeit ab“. Er erhob sich, umrundete den Schreibtisch und baute sich vor mir auf. Eine erregende Fahne seines Schweißgeruches wehte zu mir herüber.
    Ich trat ganz dicht an ihn heran und schmiegte mich an den unförmigen Körper. Meine Hand fuhr mit gespreizten Fingern durch seinen Bart bis zum Haaransatz hinter den Ohren. Ich kraulte ihm zärtlich den Schopf. Meine Lippen pressten sich auf seinen Mund. Er lies es geschehen - passiv aber willig. Meine linke Hand tastete nach dem Knopf an seiner Hose.
    Ich spürte zärtliche Finger auf meiner Brust, die sich langsam abwärts bewegten. Seidig sanfte Lippen liebkosten meinen Hals. Ich öffnete die Augen. Durch eine Gardine langer blonder Haare sah ich die Schlafzimmerdecke. Eva knabberte an meinem Hals. Durch zusammengepresste Zähne knurrte sie in mein Ohr: „Du Schuft, mit wem hast Du mich betrogen in deinem Traum?“ Ich konnte nicht antworten. Tränen traten in meine Augen, vor Glück, so süß aus diesem abstrusen Hirngespinst errettet worden zu sein. Eva bekletterte mich und ritt auf mir bis zum Morgengrauen.
    Gut gelaunt betrat ich am nächsten Morgen das Büro. „Du sollst sofort zum Chef kommen“, empfing mich Nora, unsere Sekretärin. Ich lachte in mich hinein, als ich an den Traum zurückdachte. In welcher kranken Hirnwindung mochte dieser abartige Schmutz entstanden sein? Ob sich das operativ entfernen lies?
    Mit schwungvollem Schritt betrat ich sein Büro. Da saß er: roter Kopf, Igelbart, Zornesader. Meine Mappe in der Hand.
    „Chef“, kam es aus mir heraus. „Ich liebe dich“.

  • "Frühstück"
    Thema: Kommunikation
    Autor: churchill
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    „Noch ein bisschen Kaffee?“


    Ich löse meinen Blick vom Buch. Sie hält die Tasse in der Hand. Die leere Tasse. Ich habe also bereits ausgetrunken. Ihr Blick ist nicht unfreundlich. Die senkrechten Falten über der Nasenwurzel sind kaum zu sehen. Ein gutes Zeichen. Sie können sehr tief sein, diese Falten. Das Frühstück führt fast täglich zusammen, was seit eineinhalb Jahrzehnten zusammengehört, wenn man vom Versprechen ausgeht, das damals gleich doppelt erklang, wobei das gesetzlich vorgeschriebene zivile Ja für uns nur Vorspiel war.


    Vor dem Frühstück meide ich gern das familiäre Treiben und überlasse ihr das täglich neue Abenteuer. Beim Internationalen Frühschoppen waren es seinerzeit sechs Journalisten aus fünf Ländern oder so. Bei uns sind es derzeit fünf Kinder für vier Schulen. Und eins für den Kindergarten. Das ist zumindest der letzte Stand, an den ich mich erinnern kann.


    Das Frühstück ist dann Gelegenheit zur Besprechung. Wenn es gut läuft. Oder zur Aussprache. Wenn es nötig ist. Wenn sie meint, es sei nötig. Wenn die senkrechten Falten über der Nasenwurzel zeigen, dass sie meint, es sei nötig. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Warum auch? Ich weiß sicher, dass ich das nicht selbst erledigen muss. Der Beginn ist meist marmeladig süß. Nichteingeweihte mögen das schlucken. Die Frage, was ich denn heute so vorhabe, lenkt meinem Blick in Richtung Buch. Ich lese keine Zeitung während des Frühstücks. Klischees mögen andere bedienen. Ich lese Bücher. Im Normalfall aber nur eins während der Frühstücksbesprechungsaussprache. Ich antworte ebenso marmeladig mit der ausführlichen Zurschaustellung meiner zwei oder drei Termine für den angebrochenen Tag, die ich ausschmücke und phantasievoll ergänze. Wirkungsloses Unterfangen.


    Die marmeladige Phase endet und wird abgelöst von verschiedenen Eierphasen. Wenn es gut geht, folgt ein Spiegelei. Auf den Teller geklatscht. Altpapier sei zu entsorgen, die Flaschen ebenso, das Büro sei aufzuräumen, was ich schon seit Monaten versprochen hätte, und schließlich seien endlich diese Überweisung und jener Zuschussantrag zu tätigen. An dieser Stelle blättere ich üblicherweise interessiert um.


    Ab und zu wird das Ei auch gekocht. Hart. Und ich weich. Zumindest geht ihr Versuch in diese Richtung. Bücher kosten Geld, das ich oft ausgebe, was sie weiß, wenn sie zu einer Liste von Anschaffungen ansetzt, die dem Familienglück noch fehlen und jede mögliche Not wenden sollen. Das Weichkochen von Eiern gelingt nicht vielen. Die Anschaffungen der letzten Jahre zeugen von Erfolg. Ihrem Weichkocherfolg.


    Die gefährlichste Ebene wird erreicht, wenn das Rührei ins Spiel kommt. Alle Schwächen und Schandtaten der letzten eineinhalb Jahrzehnte sind auf Kommando präsent. Meine. Alle. Das Frühstück wird dann zur Generalabrechnung mit Extremsteilfalten, das Umblättern meinerseits hektischer. Mein Unbehagen wächst proportional zu ihrem Erinnerungsvermögen. Das wiederum ist unendlich groß. Den finalen Rettungsschuss setze ich sicherheitshalber selten ein. Sie weiß ja durchaus noch, dass sie es war, die unser erstgeborenes Kind von der Wickelkommode fallen ließ. Ich las damals gerade ein Buch.


    Heute gibt es kein Ei. Und keine senkrechten Falten.
    „Noch ein bisschen Kaffee?“
    „Gerne. Noch ein bisschen mehr …“
    Die ersten Kinder erscheinen frühestens in zwei Stunden.

  • "Bamako"
    Thema: Nackt
    Autor: Luc
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    Im Dorf glaubten die Menschen, Mutter Bamako könnte die Zukunft voraussagen. Eines Tages beschloss sie, Guinea zu verlassen, weil ein einsamer Mann in Deutschland auf sie wartete und dort eine weitere Vision in Erfüllung gehen würde. Vor der Abreise gab Mutter Bamako ihrem Sohn einen Stift und einen Zettel.
    „Zeichne alles auf“, befahl sie ihm. Mutter Bamako verkaufte ihr Hab und Gut. Der fette Bootsbesitzer forderte mehr Geld für die Überfahrt nach Europa, als sie besaß. Mutter Bamako bezahlte zusätzlich den Preis der heruntergelassenen Hose. Ihre Sohn Joshua beobachtete die beiden Erwachsenen durch das Schlüsselloch und zeichnete.


    Teneriffa erwartete Familie Bamako in Gestalt eines Patrouillenbootes. Gesteuert von Polizisten, die keinen Willkommensflamenco für illegale Einwanderer tanzen wollten. Stattdessen steckte die Guardia Civil Familie Bamako in einen Container, der in der Sonne blitzte wie abgezogene Haifischhaut.


    Eines Nachmittags blickte Joshua ins Innere der Wohneinheit, was er sah verstörte ihn. Der Chef der Ausländerbehörde hockte nackt in der Mitte des Raums und grinste, als hätte er die Goldreserven von Fort Knox im Rücken. Mutter Bamakos Kopf sauste vor seinem Bauchnabel auf und ab, als förderte sie texanisches Öl zu Tage. Joshua zeichnete. Gleichzeitig tat er den Schwur, niemals solche Erniedrigungen in seinem Leben hinzunehmen wie seine Mutter. In der Nacht durften sie das Lager verlassen. Sie überquerten zwei Grenzen.


    In Kassel angekommen schuftete Mutter Bamako für eine Gebäudereinigungsfirma, vier Euro die Stunde, die Sonntage frei. Die Sonntage verbrachte Mutter Bamako in der Kirche. Dem Pfarrer das Herz ausschütten, über die dicken Männer und Sünden von geringerer Schwere, wie ihr Werner Kummerrad, der Geistliche, attestierte. Sie wusste, sie war angekommen. Werner Kummerrad heiratete sie. Gemeinsam standen sie die Schmähungen der Gemeinde durch, Mutter Bamako hätte Gott den Kummerrad weggenommen.


    Kummerrad gewann nach anfänglicher Euphorie den Überblick über seine sinkenden Rentenansprüche zurück und brach aufgrund seiner neu gewonnenen Perspektivlosigkeit in ein rotweingeschwängertes Jammern aus. Mutter Bamako investierte derweil Kummerrads Erspartes gewinnbringend. „Mutter Bamako“ hieß bald das beliebteste Restaurant der Stadt, dessen Wirt Kummerrad den Gästen die Beichte am Zapfhahn abnahm.


    Joshuas Lehrerin meinte abfällig, seine Sprachkenntnisse würden eine Versetzung in die nächste Klasse unmöglich machen. Joshua verachtete Menschen, die alles wussten und nie etwas erlebt hatten. Er schaffte die Versetzung. Später studierte er Kunstgeschichte und verdiente sein Geld damit, Möbel zu schleppen und Teller zu waschen. Er lebte in winzigen Wohnungen, manchmal hungerte er, um Kompromisse zu vermeiden. Denn Nachts malte er im Atelier eines Freundes wie im Rausch und der Erfolg stellte sich ein. Er verkaufte seine Gemälde zu astronomischen Preisen.


    Mutter Bamako besuchte eine seiner Ausstellungen. Verschämt betrachtete sie die Bilder. Lauter dicke, nackte Männer malte Joshua. Obwohl sie vorher die Zeitungen studiert hatte, schnappte sie nach Luft.
    „Ich habe eigentlich geglaubt du würdest Schriftsteller werden“, sagte sie.
    „Und ich dachte du könntest den Menschen die Zukunft voraussagen, Mutter“,
    „Blödsinn. Ich besitze lediglich Menschenkenntnis. Menschenkenntnis, Glaube und Willensstärke sind unser Erfolgsrezept“, sagte sie pathetisch.
    „Und nackte, dicke Männer“, erwiderte er, reichte ihr ein Sektglas und lachte vom Sarkasmus ergriffen. Mutter Bamako seufzte.

  • "Gewissheit"
    Thema: Schwangerschaft
    Autor: Ushuaia
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    Ihre Hände zitterten während sie auf das Test-Ergebnis wartete, sie wartete, obwohl sie doch zu wissen glaubte, wie es ausfallen würde. Sie spürte nicht einmal, wie die Kälte der Badezimmer-Fliesen ihre Beine hinauf kroch, während ihr Herz nervös bis zum Hals schlug und die Panik bereits dunkel lauerte.


    Zuerst hatte sie es auf den Stress geschoben, auf den neuen Job, die größere Verantwortung. Seit bald zwei Monaten arbeitete sie bis zum Umfallen, sie war völlig übermüdet und selbst am Wochenende kam sie kaum dazu sich zu entspannen. So war es ihr zunächst überhaupt nicht aufgefallen, dass sie überfällig war.


    Sie durfte jetzt nicht schwanger sein. Nicht jetzt. Ihre Scheidung lag kaum ein halbes Jahr zurück, ihre Ehe war daran zerbrochen, dass sie nach jahrelangen Versuchen nicht schwanger geworden war. Sie hatte sich einen neuen Job gesucht, eine neue Aufgabe, den Gedanken an ein Kind hatte sie endgültig aufgegeben. Es sollte nicht sein. Auch ohne Kinder kann man glücklich werden – vielleicht sogar glücklicher. Die Stelle war ein Glückstreffer gewesen, genau zur richtigen Zeit der Job, den sie sich immer gewünscht hatte.


    Dann war sie ihm mal wieder über dem Weg gelaufen. Es war eine einzige Nacht gewesen, eine verrückte Nacht mit Jens, einem eher flüchtigen Bekannten, von dem sie wusste, dass er es früher schon auf sie abgesehen hatte. Und von ihm sollte sie nun schwanger sein, diesem linkischen Typen und ewigen Studenten?


    Sie starrte wieder auf die Uhr, während sie den Kopfschmerz hinter ihren Augen hämmern fühlte. Es war Samstag Abend, der erste Samstag, den sie nicht in der Firma verbracht hatte. Sie war spät aufgestanden, hatte einen Einkaufsbummel gemacht, sich eine neue Bluse und ein Paar teure Ohrringe geleistet, und als sie schon auf dem Rückweg war, war ihr siedendheiß eingefallen, dass sie sich endlich Klarheit verschaffen musste und sie hatte den Schwangerschaftstest gekauft. Nun wartete sie darauf, dass sich auf dem Teststreifen endlich die Hiobsbotschaft abzeichnete.


    Plötzlich spürte sie die Feuchtigkeit an der Innenseite ihres Schenkels und das leichte Ziehen in ihrem Bauch. Das Ziehen hatte sie vorher schon bemerkt, aber nicht weiter beachtet. Verwirrt starrte sie auf den Boden, auf den roten Fleck, der sich auf den weißen Kacheln gebildet hatte. Blut.


    Ihre Blutung hatte eingesetzt.


    Sie spürte die Tränen ihre Wangen hinunterlaufen. Ihre Sicht verschwamm, als ein weiteres Mal ein Kartenhaus einstürzte.


    Sie wünschte sich doch nichts sehnlicher als ein Kind.

  • "Heimkehr"
    Thema: Zuhause
    Autor: Leserättin
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    Über ein halbes Jahrhundert war es her, dass ihre Füße diesen Weg gegangen waren. Nein, derselbe Weg war es nicht, nur die gleiche Strecke. Damals, als sie in ihren Mädchenjahren den von Buchen gesäumten Pfad entlang lief, war der Grund nur festgetretene Erde gewesen, die sich bei Regen in Schlamm verwandelte.
    Jetzt war es eine breite, asphaltierte Straße und die Buchen waren bereits vor langer Zeit gefällt worden. Auch das kleine Haus, in dem einst die Näherein wohnte, die ihr den feinen Petit Point Stich beigebracht hatte, war einem modernen Mehrfamilienhaus gewichen. Alles schien sich verändert zu haben, doch es war immer noch eine kleine Stadt, ohne Hochhäuser, aber dafür mit viel mehr modernen Bauten. Keine Bauernhöfe, keine großen Felder und Weiden und damit auch keine Kühe und Schafe.
    Wenn sie sich nach links wandte, konnte sie den Kirchturm sehen, mit der großen Uhr. Die Zeiger konnte sie nicht erkennen, dazu waren ihre alten Augen nicht mehr in der Lage.
    Sie überlegte, ob sie näher an die Kirche herangehen sollte, um zu sehen, was sich dort verändert hatte. Bestimmt war das Fenster mit dem Riss inzwischen ausgetauscht worden. Und die Bäume, die kurz vor ihrem Weggang gepflanzt worden waren und deren Spitzen gerade an ihr Kinn gereicht hatten, waren nun sicher schon zu mächtigen Eichen geworden.
    Nein, soviel Zeit hatte sie nicht mehr, entschied sie und so setzten ihre Füße langsam den Weg fort, hin zu jenem Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war.
    Es stand noch oder jedenfalls stand ein Haus an der Stelle, an der es einst gewesen war. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es sich um dasselbe Haus handelte. Alles hatte sich verändert; die Fenster, das Dach, sogar die Eingangstür. Und es wirkte so kalt und ausgestorben. Nirgends erklang das fröhliche Lachen spielender Kinder oder das durch den schlechten Empfang bedingte unmelodische Gedudel eines Radios.
    Das Haus schien unbewohnt, auch im Garten war schon länger nichts mehr gemacht worden. Das Gras reichte ihr fast bis zu den Knien. Die Tannen, die den Garten umkränzt hatten, waren gefällt worden. An ihrer Stelle stand nun eine kleine Hecke. Nur die kleine grüne Bank inmitten der Lupinen gab es noch.
    Lächelnd schlurfte sie zu der Bank und setzte sich. Es tat gut. Das Sitzen an sich und noch mehr das Gefühl, auf `ihrer` Bank zu sitzen. Sie betrachtete die Lupinen, genoss ihren leichten Duft. Warmer Wind fuhr streichelnd über ihr Gesicht und zupfte an ihrem schlohweißen Haar, das im Nacken zu einem Knoten gesteckt war.
    Müdigkeit breitete sich in ihr aus und sie kämpfte nicht dagegen an, die Augen offen zu halten. Sie war zuhause, nun konnte sie beruhigt einschlafen.


    Sehr früh am nächsten Morgen fand ein Spaziergänger mit seinem Hund die verstorbene alte Frau, die immer noch auf der kleinen grünen Bank saß. Ihr Gesicht zeigte ein glückliches, zufriedenes Lächeln.

  • "Wunschlos glücklich"
    Thema: Magie
    Autor: Quetzalcoatlus
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    Paul Blitz erwartete nicht, an jenem Sonntag mit etwas Außergewöhnlichem konfrontiert zu werden. Ganz besonders erwartete er nicht, mit einer leibhaftigen, goldgelockten Fee gekleidet in rosa Spitzenkleid, Schleierhut und schimmernden Diamantschühchen konfrontiert zu werden.
    Doch genau dies geschah, als Paul – wie jeden Sonntag – durch sein Lieblingswäldchen joggte. Die strahlende Frauengestalt schwebte hinter einer stattlichen Eiche hervor und zwang ihn zu einem abrupten Halt, indem sie unmittelbar vor ihm in der Luft auf und ab wippte.
    Mit einer merkwürdig heiseren Raspelstimme sagte sie: „Guten Tag, ich bin eine gute Fee und werde Ihnen heute einen Wunsch erfüllen. Was möchten Sie haben, bitte?“
    Paul bot einen ehrlich überrumpelten Anblick. „Tja, also … ich weiß nicht so recht …“
    Die Fee verdrehte ihre großen Kulleraugen und klopfte auf ihr rechtes Handgelenk, als säße dort eine imaginäre Armbanduhr.
    Paul versuchte sich zusammenzureißen. „Also, genau genommen gibt es nichts, das ich benötige.“
    „Von benötigen hat ja auch niemand etwas gesagt, Sie Pragmatiker! Hier geht es um eine zusätzliche Verschönerung ihres Lebens.“
    „Aber mir geht es doch bereits gut. Ich würde vorschlagen, Sie bieten Ihre Hilfe jemanden an, der es nötiger hat, zum Beispiel hungernden Menschen in Afrika.“ Paul kam sich in diesem Moment sehr nobel vor.
    Die Fee zog ihre goldenen Augenbrauen zusammen. „Wollen Sie sich über mich lustig machen? Sehe ich etwa so aus, als spräche ich Afrikanisch?“
    „Äh, nein.“ Paul schaute verwirrt. Dieses Argument hatte ihn so unvorbereitet getroffen wie ein Regentropfen in der Sahara. „Soll das etwa bedeuten, dass viele arme Menschen leiden müssen, nur weil keine gute Fee ihre Landessprache beherrscht?“
    „Nun ja, wenn Sie es so ausdrücken möchten …“ Die Fee fühlte sich bei dieser Frage sichtlich unwohl. „Das Leben kann manchmal eine verdammt zynische Angelegenheit sein, wissen Sie?“
    „Aber warum erscheinen Sie ausgerechnet mir? Ich denke nicht, dass ich unter allen deutschsprachigen Mitbürgern zu den besonders Hilfebedürftigen zähle.“
    „Wie bitte? Es ist Sonntagnachmittag und Sie rennen allein durch den Wald und schwitzen wie ein Schwein in der Mikrowelle. Und Sie tragen ein türkisfarbenes Stirnband! Mit kleinen Häschen drauf!“ Diesmal vollbrachte sie das Verdrehen der großen Kulleraugen und das Zusammenziehen der goldenen Augenbrauen gleichzeitig. „Mal ehrlich, ich habe selten ein erbärmlicheres Häufchen Hilfebedürftigkeit gesehen.“
    Nun fühlte sich Paul ernsthaft angepöbelt. „Hören Sie, wenn Sie mich beleidigen wollen, bleibe ich hier stehen und wünsche mir nichts, bis Sie schwarz werden.“
    „Ich bitte Sie! Ich mache doch auch nur meinen Job und möchte irgendwann Feierabend haben. Es muss doch irgendeinen Luxus geben, den Sie sich gerne gönnen möchten.“
    „Na ja…“ Paul druckste ein wenig herum. „Ich spiele sehr gerne Klavier. Aber im Augenblick kann ich mir keines leisten.“
    „Herrgott, dann wünschen Sie sich doch jetzt ein Klavier!“
    „Also gut.“ Pauls Gestalt straffte sich. „Ich möchte ein Klavier und damit berühmt werden!“
    „Kein Problem.“ Die Fee befand sich bereits im steilen Abflug nach oben. „Wird augenblicklich erfüllt!“


    In der folgenden Montagsausgabe der Lokalzeitung lautete die Titelschlagzeile: „Mysteriöser Unfall! Spaziergänger von herabfallendem Klavier erschlagen.“
    Das Leben konnte manchmal wirklich eine verdammt zynische Angelegenheit sein.

  • "Ein glasklarer Fall"
    Thema: Genial
    Autor: Quetzalcoatlus
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    Der berühmte (und berüchtigte) Detektiv Leershock Homely rutschte auf den Knien an der Teppichkante entlang und starrte auf das Blut hinab, das sich in die Fasern des Persers gefressen hatte wie ein Holzwurm in einen wertvollen Barockschreibtisch.
    „Nun, was sagen Sie, Homely?“, drängte Inspektor Balustrade, der mit gekreuzten Fußspitzen an der Wand lehnte und missbilligend auf den nur mit einem Bademantel bekleideten Detektiv hinabstarrte. „Irgendwelche Hinweise auf den für diese Mordtat Verantwortlichen?“
    „Natürlich“, verkündete Homely ungerührt. „Ihre Leute haben ihn soeben im Leichensack aus der Haustür getragen.“
    „Hm?“, machte Balustrade verblüfft und schaute wie ein Maulwurf im Solarium. „Wollen Sie damit sagen, dass es Selbstmord war?“
    „Sozusagen. Allerdings würde ich den Vorfall eher eine unvermeidliche Auswirkung resultierend aus der Vernachlässigung der wichtigsten Interessen durch den verstorbenen Gentleman nach dem Bankrott seines Unternehmens nennen.“
    „Aber dem Toten wurde seine eigene Buchstütze auf den Hinterkopf geschlagen!“, rief Balustrade ungehalten. „Wie können Sie da behaupten, dass es Selbstmord war, weil er die Interessen seiner Gläubiger vernachlässigt hat?“
    „Behaupte ich ja gar nicht. Ich behaupte, dass er die Interessen seiner Katze vernachlässigt hat.“
    „Was?“ Der Inspektor versuchte den Gedankengängen des Privatdetektivs mit dem gleichen Erfolg zu folgen wie ein Rentner einem Schnellzug, in dem er seinen Koffer vergessen hat.
    „Seine Katze“, wiederholte Homely mit Nachdruck. „Sie wissen schon, diese vierbeinige Kreatur mit langem Fell, die ständig um unsere Füße herumrennt und eine fette Schmeißfliege jagt.“
    Wie zur Bestätigung seiner Worte rannte de Katze über seine Schuhe. Die verfolgte Fliege surrte laut auf der Suche nach einem Versteck.
    „Folgendes ist passiert: Der Verstorbene sah sich der Pleite seiner Firma gegenüber und musste plötzlich mit seinem Geld haushalten. Leider sparte er an der völlig falschen Stelle und besorgte seiner Hauskatze das billigste Katzenfutter auf dem Markt. Natürlich ließ der Vierbeiner sich das nicht bieten. Und eine gestandene Katze, die etwas auf sich hält, zeigt ihren Widerwillen nicht nur durch bloßes Verweigern der minderwertigen Nahrung, sondern wirft diese für gewöhnlich demonstrativ aus ihrem Napf. Um ihren Standpunkt zu verdeutlichen gewissermaßen.“ Homely räusperte sich. „Unser verstorbener Freund schenkte diesem Verhalten offenbar wenig Beachtung, trat geradewegs in die matschigen Futterbrocken auf dem Fußboden, rutschte darauf aus, prallte gegen sein Regal und wurde von der Buchstütze getroffen, die aufgrund der Erschütterung vom obersten Regalbrett herabfiel.“
    Fassungslos ließ Balustrade seinen Mund sperrangelweit offen. Die umherschwirrende Schmeißfliege nutzte die Gelegenheit und flog hinein. Der Inspektor begann unkontrolliert zu husten.
    „Rottson wird morgen meinen Scheck abholen“, verfügte Homely ungerührt und verließ mit wehendem Bademantel das Zimmer.
    „Er ist ein absolut genialer …“, begann ein in der Nähe stehender Polizeibeamte bewundernd, sah die zornesfaltigen Schluchten auf der Stirn seines Chefs und beendete den Satz sehr überzeugend: „… Drecksack.“
    „Offensichtlich“, brummte Balustrade unwillig. „Wenn bei Scotland Yard solche Kaliber wie er arbeiten würden, müsste ich wohl als Wurmzüchter arbeiten.“
    Mürrisch zerkaute er die Fliege und schluckte sie hinunter.
    Mit dem Ausdruck reinen Abscheus in ihren grünen Augen blinzelte die Katze ihn an.

  • "Nicht betroffen"
    Thema: Tod
    Autor: churchill
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    Ich sehe ihn überrascht an. Er meint es absolut ernst. Und wiederholt:


    „Schau nicht so dumm aus der Wäsche. Das hat er genial hinbekommen. Ordentlich gesoffen, 150 Sachen, überholt, wahrscheinlich weit rechts und – wumm! Der ist so gestorben, wie er gelebt hat. Immer volle Kraft voraus. Und das war’s jetzt eben. Schluss. Fertig. That’s life. Oder eben nicht mehr. Leid tun? Nicht die Bohne. Warum auch.”


    Was ich vorbringen kann, klingt schal. Den Satz, dass es doch immer schlimm sei, wenn ein Mensch stirbt, fegte er mit links zur Seite.


    „Mag sein, dass irgendjemand traurig ist, dass der tot ist. Ich bestimmt nicht. Warum sollte ich? Letztendlich bleibt der Welt dadurch einiges erspart. Ok, geplant hat er es sicher nicht. Dann hätte er sich eher ein Beispiel an dem Liberalen genommen. Raus aus dem Flieger, weg mit dem Schirm, Arme ausgebreitet und runter. Das hatte was. Richtig Stil. Boing.“


    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das passiert selten, aber hier habe ich es offensichtlich mit einem Fall von Hartherzigkeit zu tun. Muss angesichts der Begegnung mit der Endlichkeit nicht die Beurteilung der Taten des Einzelnen zurückstehen? Ist hier nicht ein Augenblick des Innehaltens angezeigt?


    „Du bist ein Heuchler. Fandest den Kerl doch genauso schlimm. Und nur, weil er jetzt Matsch ist, ändert sich das? So ein Schwachsinn. Dieses ganze Theater, das da veranstaltet wird, ist doch zum Kotzen. Jeder stirbt mal. Du. Ich. Dann ist es doch besser, wenn es einen erwischt, der mir egal ist. Beziehungsweise einen, bei dem das Ende sogar noch positive Seiten hat.“


    Ein Versuch, ihn zu begreifen: Was ist mit den Soldaten, die durch Selbstmordattentäter in Afghanistan umkommen? Macht ihm das etwas aus?


    „Ehrliche Antwort? Nö. Macht mir nichts aus. Berufsrisiko. Wer zum Bund geht, muss damit rechnen. Sichere Stellung haben, aber nichts riskieren müssen? Is nicht. Hätten ja Banker werden können. Obwohl das momentan auch nicht viel ungefährlicher wäre.“


    Sein Humor ist mal wieder grenzwertig. Überhaupt, wie kann er bei so einem Thema Witze machen? Ich versuche den Angriff aus dem Hinterhalt. Zugegeben, nicht ganz fair. Packe ihn bei seiner Leidenschaft. Der Literatur. Was wäre, wenn die Schöpfer der Deutschstunde oder der Blechtrommel auf diese Weise gegangen wären?


    „Ich hätte gedacht. Mist, vielleicht wäre ja noch ein guter Roman rausgekommen. Aber die Hebamme wäre auch in diesem Fall nicht mehr Schuld gewesen.“


    Ich gebe es auf. Er kann es einfach nicht. Gefühlloser Klotz. Klotz, der jetzt das vibrierende Handy aus der Tasche nimmt. Nur hört. Nichts sagt. Dann heult. Ich schenke nach und warte.


    „Meine Tochter. Ihr Meerschweinchen. Der Staubsauger. Nicht gesehen. Überrollt.“


    Ich sauge nicht gern. Sie hätte es auch besser jemandem überlassen sollen, der den Staubsauger nicht zum Überrollen eines Meerschweinchens benutzt. Ich reiche ihm ein Tempo. Und nehme Anteil am Meerschweinchenmatschdrama. Zum Ausgangsthema unserer Unterhaltung kehre ich nicht zurück. Menschen, die am Boden liegen, soll man nicht treten. Hat meine Mama mir immer gesagt. Oder nicht mit dem Staubsauger überfahren. Oder so.

  • "Zeit"
    Thema: Maske
    Autor: JaneDoe
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    Anruf bei der Hotline der Firma L’Aréol, Freitag, 20.11.2038, 20.30 h:


    Eine Frau schluchzt hysterisch in den Hörer:
    „Ich habe … ich habe vor einer Stunde diese neue Gesichtsmaske „Hyperkollagen 4D“ ausprobiert.“


    Antwort der Telefonistin:
    „Darf ich Ihnen herzlich zum Kauf eines unserer Produkte gratulieren. Ich hoffe, Sie sind zufrieden und werden auch weiterhin …“


    „Nein“, wird sie von der Anruferin unterbrochen. „Nein, ich bin ganz und gar nicht zufrieden. Ich bin verzweifelt!“


    „Verzweifelt, wieso? War etwas mit dem Produkt nicht in Ordnung? Bei sachgemäßer Anwendung entfaltet „Hyper 4D“ bereits nach 15 Minuten seine volle Wirkung und Ihr Gesicht …“


    „Was heißt hier sachgemäße Anwendung? Natürlich habe ich vorher die Gebrauchsanweisung gelesen! Meine Tochter Katrin hat mir die Maske geschenkt und gesagt, das wäre genau das richtige für meinen Teint.“ Ein erneutes Schluchzen kommt durch den Hörer.


    „Und was genau ist nun Ihr Problem?“


    „Ich brauche eine Creme, die die Wirkung rückgängig macht. Jetzt sofort!“


    „Rückgängig macht? So etwas gibt es nicht. Die Hyper 4D wurde in den letzten Monaten zigfach verkauft. Noch nie hat es irgendwelche Beschwerden gegeben. Was ist denn Ihr Problem? Bei sachgemäßer Anwendung …“


    Wieder wird sie von der Anruferin unterbrochen:
    „Sachgemäße Anwendung? Sie können sich Ihre sachgemäße Anwendung sonst wohin …“
    Sie holt tief Luft und fügt etwas ruhiger hinzu: „Es ist mir egal, wieviel tausendmal Sie diese Maske schon verkauft haben. Ich will wissen, wie man die Wirkung rückgängig machen kann.
    BITTE!“ Das letzte Wort kommt flehend heraus.


    Langsam wird die Telefonistin ein wenig unruhig. „Was genau ist denn passiert? Wir haben Hyper 4D an zweitausend Probanden getestet. Es sind keinerlei Unverträglichkeiten bekannt. Alle Testpersonen sind mit dem Ergebnis absolut zufrieden.“


    „Ja, ja, alle Testpersonen sind zufrieden. Das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Ich sehe aus wie … ich sehe aus …“ Der Anruferin versagt die Stimme.


    „Dann beschreiben Sie mir doch bitte, was geschehen ist und wie Sie jetzt aussehen.“ sagt die Telefonistin vorsichtig.


    Ein gequältes Lachen ist die Antwort. „Mein Mann und ich wollten heute unsere Silberne Hochzeit feiern. Ich wollte doch … ich wollte schön aussehen für meinen Mann.“ Ein tiefer Seufzer folgt. „Deshalb dachte ich, ich mache es besonders gründlich und lasse die Maske zehn Minuten länger drauf als angegeben.“


    Die Telefonistin zuckt zusammen. „Aha, Sie haben also entgegen der Anweisung auf der Packung gehandelt.“


    „Ja, das habe ich. Ich wollte doch so jung und strahlend wie in der Werbung aussehen.“ Wieder ein Schluchzen.


    „Und, was war das Ergebnis?“


    „Mein Mann kam früher als erwartet nach Hause, ich hatte die Maske gerade erst abgenommen. Er sah mich an und sagte … er sagte …“ Das Schluchzen wird wieder stärker.


    Die Telefonistin rutscht nervös auf ihrem Stuhl herum und fragt nach: „Was hat Ihr Mann gesagt?“


    „Oh hallo Katrin, Du hier? Ist Mutti auch zu Hause?“

  • "Welten"
    Thema: Horizont
    Autor: churchill
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    Ich frag dich, ob du meinen Text verstehst.
    Du sagst: Natürlich, ich versteh dich immer.
    Dass du das sagst, macht es für mich noch schlimmer,
    weil du mir so sehr auf die Nerven gehst.


    Wenn ich in Rätseln spreche, bleibst du stumm,
    bemühst dich nicht, die Knoten aufzuschnüren
    und dem Geheimnisvollen nachzuspüren.
    Du willst nicht und du kannst nicht. Du bist dumm.


    Ich mag Sarkasmus und die Ironie.
    Du magst es schlicht und einfach. Einfach schlichter.
    Du bist mein Jugendfreund. Und ich der Dichter.
    Du hast nen Job. Und ich hab Phantasie.


    Ich räsoniere über Lessing, Kant.
    Du redest über Autos, über Frauen,
    um beide dann auch gierig anzuschauen,
    was ich schon immer ziemlich peinlich fand.


    Du lebst in einer völlig andren Welt.
    Wir teilten irgendwann mal unsre Zeiten,
    dann öffneten sich nur noch mir die Weiten,
    ich suchte die Erkenntnis. Du das Geld.


    Ich war stets offen für die Weisheit. Du
    bist intellektuell recht knapp bemessen.
    Dir geht’s ums Ficken, Saufen und ums Fressen.
    Ich komm aus vielen Gründen nicht dazu.


    Ich ließ dich in der alten Welt zurück.
    Die neue kann ich nicht mehr mit dir teilen,
    weil geistig Arme in den unt’ren Sphären weilen.
    Ich suche in der hohen Kunst das Glück.


    Und ab und zu, da lass ich mich herab,
    dir deine Dummheit gütig zu verzeihen.
    Du, kannst du mir mal tausend Euro leihen?
    Ich bin g’rad zufällig ein bisschen knapp ...