Gargoyle / The Gargoyle - Andrew Davidson

  • Paulo Coelho trifft Ken Follett

    Es beginnt verheißungsvoll: Da ist ein junger, exzellent aussehender Mann, hedonistisch, ein bisschen misanthropisch, der einen schweren Unfall baut, unter Drogen, sogar - etwas klischeehaft - mit einer Flasche Whiskey in der Hand. Das Auto fängt Feuer, und mit ihm verbrennt jener Mann - fast. Extrem schwer verletzt wird er in eine Spezialklinik für Verbrennungsopfer eingeliefert, wo der ehemalige Pornodarsteller und Lebemann unermüdlich Operationen unterzogen wird, die Davidson haarklein schildert. Der Schmerz, den seine Hauptfigur durchleben muss, wird fast greifbar. Minutiös schildert der Autor die Eingriffe, erläutert die medizinischen Hintergründe, dringt in das Seelenleben seiner geschundenen Hauptfigur ein, die alles verloren hat, was ihr je wichtig war, vor allem das gute Aussehen. Und, nebenbei bemerkt, den Penis, der "wie ein Docht" ebenfalls verbrannt ist und nicht gerettet werden konnte. Folgerichtig nimmt der Protagonist die martialischen Behandlungen auch nur hin, weil er auf den Moment der Entlassung wartet, wonach er sich stantepede umbringen will. Seine Gedanken kreisen um nichts Anderes. Schließlich hat er den Sinn seines Lebens verloren.


    Doch dann tritt Marianne Engel auf den Plan, eine merkwürdige, auf ihre Art sehr attraktive Frau, die in der selben Klinik zuvor Psychiatriepatientin war. Die Frau verbringt viel Zeit am Bett des verunstalteten, wie ein "Monster" aussehenden Verbrennungsopfers und erzählt ihm aus einer siebenhundert Jahre zurückliegenden Vergangenheit, in der die beiden angeblich ein Liebespaar waren. Marianne war damals eine Nonne, Schriftgelehrte in einem Kloster, das für seine Übersetzungen berühmt wurde, und lernte den vermeintlich reinkarnierten Pornostar kennen, weil der - wiederum als Verbrennungsopfer - ins Kloster gebracht wurde. In ihrer Fassung der Geschichte war der Patient damals Söldner. Nach seiner Heilung flohen die beiden, wurden ein Paar, doch die Söldnertruppe blieb auf der Spur des Deserteurs.


    Der entstellte Jetztzeit-Mann gewinnt durch Marianne Engel wieder so viel Lebensmut, dass er nach dem Klinikaufenthalt zu ihr zieht und die Selbstmordgedanken vergisst. Die Frau ist Bildhauerin und fertigt in einem kräftezehrenden Prozess Gargoyles, also jene Mischwesen, die früher als Wasserspeier zum Beispiel auf Sakralbauten gesetzt wurden. Ihre Figuren sind beim Publikum so beliebt, dass Marianne Engel ein mehr als gutes Auskommen hat, aber der Entstehungsweg führt die Künstlerin jedes Mal an den Rand der Selbstzerstörung. Zwischen den erzählten Episoden aus der vermeintlichen Vergangenheit des Paares fällt sie immer wieder in eine Art Trance, die erst beendet wird, wenn sie einer neuen Gargoyle-Figur eines ihrer gut zwei Dutzend Herzen gespendet hat, über die sie verblüffenderweise und irgendwie metaphorisch verfügt. Metaphern - leicht erkennbare wie auch ein wenig verrätselte - spielen in "Gargoyle" ohnehin eine große Rolle.


    So verheißungsvoll, wie der Roman beginnt, so quälend, ermüdend und nervtötend wird er später. Der lässige Anfang, der so präzise und eindringlich erzählt ist, war, wie sich später herausstellt, nur das vom Autor in Kauf genommene Übel, um seine pathetische Botschaft vermitteln zu können, und die lautet, vereinfacht gesagt: Atheismus ist Pornographie. Der Held wird am Ende zwar nicht vordergründig geläutert, aber durch Traumsequenzen und Zitate aus Dantes "Hölle" doch recht deutlich auf den "richtigen" Weg geführt, den Weg der Liebe, der Transzendenz, des selbstlosen Seins. Jene paar Zweifel, dem nach dem tragisch-klebrigen Ende bleiben, können als Zugeständnis an nicht ganz so esoterische Leser verbucht werden.


    Da hat ein fraglos sehr fähiger Autor viel Erzähltalent in eine Mogelpackung investiert, die sich liest, als hätten Paulo Coelho und Ken Follett zusammen einen draufgemacht. Was ein cooles und spannendes Buch hätte werden können, entwickelt sich etwa ab der Mitte zu einem Kirchengesangsbuch für die Iny-Lorentz-Generation. Gut und Böse sind so konturiert gezeichnet, dass es einer Karikatur gleichkommt. Mag sein, dass viel Recherchearbeit in den Klinikszenen und den Rückblenden aus der Vergangenheit steckt, aber die abgeschmackte und vordergründige Botschaft reißt dem Roman am Ende schlicht die Beine weg. Immerhin ist es besser geschrieben als die Traktate des Eso-Hippies Coelho, aber ein besseres Buch ist es deshalb noch lange nicht. Ganz im Gegenteil.

  • "Gargoyle" habe ich vor einigen Wochen auch gelesen, nachdem es mir empfohlen worden ist und ich eine interessante Rezension gelesen habe. Und es hat mich keineswegs enttäuscht. :-) Überrascht hat es mich allerdings schon, irgendwie hatte ich doch etwas Anderes erwartet, aber das muss ja nicht unbedingt etwas Negatives sein.
    Vor allem die Liebesgeschichte war anders als erwartet - und trotzdem hat sie mich sehr berührt, ohne dabei kitschig zu sein.
    Ich mag auch den Stil von Andrew Davidson. Klar, präzise, oft knallhart auf den Punkt gebracht. Jedenfalls wird nichts beschönigt. Teilweise zwar nichts für schwache Mägen, aber das hat mich nicht gestört.
    Nur am Anfang habe ich etwas Durchhaltevermögen gebraucht, aber irgendwann hat mich die Geschichte einfach gefesselt.
    Jedenfalls mag ich die etwas skurrilen Protagonisten, ich mag es, wie die Geschichten ineinander verwoben sind - auch die historischen Passagen sind gut rechererchiert, so weit ich das beurteilen kann - und mir gefällt der schwarze Humor an einigen Stellen.
    Für mich ist es jedenfalls ein Buch, das mir eine ganze Weile nicht aus dem Kopf gegangen ist und an das ich immer noch gerne denke. Reiht sich in die Liste meiner Lieblingsbücher ein. :-)

  • Ich habe das Buch diese Nacht beendet. Zuerst mal: Der Schreibstil von Andrew Davidson ist zum Niederknien, und die Art wie das Buch aus der namenlosen Perspektive direkt an den Leser gerichtet ist, fand ich auch klasse.
    "Seine" Szenen habe ich alle sehr geliebt, die Geschichten von Marianne Engel dagegen fand ich manchmal ein wenig zäh, fast unnötig, was mich aber keinen Moment gestört hat, denn schön erzählt waren auch diese.


    Auch mich hat das Ende irgendwie völlig rausgeworfen. Ein ganz seltsames Gefühl: Das Buch war so toll - und plötzlich flog es mir weg und ich kam geistig/ spirituell/ wie auch immer einfach nicht mehr mit.
    Ich meine damit *nicht* das Abdriften in die Phantastik, das hat mich kein bisschen gestört. Ich meine eher die "Botschaft" dahinter, die sich doch ziemlich aufdrängte.
    Ich frage mich, ob ich das überhaupt alles richtig verstanden habe. ich hoffe fast, dass das nicht der Fall war - denn *wenn* ich alles verstanden habe, dann ... war's recht mau.


    Mal in Spoilern, vielleicht mag sich noch jemand mit mir darüber austauschen.
    Die vier Geschichten/ Geister:



    Dann zu "ihm":



    Und Marianne Engel



    Der Schluss legt aber nahe, dass sie quasi ihren Heiligenschein aufbekommt und ihre Absolution erhält. Oder irre ich mich da und sie müsste erneut wiedergeboren werden? Dafür wird sie mir am Ende aber zu sehr verklärt.
    Oder ist ihre Geschichte (im Gegensatz zu seiner) viel religions-kritischer gemeint, als ich das sehe?


    Vielleicht kann mir ja jemand mit ein paar Gedanken helfen.

  • Meine Meinung:
    Der Leser wird gleich in die Geschichte geworfen und bekommt hautnah den Autounfall eines 35-jährigen Mannes mit, der bei diesem Unglück bis zur Unkenntlichkeit verbrennt und während des Krankenhausaufenthaltes hadert er mit sich und der Welt - und hat nur einen Wunsch: Sobald er entlassen wird, will er Selbstmord begehen.


    Doch soweit kommt es nicht, denn in der Klinik besucht ihn die scheinbar verwirrte Bildhauerin Marianne Engel. Die wunderschöne Künstlerin steinerner Gargoyles erzählt ihm eine Geschichte aus vergangenen Tagen und behauptet, sie seien im Deutschland des 14. Jahrhunderts ein Liebespaar gewesen. Immer öfter besucht ihn Marianne und erzählt immer neue Gegebenheiten aus längst vergangenen Tagen.


    Wir begegnen neben dem ungleichen Liebespaar Schwester Marianne und einem Söldner auch im Jahre 1347 dem Florenzer Schwertmacher Francesco und seiner Frau Graziana, dem britischen Ehepaar Tom und Vicky Wennington, einer japanischen Glasbläserin namens Sei und dem isländischen Krieger Siguror. Wie hängen die Lebensgeschichten dieser unterschiedlichen Personen zusammen? Soll er Marianne Engel glauben oder ist sie nur einfach verrückt?
    Diese und andere Fragen beantworten sich im Laufe der spannungsgeladenen Geschichte.



    Der namenlose Protagonist, ein Atheist, der eine lieblose Kindheit und eine Karriere in der Pornobranche hinter sich hat, erlebt diese fast unwirklichen Begebenheiten in einem Strudel aus den unterschiedlichsten Gefühlen, wie Wut, Zorn oder auch Resignation. Denn er denkt, dass er vor dem Unfall schön und begehrenswert war und nun nur noch ein verbranntes Stück Fleisch ist...
    Als unser "Held" Selbstmordgedanken nachhängt, taucht die gläubige, geheimnisumwitterte Bildhauerin Marianne Engel auf und bringt ihn mit ihren Erzählungen auf andere Gedanken.
    Und in der Gegenwart helfen die Pysiotherapeutin Sayuri Mizumoto, der Psychiater Dr. Gregor Hnatiuk und die Verbrennungsspezialistin Dr. Edwards, um den Verbrennungsopfer den Weg in ein neues Leben zu ebnen.


    Alle Charaktere sind facettenreich, gefühlsintensiv und wunderbar herausgearbeitet, sei es die von ihren Gargoylestatuen besessene Bildhauerin, das an Suizid denkende Verbrennungsopfer oder die vielfältigen Nebenfiguren, die sich harmonisch in das Geschehen einfügen.


    Abwechselnd erzählen der (anfangs etwas unsympathisch wirkende) namenlose Mann und Marianne Engel jeweils aus ihrer Sicht (in der Ich-Form) einen Großteil der Geschichte. Doch auch die Nebencharaktere kommen zu Wort und erzählen das Erlebte aus ihrer Perspektive.


    Eigentlich hätte ich mir mehr Fantasyelemente erwartet, doch die gekonnte Mischung aus Liebesgeschichte und historischem Roman zieht einen in ihren Bann, so dass man das Buch ungern aus der Hand legt. Beim Lesen verwischen Realität und Fiktion und bieten so dem Leser Abwechslung und großartige Unterhaltung.


    Der Spannungsbogen baut sich rasch auf und lässt trotz der 572 Seiten nicht nach. Außerdem lässt sich der Schreibstil lässt sich als klar, rasant und schonungslos beschreiben. Leider hat es sich nicht vermeiden lassen, dass sich meine Taschenbuchausgabe ein paar Buchrücken-Knicke zugezogen hat - und das, obwohl ich sooo aufgepasst habe.


    Fazit:
    Mit "Gargoyle" hat Andrew Davidson einen mitreißenden Debütroman erschaffen, der seinesgleichen sucht und mich fasziniert & berührt hat. Für dieses Erstlingswerk vergebe ich liebend gern 10 PUNKTE!

  • ich höre Gargoyle gerade. Und muss gestehen, ich hätte anfangs gerne abgebrochen - die unendlichen medizinischen Ausführungen in immer wiederkehrender Folge haben mich wahnsinnig gemacht. Jetzt, da Marianne Engel in`s Spiel kommt, wird es spannend und ich bin gespannt wie es weitergeht.

  • Ich bin jetzt auf Seite 300 von 572 und werde das Buch hier abbrechen.


    Bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus (Seite 69) war ich begeistert. Das war brilliant, herausragend, überwältigend … Ich fand das zum einen inhaltlich sehr interessant – wie Verbrennungsopfer behandelt werden, war mir so bisher noch nicht bekannt.
    Und der Schreibstill war auch einfach umwerfend: eindrücklich geschildert und dazwischen immer dieser Sarkasmus der Hauptperson. Alles sehr nachvollziehbar. Ich hab manchmal sogar der Hauptfigur in Gedanken geantwortet, z.B. als er schildert, wie seine Brandverletzungen mit Schweinehaut abgedeckt werden und sich dann fragt, ob das bei moslemischen und jüdischen Verbrennungpatienten aus so gehandhabt wird, dachte ich: 'Klar Mann. Probleme gibts eigentlich immer nur bei den Zeugen Jehovas.' ;-)
    Oder als er en detail schildert, wie er seinen Selbstmord nach der Entlassung aus dem Krankenhaus durchführen will und dann mal meint: "Ganz schön clever, was?", dachte ich: 'Ja, Mann. Echt clever. Wenn das nicht klappt, weiß ich aber auch nicht.'
    Selten hab ich so einen guten Text gelesen.


    Ab der Entlassung aus dem Krankenhaus fand ich das Buch aber nur noch flach. Eso-Tante Marianne hat mich genervt, die Geschichten in der Geschichte waren mir zu märchenhaft-naiv formuliert und die Story an sich … auhweia.
    Mir ist schon klar, dass, wenn ein Buch so fulminant beginnt, dieses Niveau nicht durchgehend bis zum Ende gehalten werden kann. Deshalb hab ich auch immer noch gehofft, dass es das Buch noch mal reißen kann.
    Nun hab ich mir Euren Rezi-Thread durchgelesen und die Diskussion zum Ende des Buches … und geb’s jetzt auf.


    Ich schließe mich Toms Rezi an, Tom hat das sehr schön auf den Punkt gebracht.

  • So viel Lob für dieses Buch. Die Buchrückseite eine Sammlung an Superlativen. Meine Erwartung war groß. Die Enttäuschung deshalb auch.


    Der Anfang war vielversprechend, ich bin mit großer Neugier eingetaucht in die Berichterstattung des namenlosen Ich-Erzählers. Allerdings war das, was ich zu lesen bekam, weit entfernt von dem vielgerühmten Liebesroman, den ich angeblich in Händen hielt.
    Der Leser darf nicht zimperlich sein, wenn der Ich-Erzähler eindringlich von seinem Autounfall erzählt, von seinen zahlreichen Verletzungen berichtet, anschaulich schildert, wie sich ein Verbrennungsopfer fühlt.


    Eine gewisse Magenrobustheit ist ebenfalls von Nöten, wenn die Behandlungsmethoden von Verbrennungsopfern plastisch geschildert werden. All dies tut der Autor mit einem Tonfall sarkastischer Fröhlichkeit, der dem Grauen die Spitze nimmt und einen sogar über schreckliche Sachverhalte schmunzeln lässt.


    Zu einem Liebesroman gehört ein Paar. Nach ausgiebigem Kennenlernen des männlichen Parts dieses Duos (der übrigens vor seinem Unfall Pornoproduzent und -schauspieler war - interessante Note :grin), taucht auf Seite 69 nun endlich die Frau dazu auf.


    In Rückblenden erfahren wir von ihrem früheren Leben aus dem 14. Jahrhundert. Der Mann hält sie für schizophren, ist nichtsdestotrotz fasziniert von ihr. Ich leider weniger. Mir ihrem Auftauchen bekommt die Geschichte eine krude Note und wird leider ziemlich langatmig. Es geht um Theologie, um Buße, Sünde und Selbstkasteiung.


    Zaghaft habe ich mich weitere Seiten durch das Buch geangelt. Nach 123 Seiten habe ich beschlossen, mir mal die negativen Rezensionen zu diesem Buch anzuschauen und fand mein Leseerlebnis bestätigt: grandioser Beginn, rascher Abstieg in die Langeweile. Für mich die Bestätigung, das Buch abzubrechen.


    Für eine vollständige Rezension von jemandem, der das Buch auch tatsächlich ganz gelesen hat, verweise ich auf die eindrückliche Schilderung von Tom Liehr. Sie scheint mir, nach dem was ich gelesen habe, sehr zutreffend zu sein. Den belehrenden, läuternden Teil der Geschichte erspare ich mir.


    (Zumal ich Coelho und Follett beide nicht goutiere.)