Maigret und das Dienstmädchen - Georges Simenon

  • OT: Félicie est là - 1942



    Maigret ermittelt ein gutes Stück außerhalb von Paris, in einer Neubausiedlung, einer Art Gartenstadt, deren rosa oder himmelblaue Häuschen und die künstlichen Tiere in den abgezirkelten Vorgartenbeeten nur verraten, wie armselig die Träume ihrer Bewohner sind. In einem der Häuschen wurde der Rentner Jules Lapie erschossen aufgefunden. Er war ein Einzelgänger, mürrisch, geizig, nicht einmal die Tatsache, daß er aus Maigrets geliebter Normandie stammt, bringt ihn dem Kommissar näher. Lapie wurde nur Holzbein genannt, seit er auf einer Seefahrt ein Bein verlor. Immer wieder muß sich Maigret selbst daran erinnern, warum er eigentlich in dieser scheußliche Gartenkolonie herumstolpert. ‚Holzbein ist ermordet worden’, wird sein Kernsatz.


    Er hat noch einen zweiten, nämlich ‚Félicie ist da.’ Dieser Satz rührt vom Kern des Problems, vor dem Maigret diesesmal steht, und das ist eben nicht der Mord. Der Kern des Problems ist diesesmal Maigret selbst, besser gesagt, es sind seine Vorurteile. Er weiß es selbst, es ist ihm peinlich, aber er kommt lange nicht dagegen an. Es ist Félicie, die ihn sozusagen auf dem falschem Fuß erwischt hat. Félicie ist diejenige, die den Toten gefunden hat, sie lebte mit ihm in seinem Häuschen, das den stolzen Namen ‚Kap Hoorn’ trägt. Aber Félicie ist nicht leicht einzuordnen. War sie Lapies Dienstmädchen? Das bestreitet sie energisch. War sie seine Tochter? Sie ist erst 24 Jahre alt. Auch das wehrt sie empört ab. Seine Geliebte? Ein Sturm der Entrüstung entlädt sich über dem Kommissar. Félicie ist nicht zu packen. Maigret ist wütend. Wer ist diese junge Frau? Er findet sie häßlich, überspannt, theatralisch, lächerlich. Diese gräßlichen bunten Kleider! Diese Groschenroman-Mentalität! Er kann sie nicht ausstehen.
    Dennoch fasziniert sie ihn, er muß wissen, wer sie ist und wie sie ist. Und so dauert es eine gute Weile bis zur Lösung des Falls, weil Maigret - ein ebenso großer Dickschädel wie Félicie - das falsche Problem auf die falsche Art hin - und herwälzt, eher er den richtigen Dreh findet.


    Der zugrundeliegende Kriminalfall ist gut ausgedacht, die Figuren, Jules Lapie ebenso wie Félicie sind ausgezeichnet charakterisiert, vor allem Lapie gewinnt nahezu tragische Dimensionen und das, wie immer meisterlich gelöst, mit wenigen kurzen Beschreibungen.
    Die Konstruktion erweist sich am Ende als ein wenig abenteuerlich, aber tatsächlich paßt alles zusammen, die Siedlung, die Menschen und Paris. Einige Ahnungen Maigrets kommen ein wenig sehr überraschend, im Nachhinein vermittelt die Geschichte den Eindruck, daß der Autor die Kurve gerade so eben noch gekriegt hat. Der Mittelteil wirkt streckenweise unkonzentriert, da scheint sich Simenon von Satz zu Satz zu hangeln in seiner Bemühung, die tatsächlichen Ereignisse, die zum Mord führten, zu verschleiern.


    Die äußeren Zutaten stimmen, wie immer. Man spürt den Frühling in der Kolonie, teilt Maigrets schlechte Laune, leidet mit Lucas und Janvier, die wieder einmal die undankbaren Aufgaben des Beschattens und Bewachens übernehmen müssen. Maigret versorgt sie wie ein Vater mit Butterbroten, Chef der er ist, behält er die Leckebissen allerdings für sich. Daß seine Untergebenen das bemerken, bringt einen Hauch von Selbstironie in diesen Krimi, die ihnen sonst eher fremd ist.
    Die Ermittlungsmethoden, besser, ihr fast vollständiges Nichtvorhandensein, stimmen sie beim Lesen hübsch nostalgisch. Maigret hat nicht einmal ein Auto, um zwischen der Gartenkolonie und dem nächsten Ort, wo er im Hotel logiert, hin - und herzufahren. Man leiht ihm großzügig ein Fahrrad. Kein Wunder, daß er den Rosé des Ermordeten mit Freuden genießt.


    Kein ‚großer’ Maigret, aber eine Geschichte, bei der man sich beim Lesen an der Fülle der Details erfreuen kann. Und an Félicie, an der sich Maigret fast die Zähne ausgebissen hätte. Die jungen Mädchen heutzutage sind einfach nicht mehr das, was sie einmal waren!

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus