Vampire haben Konjunktur. Tatsächlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß diese Konjunktur geradezu zu einer Flutwelle angewachsen ist. Es gibt Kinderbücher, Filme, Schlager, Comics, Kaffeebecher, Plastikfiguren, Krimis, Pornos, Schokolade, Historienschinken, Kekse, Schnulzen, Lakritze, Science-Fiction, Schulhefte, Seife, Jugendbücher, Gedichte, Bastelbogen, T-Shirts und G-Strings mit diesen Gestalten der Finsternis.
Kein Wunder, daß sich die Fangzähne, für die Vampire berüchtigt sind, in letzter Zeit ziemlich abgeschliffen haben. Sie können nicht mehr zubeißen, sie kitzeln meist nur noch, und zwar vor allem die Lachmuskeln.
Hin und wieder aber kommt es tatsächlich vor, daß aus den Fluten etwas emporsteigt, das sich vom Einheitsbrei abhebt. Bei dem vorliegenden kleinen Buch, das von Aufmachung und Format her am ehesten an eines der modernen Reclam-Heftchen erinnert, ist das durchaus der Fall.
‚Kurzgeschichten und Anekdoten’ lautet der zweite Untertitel. Kurzgeschichten ist hier wörtlich zu nehmen, die Texte, insgesamt dreißig, sind selten länger als eine Seite.
Die Vampire, ihr Gegenstand, lauern in allen Lebenslagen. Es gibt Abenteuer - und Rächergeschichten, Märchen, Historisches, Zeitgenössisches und Zukünftiges. Das Thema wird in allen möglichen Variationen durchgespielt. Es sind auch Variationen dabei, die zunächst unmöglich erscheinen, mit einer einzigen Wendung, nicht selten den letzten zwei Sätzen, aber dennoch gelingen.
Sehr originell sind die Neu-Interpretationen altbekannter Stoffe, sei es, daß sie Weltliteratur, sei es, daß sie der Pop-Kultur entstammen. Nicht nur Rapunzel hat sich verändert, auch die Gralsgeschichte sieht auf einmal ganz anders aus. Poes Rabe bekommt eine neue Rolle zugesprochen und die Sache mit Moses und dem Roten Meer erscheint in einem wahrhaft anderen Licht und das in ägyptischer Finsternis!
Batman, Borgs und James Bond haben ihre Auftritte, einmal auch gegen die bis dahin immer die gleiche Richtung gebürsteten Erwartungen. Die Überraschungen gelingen.
Der Erzählton ist ruhig, geradezu gelassen, die Sprache unaufdringlich und schlicht. Hin und wieder wünscht man sich einen letzten Feinschliff. Das Raffinement des Ganzen aber liegt nicht im Sprachlichen, sondern in der Konsequenz, mit der neue Geschichten erzählt oder alte Stoffe umgedeutet werden. Darin liegt der Wert.
Druck - oder Satzfehler sind ganz wenige zu verzeichnen, der Satzspiegel könnte schöner sein.
Keine Geschichte ist versöhnlich oder romantisch, hier wird nicht geschönt oder gar überzuckert. Auch nicht dann, wenn die Geschichten eine Sehnsucht erkennen lassen, etwa die, daß die Menschen nicht gar so grausam zueinander wären. Das Vampir-Dasein mag eine Lösung sein, doch auch sie hat ihren Preis.
Vampire sind nicht in jedem Fall die strahlenden Sieger, sie können ihrerseits zum Opfer werden. Den Vampir-Kosmos um andere, gefährlicher Feinden zu erweitern, ist ein wenig arg an den Zeitgeist angelehnt und in keinem Fall ganz neu.. Dennoch entwickeln auch diese Geschichten, einen gewissen Reiz beim Lesen.
Der Gruseleffekt schleicht sich auf sanften Pfötchen an, er liegt weniger im Sinnlichen, als in der Erkenntnis der jeweiligen Lage. Ebenso sanft ist der Humor, der ab und zu aufblitzt. Daß es wenig zu lachen gibt, ist ebenfalls konsequent. Die Vampire in dieser Sammlung sind bei allem unleugbar Spielerischen eine ernsthafte Angelegenheit.
Von daher gesehen, kann man darüber streiten, ob die Entscheidung des Autors, die Geschichtensammlung ‚Anekdoten’ zu nennen, zur humoristisch-verschmitzten oder zur ernsthaften Seite gehört. Bekanntlich haben Anekdoten ja einen wahren Kern.
Interessantes kleines Buch, auch (oder gerade?) für LeserInnen, die dem Vampir-Fieber immer ausgewichen sind.