Die letzten Aufzeichnungen aus Udo Posbichs Druckerei - Katja Lange-Müller

  • Diese wunderliche Geschichte erschien zum erstenmal im Jahr 2000. Es ist die Geschichte von einem Ende und auch von einem weiteren Anfang, dessen Ende fast umgehend eintritt und doch offen bleibt.


    Posbichs Druckerei ist ein kleiner Privatbetrieb in der sonst von Staatsbetrieben beherrschten DDR. Das Unternehmen, mit seinen verstaubten und altmodischen Maschinen, ist geduldet, ebenso wie die, die dort arbeiten, nur geduldet sind. Es sind Existenzen am Rand, eigenartige, seltsame Charaktere, auch am Rand der geforderten Leistungsfähigkeit. Manche sind nicht einmal richtig arbeitsfähig in dem Beruf, für den sie ausgebildet wurden. Allen voran Püppi, die Setzerin, die Linkshänderin ist und, gezwungen mit der rechten Hand zu setzen, noch für eine Seite viel zu lange braucht. Selbst dabei macht sie noch Fehler. Dann ist da Manfred, bei dem katatonische Schizophrenie diagnostiziert wurde, weil er im Schnurren und Surren und Ticken mechanischer Werke die Stimmen vernimmt, die eigentlich zu ihm sprechen. Maschinen sind seine Freunde, mit Menschen wurde er nie recht warm.
    Der dritte ist Willi, ein alter Hase im Setzerberuf, grau wie der Bleisatz, an Haut und Haaren. Er spricht mehr als selten, und wenn er etwas sagt, dann immer nur die zwei gleichen Reime und immer in der gleichen Reihenfolge. Trotzdem ist er Püppis letzte Rettung, er stellt in der Regel ihren Satz fertig, weil sie sonst nie damit zu Rande kommen würde.
    Fritz ist der vierte Angestellte, seine psychische Eigenheit geht auf eine Entwicklungsstörung noch vor seiner Geburt zurück, die ihn nur indirekt betraf, ihn aber nachdrücklich prägte. Blaß steht hinter ihnen der Chef, Herr Posbich, und doch ist er es, der alles, was eigentlich passiert, überhaupt erst in Bewegung setzt und damit der Grund wird für den Ablauf der Handlung.


    Erzählt wird die seltsame Geschichte von Püppi, der Ich-Erzählerin. Sie, ungeschickt, unhübsch, sucht Liebe und Wärme, was sie bekommt, sind aber nur Geschichten. Zuerst die von Fritz, dann die von Manfred, obwohl diese Reihenfolge Püppis Biographie nach nicht richtig ist. Am Ende hört sie über Posbich auch die von Willi. Erst in diesem Moment setzt sich für die LeserInnen die ganze Geschichte zu einer Einheit zusammen. Die Autorin spielt also bis zuletzt mit dem, was Satz ausmacht, nämlich das Zusammenfügen von winzigen Einzelheiten zu einem großen Ganzen.


    Das wiederum wird zum Bild des Lebens. Die vier Personen (oder fünf?) bilden keine echte Gemeinschaft, sie sind nur Schicksalsgenossen. Eine Gruppe aus Zufall, aus einer Art Not, eine flüchtige, vergängliche Gemeinschaft. Als die Druckerei geschlossen wird, zerfällt auch die Gruppe. Jede und jeder geht wieder eigene Wege. Wie und wohin, bleibt letztlich offen. Nichts ist von Dauer, Beziehungen unter Menschen schon gar nicht. Überdauern kann höchstens der gedruckte Text. Der wiederum birgt hier Geheimnisse. Kaum hat man sie aber erfahren, sind auch sie verschwunden. Was bleibt, ist allerdings der Anreiz, ihnen noch lange nachzusinnen.


    Da das Geheimnis in der Satztechnik liegt, ist das Büchlein auf seine spezielle Art eine stille Liebeserklärung an einen ausgestorbenen Beruf, den der Handsetzerin. Etwas muß man lieben, man ist ja Mensch. Manfred liebt Maschinen, Püppi verliebt sich in eine Gloxinie, Fritz liebt seinen ‚Geburtsfehler’, Posbich das Geld und Willi seine Kunst. Alle lieben den Schnaps, der Alkoholpegel ist erschreckend hoch. Vielleicht liebt jede und jeder auch nur sich, aber wer kann es ihnen verdenken?
    Gehaßt wird auch, in dieser Hinsicht wartet der Text mit einigen Überraschungen auf. Das eine oder andere kann versöhnlich gestimmte Gemüter verletzen.


    Erzählt wird in einer sehr präzisen Sprache, die allerdings zu recht vertrackt gebauten langen Sätzen formiert wurde. Nicht selten verändert sich durch einen weiteren, dritten, vierten, Nebensatz auf einen Schlag die ganze Aussage. ‚Holperer’ beim Lesen sind absichtlich eingebaut. Die Schrullen und Verschrobenheiten der Figuren werden ausführlich und sehr ernsthaft beschrieben, es ist eine Art Freak-Show, aber geurteilt wird nie. Noch wird man dazu aufgefordert, zu urteilen. Es wird einfach eine Geschichte erzählt, die sich aus weiteren Geschichten zusammensetzt. Alles ist verschroben, die Handlung, die Figuren, die Sprache. Zugleich ist es glasklar. Das ist hohe Kunst.


    Das kleine Rätsel, das der Titel nennt, die ‚letzten Aufzeichnungen’ wird am Ende gelöst, wie es sich gehört, aber auch diese Lösung ist so skurril wie der ganze Rest. Daß die drei kyrillischen Buchstaben, um die es geht, in meiner Ausgabe zum Teil falsch wiedergegeben werden, störte meinen Genuß allerdings empfindlich. Zum Verständnis und im Kontext des Buchs ist es wichtig, daß sie korrekt gesetzt werden.


    Eine merkwürdige Geschichte, merkwürdig im Wortsinn, denn sie regt noch lange dazu an, über sie nachzusinnen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus