Vierzig Gedichte sind hier zusammengestellt worden, mit einem Ziel: sie sollen eine zum Schaudern bringen. Sie tun es.
Zunächst einmal kann man vor Ehrfurcht schaudern. Hier versammeln sich die ‚großen’ Namen der deutschsprachigen Lyrik aus drei Jahrhunderten, von Andreas Gryphius bis Rainer Kirsch. Schiller, Celan, Lasker-Schüler und Goethe, Eichendorff und Agnes Miegel, Peter Maiwald und Theodor Fontane, Georg Heym und Anette von Droste-Hülshoff. Fehlt einer? Brecht? Hier. Dehmel? Lenau? Mascha Kaléko? Alle sind sie da, selbst Seltenheiten wie Franz Fühmann oder Hermann Lingg, für dessen Gedichten man immer noch auf die Ausgabe von 1905 zurückgreifen muß.
Unter den ausgewählten Autoren finden sich auch solche, die nur noch für Kennerinnen und Kenner zu den ‚Großen’ gehören, Ludwig Uhland etwa, Mörike, Geibel und Freiligrath. Dazu gibt es Neuentdeckungen, Anastasius Grün z.B., der in den Literaturgeschichten als politischer Lyriker gilt, August Kopisch, bei dem man sich eigentlich nur noch an die Kölner Heinzelmännchen erinnert, das inzwischen leider zum Kindergedicht abgesunken ist oder den Lothringer Karl August Candidus. Die Auswahl ist an sich schon faszinierend und beeindruckend.
Fast ein Dutzend Epochen und Strömungen der Literaturgeschichte sind vertreten, Barock und Existenzialismus, Romantik und Realismus, Klassik, Sturm und Drang und Naturalismus.
Reichtum an äußerer Form ist trotz der thematischen Beschränkung vorhanden. Ballade und Lied, Strophen zu zweien, dreien und mehr oder gar keine, gereimt und reimlos, strenges Metrum oder freie Verse, das Genre zeigt sich beeindruckend variationsreich.
All das bildet den soliden Untergrund für das kaum Faßbare, für Hexen und Geister, Mord und Nixen, Unglücksfälle und Gespenster, für das Seltsame, Fremde, Unerklärliche, das ins Leben der Menschen hereinbricht und es meist zerstört. Nicht selten ist der Tod die Hauptfigur. Das Grauen ist dem Gruseln ganz nah.
Inhaltlich sind die Gedichte ohnehin eher dem Grauen gewidmet als dem sanften Schauder. Es werden großartige Geschichten erzählt, von Pest, Krieg oder fataler Geschwisterliebe, von den Toten auf dem Meeresgrund, nächtlichen Reitern in der Luft oder auf dem Eis des Sees, von einer einstürzenden Brücke und einer Heide, die ein Dorf auslöscht. Alte Vertraute wie Die Brücke am Tay, Der Reiter vom Bodensee, Das bucklicht Männlein, Graf Richard von der Normandie und natürlich Morgensterns Zwölf-Elf stehen neben Schreckensvisionen wie Fühmanns überraschendem Frau Trude und dem verrätselten Auf der Jagd nach meiner Seele von Gerhart Hauptmann, der hier für einmal fast Celan schlägt. Das beunruhigendste moderne Liebesgedicht allerdings stammt von Peter Maiwald.
Eichendorff genügen acht Zeilen, um die Leserin zu verstören, Gryphius nimmt sich die Freiheit, viele Dutzend Verse von seinen Kirchhofsgedanken zu dichten. Daß der Herausgeber 34 davon abdruckt (es sind insgesamt 47), ist ihm hoch anzurechnen. Kaléko baut zwei kurze Gedichte aneinander, die Grusel, Trost und Widerhaken enthalten, Ina Seidel erzählt in dreizehn achtzeiligen Strophen eine seltsame Geschichte,Regenballade in der er es vor Schleim und Ekel bald ebensosehr trieft wie vor dem Regen, der unablässig fällt. Daß das alles dank Seidels Sicherheit im Ungang mit der Sprache geradezu schön kling, erschüttert eine beinahe mehr als die gespenstische Geschichte.
Überhaupt sollte man sich beim Lesen ganz auf die Sprache und den Klang der Wörter einlassen. So neugierig die Fülle und Vielzahl des Gebotenen macht, ist man gut beraten, wenn man sich Zeit nimmt für die Lektüre. Man kann die Gedichte laut lesen und leise, murmeln, flüstern, deklamieren. Man kann sie gestisch lesen, geradezu inszenieren. Vom oft ungewohnten und älteren Vokabular darf man sich nicht abschrecken lassen, es ist nur ein weiterer Beitrag zu dem Seltsam-Schauerlichen, das eine hier erwartet.
Ein als ‚Epilog’ hinzugenommenes Gedicht von Gerd Sonntag, mit dem Titel Entgeisterung schließt die gelungene Auswahl ab. Es ist ein Trug, ein verführersicher Köder, den man vielleicht schluckt, der sich aber als nicht verdaulich erweist. Geister und Nixen mögen sich nicht mehr zeigen, ein algenüberwachsener Schädel mag eine heutzutage, fast erstickt in einer allumfassenden Welt schnellwechselnder Bilder, nicht mehr recht erschrecken, aber Erinnerungen tun es.
Ein AutorInnenverzeichnis informiert über die Lebensdaten und Werkausgabe, ein bißchen wenig. Falls man auf die eine oder den anderen der AutorInnen neugierig wird, muß man sich selber bemühen, die Neugier zu befriedigen. Ein interessantes Nachwort des Herausgebers Harry Fröhlich faßt Anliegen und Inhalte der Gedichte noch einmal zusammen und macht auf so manches aufmerksam, das einem beim Lesen vor lauter Schreck entgehen kann.
Schwarz wehn die Ulmen, grün scheint der Mond.
Gelungenes, spannendes, aufregendes kleines Reclam-Bändchen, das das gruselige Bild der kleinen gelben Bändchen, die die nicht selten verhaßte Schullektüre enthielten, mit Erfolg verblassen läßt und es durch das Bild dessen ersetzt, für das Reclam eigentlich steht: die preisgünstige Vermittlung von Literatur in ihren unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen.