Matt Ruff: "Ich und die anderen"

  • Von Matt Ruff liegen bisher zwei Romane vor, die zauberhaft-mystische, herzerwärmende Geschichte "Fool On The Hill" und der Fantasythriller "G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke", dessen abschreckender deutscher Titel vielleicht manch einen Leser um eine ganz erstaunliche, amüsante und ebenfalls warmherzige (Lese-)Erfahrung gebracht hat. Mit "Ich und die anderen", OT "Set this house in order", wechselt Ruff das Genre, sofern er sich zuvor überhaupt in einem bewegt hat, denn die Bezeichnung "Fantasythriller" ist für "G.A.S." durchaus vereinfachend.


    Vorweg: Ich bin erst zu zwei Dritteln durch, aber das Buch ist so unglaublich faszinierend, daß ich jetzt schon etwas dazu sagen muß.


    Andy Gage ist psychisch krank - er ist/hat eine multiple Persönlichkeit, die Psychologen nennen das Phänomen "dissoziative Persönlichkeitsstörung". Derzeit ist in den USA massiv umstritten, ob das Krankheitsbild tatsächlich existiert; einige Psychiater haben in den frühen Neunzigern so gehäuft DIS diagnostiziert, daß einige Therapien mehr Schäden hervorgerufen haben als geheilt wurden. Deutsche Psychologen sind sich weitgehend einig, daß DIS einem vorfindbaren Krankheitsbild zumindest sehr nahe kommt. Man darf nicht vergessen, daß die Diagnosen sämtlicher psychischen Erkrankungen - von der Depression bis hin zur Schizophrenie - nur Hilfskonstrukte sind, die selten ein einheitliches Bild von Symptomen oder gar ansetzbaren Therapien liefern. Ein deutscher Psychologe hat letztens gesagt: "Wir wissen nicht, ob es die Schizophrenie in zehn Jahren noch geben wird."


    Menschen mit MPS leiden unter Anmnesien, Kontrollverlusten, wechseln situationsabhängig das Persönlichkeitsbild - und sie verfügen "in" der einen Person über Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, die andere "Splitterpersonen" nicht haben. Viele DIS-Patienten wissen um ihre Krankheit nicht, und sie haben Angst, für verrückt gehalten zu werden, weil sie sich an Stunden und Tage nicht erinnern können, nicht wissen, wie sie in den Besitz bestimmter Gegenstände gekommen sind, persönliche Notizen vorfinden, an deren Erstellung sie sich nicht erinnern, die darüberhinaus in einer völlig fremden Handschrift verfaßt wurden. Deshalb sind viele dieser Menschen ihren Therapeuten gegenüber unehrlich - berichten zum Beispiel nicht von den Listen, die sie finden, an sich selbst adressiert, zwingend notwenige Hilfe bei der Bewältigung des Alltags.
    Die meisten DIS-Patienten sind in der frühen Kindheit schwer mißbraucht worden. Die Entwicklung einer Nebenpersönlichkeit ist ein Schutzmechanismus, über den tatsächlich alle Menschen verfügen, ihn aber in den meisten Fällen niemals nutzen. MPSler entwickeln diese Schutzpersönlichkeiten - es können zwei, zehn, zwanzig und mehr sein - zu eigenständigen Figuren, die je nach Situation die Kontrolle über den "Wirtskörper" übernehmen. Von einer Sekunde zur anderen ist es, als würde einem ein völlig anderer Mensch gegenübersitzen. Und oft wissen diese verschiedenen Menschen eben nicht voneinander.


    Andy Gage existiert nicht mehr. Seine bestimmende Persönlichkeit ist Andrew, der vor etwa zwei Jahren "geboren" wurde, ins Leben gerufen vom "Vater", aber nicht vom leiblichen, sondern einer Splitterperson in Andys Kopf. Der Vater hat es - mit Unterstützung einer engagierten Psychologin - geschafft, für alle Persönlichkeiten "in" Andy ein gemeinsames Haus zu konstruieren, in dem die Facetten von Andy miteinander leben. Sie sind sich einander bewußt, folgen einem Regelwerk, und Andrew, die Überperson, hat die Kontrolle. Es gibt den skeptischen Adam, einen ruppigen Fünfzehnjährigen, der jede Lüge sofort durchschaut. Es gibt den fünfjährigen Jake, der sehr schüchtern und verspielt ist. Tante Sam, die französisch spricht und Bilder malt. Und viele andere mehr. Aber Andrew hat die Gewalt über "seine" Personen, das Miteinander im Haus funktioniert gut. Er ist sich ihrer und seiner Situation bewußt, er kommt damit zurecht. Die Ursachen allerdings sind nicht ermittelt worden. Die sogenannte "Reintegration", die Zusammenführung der Einzelpersonen durch die Aufarbeitung der auslösenden Traumata, ist bei Andy nicht versucht worden.


    Andrew arbeitet bei "Reality Factory" in Seattle, einer Computerbude, die sich mit virtueller Realität befaßt. Seine Chefin Julie bringt eines Tages eine neue Mitarbeiterin an, Penny Driver, die "Mouse" genannt wird. Schnell wird klar, daß Penny auch an DIS leidet, und zwar in einem früheren, aber auch sehr viel schlimmeren Stadium als Andrew - sie neigt zur Selbstzerstörung, hat keine Kontrolle darüber, wer bestimmende Persönlichkeit ist, und sie weiß nichts von ihrer Krankheit. Penny ist von ihrer despotischen Mutter auf abscheuliche Art mißbraucht worden; ihre Kindheit war von ständiger, maßloser Angst geprägt. Julie hofft, daß Andrew Penny dabei helfen kann, mit der Krankheit zurechtzukommen. Nach einigen Anfangserfolgen entwickelt sich das Experiment auf dramatische Weise.


    Aus Andrews und aus Pennys Sicht schildert Ruff sehr eindringlich, gefühl- und liebevoll, ohne jeden Zynismus und sehr sanft, aber auch irre amüsant davon, was in ihren Köpfen vor sich geht. Das ist spannend, atemberaubend, sehr, sehr traurig, macht zornig, bringt zum Lachen und zum Weinen. Ein unglaublich schönes, toll erzähltes Buch, bei dem letztlich keine Rolle spielt, ob DIS nun - oder in dieser Form - überhaupt existiert. Eine Werbung für Acht- und Behutsamkeit, eine Anklage gegen Kindesmißbrauch, aber auch dagegen, mit Urteilen vorschnell auf der Matte zu stehen. Toll. Dringende Empfehlung.

  • Ich bin jetzt auf Seite 246 ....
    Und bin total begeistert !!!!!!!!!!!!!!!!


    Ich finde allerdings die Coverumschreibung zum Brüllen komisch sehr irreführend .... klar, Andrew beschreibt teilweise sehr aberwitzige Situationen, aber spätestens, als Pennys Geschichte so häppchenweise erzählt wird, könnte man doch glatt anfangen zu heulen, oder ???


    Ich finde dieses Buch einfach nur empfehlenswert !!!!!!!!!!!!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Hallo, Fritzi.


    Zitat

    Und bin total begeistert !!!!!!!!!!!!!!!!


    Kann mich dem nur anschließen. Ein Sog-Buch, es zieht einen wirklich rein.


    Zitat

    Ich finde allerdings die Coverumschreibung zum Brüllen komisch sehr irreführend .... klar, Andrew beschreibt teilweise sehr aberwitzige Situationen, aber spätestens, als Pennys Geschichte so häppchenweise erzählt wird, könnte man doch glatt anfangen zu heulen, oder ???


    Das Buch ist zuweilen sehr, sehr traurig, sehr hart, es hat aber auch viel liebevolle Ironie, viel Witz, allerdings eher leisen, wie ich finde, etwa als Andrew immer wieder bei Julie nachfragt, warum sie denn nun keine Beziehung haben können, oder bei den Beschreibungen davon, wie er seinen Tag organisiert. Zum Brüllen komisch ist es nicht. Es ist eher ein einfühlsamer, sehr zarter Humor.


    Zitat

    Ich finde dieses Buch einfach nur empfehlenswert !!!!!!!!!!!!


    Aber hallo. Da sagst Du was Wahres. :-) :-)

  • Wer aufgrund der HC-Kosten auf das TB warten will, dem kann ich in der Zwischenzeit "Fool on the hill" wärmstens empfehlen, das mir vor 16 Jahren schon unglaublich gefallen hat - und auch heute noch wie Tom schon sagte "herzerwärmen" ist.


    Tom, vielleicht könntest / möchtest Du ja einen Link auf Deine Amazon-Rezi reinstellen?


    Viele Grüße
    Pelican :wave

  • Zitat

    Original von Tom


    Das Buch ist zuweilen sehr, sehr traurig, sehr hart, es hat aber auch viel liebevolle Ironie, viel Witz, allerdings eher leisen, wie ich finde, etwa als Andrew immer wieder bei Julie nachfragt, warum sie denn nun keine Beziehung haben können, oder bei den Beschreibungen davon, wie er seinen Tag organisiert. Zum Brüllen komisch ist es nicht. Es ist eher ein einfühlsamer, sehr zarter Humor.


    Eben: es ist nicht "zum Brüllen komisch" sondern, wie Du so schön sagst :
    liebevoller Humor etc.


    :-)

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Zu "Fool On The Hill":


    Nachdem "G.A.S. - Die Trilogie der Stadtwerke" Furore gemacht hatte, gelangte Ruffs Debüt, entstanden zwischen 1984 und 87, natürlich auch wieder in die Verkaufscharts.


    Der erfolgreiche Autor George lebt in der Universtitätsstadt Ithaca, und er ist einer der Helden dieses Pandämoniums. Andere sind: Ragnarök, ein Schwarz-Fetischist und nicht ganz geläuterter Ku-Klux-Klan-Anhänger, Puck, ein Kobold, Luther, ein Mischlingshund, Blackjack, ein schwanzloser Manxkater, Hobart, ein Koboldältester, Rasferret, ein untoter Kobolddämon, Mr. Sunshine, Quasi-Gott und mehr als Erzähler der Geschichte, Hollister, eine Polizistin, eine Gummimaid, Kalliope, die schönste (und wandlungsfähigste) Frau der Welt, und, und, und.


    Auf dem Campus der Universität von Ithaca ist die Hölle los. Während die Hunde darum streiten, ob Mischlinge "Krätze" sind und wie die Antwort auf die vierte der Großen Fragen lautet ("Welche Rasse ist die göttlichste?"), während die "Tolkienianer" in ihrem Verbindungshaus-Keller das komplette Lothlorien (den Zauberwald aus dem "Herrn der Ringe") besitzen und als Partyraum nutzen, während sich "Prediger" in Jinsei verliebt, was Ragnarök ziemlich stört, während die Brüder der "Rho Alpha Tau" (RAT) vergewaltigen und ganz einfach bösartig sind, während Puck die Liebe von Zephyr leichtfertig aufs Spiel setzt, während, während, während - erhebt sich das Böse himself aus dem Grab, der vor über hundert Jahren verbuddelte "Rasferret der Engerling" kehrt zurück ins Spiel, und alles läuft mehr oder weniger geradling auf den Klimax zu, am Iden des März, dem Tag des großen Drachenspektakels.
    Hat da jemand "Was?" gefragt?


    Ruff, der höchstselbst als Hundemischling auftaucht, hat tief in alle Kisten gegriffen: Fantasy, Märchen, Liebesroman, Science Fiction, Screw Ball Comedy, Fabel, Krimi, politischer Roman. Herausgekommen ist eine nicht immer leicht verdauliche, aber amüsante, warmherzige, dem Wahnsinn nahe Multigeschichte, die dennoch nicht überbordet, die eine Linie hat, einen verbindenden Gedanken, der allerdings nicht immer greifbar wird. Herzergreifend schroffe Figuren stehen neben herzerwärmenden Romantikern, knabbern an ihren amüsanten Einzelschicksalen, und spielen ganz nebenher eine wesentliche Rolle im großen Ganzen. *Das* allerdings fällt ein wenig hinten herunter. Ruff verliert irgendwann den Überblick, aber so spät, daß es kaum mehr etwas ausmacht, und verläßt sich einfach darauf, daß es dem Leser genauso ergeht. Und das stimmt.


    "Fool on the hill" ist einzigartig, ich habe etwas Ähnliches noch nie gelesen. Der Roman transportiert eine seltsame, wunderbare Stimmung, bricht mehr als eine Lanze für Randgestalten, Träumer und Abenteurer (im weitesten Sinne). Er gibt sich nicht die Mühe, das Merkwürdige zu erklären, aber das braucht er auch nicht, denn eine Erklärung würde den Zauber nur zerstören. Ein tolles Buch für einen sehr langen Abend, an dem es draußen kalt ist und drinnen das Kaminfeuer Dämonenschatten an die Wände wirft.

  • Das Buch "Ich und die anderen" ist übrigens gerade in der Zeitung "Woman" empfohlen worden, hörte sich interessant an.

  • Zitat

    Original von Wolke
    Fritzi, hast du "Ich und die anderen" schon durch? Bei mir steht es immer noch im Regal.


    Nein .... bin immer noch so im zweiten Drittel, leider. Ich habe hier momentan abends immer soviel um die Ohren, daß ich kaum zum Lesen komme .... :-(

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Ich habe es durch !!!!


    Meine Beschreibung:


    Andrew, multiple Persönlichkeit aufgrund von Mißhandlungen durch seinen Stiefvater , hat eine Möglichkeit gefunden, damit umzugehen: er hat in seinem Kopf ein Haus gebaut, in dem alle Persönlichkeiten leben. (Näheres habt Ihr oben schon bei Tom erfahren können) .
    Seinen momentanen Job hat er Julie zu verdanken: seine jetzige Chefin hat ihn unter ihre Fittiche genommen.
    Julie lernt Penny=Mouse kennen und erkennt, daß auch sie ein Mensch mit multipler Persönlichkeit ist. Um ihr zu helfen, stellt sie sie ein und bittet Andrew, Penny zu helfen.
    Nach anfänglichem Zögern trifft sich Penny mit Andrew und läßt sich von ihm erklären, wie er mithilfe des "Hauses" sein Leben unter Kontrolle bekommen hat. Weitere Hilfe bekommt sie von Andrews Ärztin Dr. Grey, die auch schon Andrew erfolgreich geholfen hat: sie war Mitinitiatorin des Hausbaus.
    Andrew erlebt jedoch selber etwas Einschneidendes: seit Wochen verfolgt (nicht nur) er die Nachrichten über einen flüchtigen Mann namens Warren Lodge, den man verdächtigt, seine Kinder getötet zu haben. Diesen Mann sieht Andrew auf der Straße und provoziert durch sein Verhalten eine Reaktion Lodges, die in einem tödlichen Unfall endet.
    Dieses Ereignis wirft Andrew erstmal völlig aus der Bahn, denn er fängt an zu überlegen, ob er etwa auch den Tod des Stiefvaters "provoziert" haben könnte...
    Andrew macht sich auf den Weg nach Michigan, begleitet von Penny. Sie hat Angst um ihn, denn sie bemerkt, daß die Ordnung des Hauses und somit Andrews Zurechtkommen in der Welt durch den Schock gefährdet ist.
    Sie finden das Haus, in dem Andy gelebt und gelitten hat und der Leser erhält Aufschluß über die dunklen Kapitel aus Andys Vergangenheit.
    Was bei Andrews Recherche herauskommt, werde ich Euch natürlich nicht verraten !!!


    Fazit:


    Das etwas andere Buch ! :grin
    Witzig, anrührend, bedrückend.... Ich habe heute Nachmittag das Buch mit Bedauern zugeklappt: ich werde alle Persönlichkeiten echt vermissen!
    Ruff schafft es, ein heikles Thema über eine Erkrankung mit Herzwärme und Humor anzufassen, ohne die schrecklichen Auslöser für Andys und Pennys Erkrankung allzusehr auszuschlachten !
    Konsequent begleiten uns die verschiedenen Charaktere, ob gut oder böse, man vermißt sie nach Ende des Buches alle !
    Am bedrückendsten waren für mich die Beschreibungen über die Grausamkeit der Handlungen von Pennys Mutter und Andrews/Andys Stiefvater, aber Ruff hat eine feinfühlige Art gefunden, sie zu beschreiben.



    Meine absolute Empfehlung für diesen Monat !!!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

  • Ich habe mir "Ich und die anderen" schon notiert.


    Lese ja im Augenblick auch über dieses Thema "Vater unser in der Hölle", habe aber noch ein paar Seiten, dann stelle ich es hier vor. Allerdings geht das mehr in die grauenvolle Richtung des sexuellen Kindesmissbrauchs.