Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen

  • Der Linguistik-Professor Philipp Perlmann übernimmt die Aufgabe, ein von der Firma Olivetti finanziertes Symposium angesehener Sprachforscher zu leiten. Es ist Spätherbst, irgendwann Anfang der Neunziger; die Handvoll Wissenschaftler wird sich in einem Nobelhotel an der ligurischen Küste treffen. Perlmann aber steckt in einem Schaffenstief. Nicht nur der ein Jahr zurückliegende Tod der Ehefrau Agnes lähmt ihn. Der routinierte Dozent und international reputierte Linguist hat die Orientierung verloren - er empfindet das Thema als ausgereizt, hat Schwierigkeiten, Interesse aufzubringen, leidet unter dem hohen Druck, regelmäßig Neues zu veröffentlichen, bringt seine Liebe für die Sprache und die Erforschung derselben nicht mehr in Einklang. Er trifft als erster am Konferenzort ein, ohne Idee für einen Vortrag. Im Gepäck trägt er den originellen Text eines weitgehend unbekannten russischen Kollegen mit sich; dieser Kollege namens Leskov war zwar eingeladen, musste aber seine Teilnahme kurzfristig absagen, da ihm die Behörden im Russland der Nachwendezeit die Ausreise verweigerten.


    Als die anderen Teilnehmer nach und nach anreisen, wächst der Druck, und die Ankunft des verhassten amerikanischen Konkurrenten Millar lässt ihn auf unerträgliche Weise ansteigen. Perlmann unternimmt sein Möglichstes, um als letzter während der fünfwöchigen Klausur ein Projekt vorstellen zu müssen, aber statt daran zu arbeiten, vertieft er sich in die Übersetzung von Leskovs Text. Doch der Termin rückt unaufhaltsam näher. Zwischen Barbituraten, absonderlichen Ausflügen und der zur Obsession gewordenen Transkription von Leskovs Arbeit entwickelt sich Perlmann immer mehr zum Sonderling. Er nimmt die Gruppe und die Aufgabe als Bedrohung war, kapselt sich ab, verbringt ganze Nachmittage in einer kleinen Trattoria, um mit Hilfe einer mächtigen Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts, die er in einem kleinen Schreibwarenladen gekauft hat, die eigene Position in der Geschichte zu ermitteln. Als die Abgabe eines Textes nicht mehr zu vermeiden ist, reicht Perlmann die Übersetzung zur Weitergabe an die Kollegen ein - die schlimmste aller denkbaren Taten für einen angesehenen Wissenschaftler. Kurz darauf kündigt sich überraschend doch noch der kleine, dicke Russe an, den Perlmann nur einmal in St. Petersburg getroffen hat. Die Aufdeckung des Plagiats aber käme einer Vernichtung gleich. Perlmann muss eine Lösung finden. Zwischen Schlaftabletten und unzähligen Zigaretten ersinnt er einen perfiden Mordplan.


    Merciers ("Nachtzug nach Lissabon") über sechshundert Seiten starker Erstling liefert eine akribische Innenschau des verzweifelten Wissenschaftlers, der ausgerechnet in seinem Expertengebiet, der Kommunikation, auf grandiose Weise scheitert. Die antizipierten Ereignisse - der Linguist ist so gut wie ausschließlich damit beschäftigt, sich vorzustellen, was geschehen könnte -, die selten so eintreffen, wie Perlmann erwartet, treiben ihn in eine Psychose, die unbeschadet zu überstehen als völlig unmöglich erscheint. Die Not Perlmanns wächst quasi minütlich und hinterlässt auch körperliche Spuren.


    Der Roman überzeugt sprachlich und logisch; selten nur habe ich ein Buch gelesen, das die Unausweichlichkeit einer "leisen", sehr persönlichen Katastrophe so nachvollziehbar und anschaulich geschildert hat. Allerdings nötigt Mercier dem Leser auch einiges an Konzentration und Mühe ab. Viele Szenen wiederholen sich, aber nicht immer offenbart sich hierbei die dramaturgische Notwendigkeit. Seitenlange Betrachtungen von Nichtigkeiten, die zwar aus Perlmanns Sicht eine evidente Rolle spielen mögen, die aber die ohnehin nur sehr gemächlich entwickelte Handlung lähmen, führen oft an die Grenze zur Langeweile, manchmal - leider - aber auch darüber hinaus. Der Roman hätte auch gut und gerne halb so lang sein können. Zudem umschifft Mercier einige logische Klippen - etwa die nicht unerhebliche Ausgangsfrage, warum der offenbar zwanghafte Perlmann überhaupt die Teilnahme an der Konferenz zusagt - weniger nachvollziehbar als andere. Wer dem Klappentext dieses bemerkenswerten Erstlings folgt, wird jedenfalls eine Enttäuschung riskieren. Wer aber einen klugen, achtsamen, originellen - etwas zu lang geratenen - psychologischen Roman auf sprachlich höchstem Niveau lesen möchte, kann nichts falsch machen. Einiges an Lesezeit sollte man auf jeden Fall einplanen.

  • Die Längen und das für mich nicht nachvollziehbare Verhalten seines Protagonisten waren Grund für mich, den "Nachtzug nach Lissabon" abzubrechen. Ich bin unsicher, ob ich Mercier noch eine Chance geben soll... :gruebel


    OT - Ich warte sehr gespannt auf deine Rezi zu dem Kracht-Buch... :wave

  • Eskalina : Peter Bieri gelingt es auch unter seinem Schriftstellerpseudonym nicht, aus der Rolle des Philosophen zu schlüpfen - mehr noch: Wie bei Sartre scheinen die Roman dazu zu dienen, philosophische Idee auszuprobieren oder in gewisser Weise zu belegen. Hierbei ist eine Innenbeschau, die in "Perlmanns Schweigen" noch sehr viel ausführlicher ausfällt als in "Nachtzug", unumgänglich. Ich wage mal die Prognose, dass Du Perlmann noch viel früher aus der Hand legen würdest.


    Zitat

    Ich warte sehr gespannt auf deine Rezi zu dem Kracht-Buch...


    Eigentlich wollte ich das als übernächstes lesen, aber wenn Du so gespannt bist, ziehe ich es eben vor. :grin

  • Ich hab Perlmanns Schweigen im letzten Jahr gelesen und fand es großartig... am Anfang konnte ich sehr gut mit dem Protagonisten mitfühlen, das ließ dann nach, je krasser alles wurde...
    Ich kann Mercier nur lesen, wenn es mir gut geht, aber dann gefällt mir eigentlich alles was er schreibt, sehr gut. Da ich generell Bücher mag, die weniger auf Action ausgelegt, dafür aber mehr das Innenleben des (oder der) Protagonisten beschreiben und da in die Tiefe gehen, fand ich auch dieses Buch richtig gut. Ich kann mir gut vorstellen, dass das nicht Jedermanns Sache ist. Aber für mich war das Buch an keiner Stelle zu lang, sondern so wie es ist ein absolut gelungenes Werk.
    10 von 10 Punkten von mir!

    "Ich bin dreimal angeschossen worden – was soll man da machen." (Robert Enke)


    "Accidents" happen in the dark.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Fran-87 ()

  • "Perlmanns Schweigen" war der letzte noch von Mercier ausständige Roman, nun bin ich mit seinen bisherigen Werken durch. Wieder einmal erstaunt und begeistert mich die großartige Sprache, mit der Mercier seine Geschichten erzählt, dafür übertreibt er es diesmal mit dem Umfang - so interessant und auch spannend die Innenansichten des desperaten Sprachwissenschaftlers Perlmann sind, kann man eine gewisse Langatmigkeit nicht abstreiten, einige Kürzungen hätten gut getan. Vor allem in der ersten Hälfte fordert das Buch dem Leser eine Menge an Konzentration und Geduld und auch Mühe ab, was dann zwar besser wird, Längen treten aber immer wieder auf.
    Dafür ist es von psychologischer Seite immens gut gemacht, die zunehmende Abkapselung und Verzweiflung des Protagonisten sind nachspürbar, auch seine aus der Not geborenen Aktionen wirken trotz aller Ausgefallenheit größtenteils irgendwie nachvollziehbar ob seines angeschlagenen Geisteszustandes.
    Insgesamt wohl Merciers mühsamstes, nichtsdestotrotz aber wieder gelungenes Buch für Leser mit einem langen Atem und Interesse an einer ruhigen, nach innen gerichteten Handlung.

  • Worum es geht
    Der renommierte Sprachwissenschaftler Philipp Perlmann lädt eine Gruppe anerkannter Kollegen zu einem mehrwöchigen Forschungsaufenthalt nach Italien ein. Perlmanns zunehmender Interessenverlust an seiner Arbeit, den er im universitären Routinebetrieb bislang noch kontrollieren konnte, wird im komfortablen Hotel an der ligurischen Küste zu einer Frage von Leben und Tod. Statt einen eigenen Text vorzubereiten, übersetzt der Professor lediglich die Arbeit eines russischen Kollegen, dem vorerst die Einreiseerlaubnis verweigert wurde. Als der Tag, an dem Perlmann seinen Vortrag halten soll, immer näherrückt, trifft er eine folgenschwere Entscheidung.


    Meine Meinung
    Ohne große Erwartungen habe ich diesen Roman aus dem Jahre 1995 zu lesen begonnen, und wurde aufs Angenehmste überrascht. Von Anfang an hat mich vor allem der Stil des Autors in seinen Bann gezogen, die detaillierte Beschreibung der Denk- und Handlungsweise des Professor Perlmann, die sich ständig verschärfende Konfliktsituation, weniger im Kreise seiner Kollegen, als vielmehr mit seiner eigenen, sich verändernden Persönlichkeitsstruktur. Ungeheuer eindringlich führt der Autor seinen Lesern das Dilemma vor Augen, in dem sich der Wissenschaftler befindet.
    Im Laufe der Handlung gewinnt Philipp Perlmann immer mehr schizophrene Züge, die ihm die dunklen Abgründe der eigenen Seele offenbaren. Unmöglich ist es für den angesehenen Sprachforscher seine berufliche Unfähigkeit gerade bei einem Forschungsaufenthalt einzugestehen. Sein wenig kommunikatives und teamfreundliches Verhalten hat den Argwohn der Kollegen ohnehin bereits geweckt, weshalb er sich umso mehr unter Druck gesetzt fühlt, deren hohe Erwartungen zu erfüllen. Der Ausweg, den Perlmann für sich zu finden glaubt, treibt ihn stattdessen immer tiefer in einen Strudel aus Lügen, Verrat und Schuld.
    Minutiös erlebt der Leser die Ausarbeitung eines mörderischen Planes, dessen Vorbereitung manchmal so detailliert geschildert wird, dass sich die Spannung zeitweise beinahe ins Unerträgliche steigert. Mit dem Auftritt des Russen Vasilij Leskov gelingt die Einführung einer äußerst ausdrucksstarken Persönlichkeit, die mir in ihrer behäbigen, bescheidenen und väterlichen Art sofort sympathisch war. Kaum meint der Leser gemeinsam mit den Protagonisten einer Gefahr entronnen zu sein, wartet der Autor bereits mit einer weiteren Spannungssteigerung auf, die in einer gleichermaßen einfachen wie raffinierten und glaubwürdigen Lösung ihren Abschluss findet.
    Da mich andere Bücher des Autors bei weitem nicht so zu begeistern vermochten, war dieser Roman für mich ein unerwartetes inhaltliches und stilistisches Highlight, das <3<3<3<3<3:!: verdient.


    ASIN/ISBN: 3442721350