Dieses Taschenbuch mit dem arg plakativen Titel gehört zur Reihe pocket von dtv Junior, ‚Die Reihe für Jugendliche, die mitdenken’. ‚lesen, nachdenken, mitreden’ steht auch noch einmal in roten Buchstaben auf der Rückseite. Gehörte ich zur Zielgruppe, wäre spätestens das der Grund, das Buch mit einer verächtlichen Handbewegung zur Seite zu schieben. Erhobene Zeigefinger sind kein konstruktiver Beitrag zur Leseförderung bei Jugendlichen.
Dem Buch, das bereits 1996 erschienen ist, scheint auch nicht viel Erfolg beschert gewesen zu sein.
Dummerweise schadet man sich selbst, wenn man das Buch links liegen läßt. Vorausgesetzt, daß man Kurzgeschichten mag. Das Bändchen enthält fünfzehn davon, von fünfzehn deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, elf Frauen und vier Männern, im Bereich Kinder - und Jugendbuch. Die bekanntesten unter ihnen sind wohl Doris Dörrie, Mirjam Müntefering, Irma Krauß, Anja Tuckermann und Andreas Steinhöfel.
Im Mittelpunkt jeder Geschichte steht ein Mädchen, das mit einer bestimmten Situation zurecht kommen muß. Die Autorinnen und Autoren haben sich wirklich etwas einfallen lassen. Es geht um die erste Liebe, zu einem Jungen, zu einem Mädchen, um erste erotische Erfahrung. Wir treffen Schwestern, Freundinnen, Scheidungskinder, Straßenkinder. Es geht um die Frage sexueller Belästigung durch einen Lehrer oder um einen Neo-Nazi als Mitschüler. Keine der Geschichten ist dabei auch nur halb so plakativ, wie es der Titel befürchten läßt. Im Gegenteil schaffen es fast alle AutorInnen, ihre Denkanstöße hinter den überzeugenden Beschreibungen und äußerst lebendiger Figurenzeichnung zu verbergen. Nicht ganz gelingt das Müntefering in Mit echtem Löwenmut, aber das Thema sexuelle Belästigung kann man nicht diskret abhandeln. Diskutieren könnte man über den Titel, ist nicht die Löwin die, die auch in freier Wildbahn die Macherin ist?
Die Geschichte von Hans-Martin Grosse-Oetringhaus, Sarahs Stein, wirkt ein wenig sehr politisch korrekt angehaucht, die Idee einer Verbindung der Antigone-Lektüre mit dem Problem Neo-Nazis in der eigenen Klasse, ist bei aller Bravheit in der Ausführung jedoch überraschend genug, um die Geschichte zu tragen.
Vor allem die romantische Seite stehen bei Irma Krauß’ Con sordino und Christa Laas’ Viktoria im Vordergrund. Es sind leichtfüßige Geschichten, aber sie nehmen ihr Personen wie ihr Publikum ernst genug, so daß sie nicht in seichter Gefühligkeit ertrinken. Der Schmerz der Enttäuschung ist immer in greifbarer Nähe.
Witzig und mit dem einen oder anderen Widerhaken versehen sind Susanne Fülschers Supberbabe, Cornelia Franz’ Wer glaubt schon Paula und Nina Schindlers Wahre Leidenschaft, auch wenn das Ende gerade dieser Geschichte erfahrenere LeserInnen nicht mehr überraschen kann.
Schmerzhaft eindringliche Erfahrungen beschreiben Steinhöfels Winterlandschaft, Heiko Neumanns Zurück gehe ich nicht und, bei allem gleichzeitigen Witz, Dörries Neunzehnhundertachtundsechzig. Tuckermann verbindet in einer der originellsten Geschichten das erste Aufbegehren einer namenlosen deutschen Ich-Erzählerin gegen die unerträgliche Situation in ihrer Familie mit der Bedeutung des Fastengebots der türkischen Mitschülerinnen, Sigrid Kruse läßt ihre eben dreizehn gewordene Ich-Erzählerin ihre Wut auf den Vater loswerden, der die Familie vor vielen Jahren verlassen hat, ohne zurückzuschauen. Die Wut ist dabei verhalten, ebenso wie die Mischung aus Zorn, Eifersucht, alter Zuneigung und Fremdheit, die Solveig in der Geschichte von Theda Jacoba Olsen ihrer Schwester Linda gegenüber durchleben muß. Eben die Zuruckhaltung läßt in beiden Fällen den eigentlich Ausbruch umso schärfer wirken.
Nicht ganz gelungen sind die Geschichten von Mia Poppins und Stefan Eschendorf. Keine erreicht die Intensität der Gefühle, die das jeweilige Thema, einmal das ‚Geständnis’ eines Mädchens ihrer besten Freundin gegenüber, daß sie sich in ein anderes Mädchen verliebt hat, einmal die Geschichte eines frustrierten Rentners, der lieber Maler geworden wäre, erfordern würde. Besonders schade ist das in der Geschichte von Eschendorf Das Versprechen, weil sie mit berückenden Beschreibungen eines Winterabends an der Elbe aufwartet, hinter denen dann sowohl die Handlung als auch die Personen weit abgeschlagen zurückbleiben.
Die Vielfalt der Ideen und der Art der Ausführung machen auf weitere Geschichten und Bücher der Autorinnen und Autoren neugierig - ein wichtiger Effekt von Bänden mit Erzählungen, der oft genug übersehen wird. Auch in dieser Beziehung wirkt das Buch sehr anregend.
Es kann sich durchaus lohnen, erhobene Zeigefinger einfach zu ignorieren und sich ausschließlich dem zu widmen, was Autorinnen und Autoren einer zu erzählen haben.