Saul Garamond heißt der Mann. Er ist ein kleines bisschen anders, fremd fast. So wie sich vermutlich jeder ab und zu fühlt. Saul allerdings ist tatsächlich anders. Es bedarf ganz besonderer Umstände, ihm dies bewusst zu machen. Sein Vater ist tot. Ermordet. Die Polizei hält ihn, den trotzigen jungen Mann, für den Täter. Der Verhöre werden schärfer. Und dann tritt eine Gestalt in seine Zelle, die es eigentlich gar nicht geben dürfte: König Ratte. Bereit, sich erneut dem Erzfeind aller Ratten zu stellen - dem Pfeifer, dem Rattenfänger, dem Todbringer. Und wer spielt eine zentrale Rolle in dem sich anbahnenden Drama? Eben.
China Tom Miéville, 1972 in Norwich geboren, hat als junger Mann in Ägypten Englisch unterrichtet und begonnen, sich für arabischen Kultur und Nahost-Politik zu interessieren. Später studierte er Sozialanthropologie. Wie gut, dass dann der Versuch, in die Politik zu gehen, scheiterte: Heute teilt er seine Ansichten auf andere Art mit. Er gehört zu den Herausgebern der Zeitschrift "Historical Materialism – Research in Critical Marxist Theory", und mit gutem Grund spielen grundlegende Fragen rund ums Thema Widerstand fast immer eine zentrale Frage in seinen Geschichten. Sein preisgekröntes Perdido etwa erschien in Deutschland als Die Falter und Der Weber.
Saul Garamond heißt der Mann. Mann? Junge? Ratten-Sprössling? Ein Rattenkönig, der Herr der Spinnen und der Vogelobere, alle auf einer Seite der Front? Dann sind da noch Sauls Freunde, die ihn nicht aufgeben, da ist seine Freundin, die mitsamt ihrer Musik vom Pfeifer instrumentalisiert wird, da sind Fragen, die ihm keine Ruhe lassen - war seine Mutter eine Ratte? Was will der König wirklich von ihm, welche Rolle hat er zu spielen? Und: Hat er überhaupt eine Chance?
Und was ist das überhaupt für eine Stadt, in der sich das Ganze abspielt? Seit dem Hameln-Geschehen - aus Sicht der Ratten, und um die geht es hier schließlich, eine Tragödie - sind ganz offensichtlich Jahrhunderte vergangen. Fernsehen und moderne Wohnsilos ändern aber nichts an der Tatsache, dass diese Stadt ein typischer Miéville-Moloch ist. Dunkel, bedrohend, alles verrschlingend. Die Unterwelt der Kanalisation scheint fast weniger menschenfeindlich. Und Saul, bei allem Widerwillen, sich von Abfall zu ernähren, verabschiedet sich Stück für Stück von Trotz und lähmender Lethargie. Immer näher fühlt er sich seinem toten Vater, der Sozialismus gelebt sehen wollte, der seinen Sohn so gerne kämpferischer erlebt hätte. Ziemlich abstruses Fortsetzen einer uralten Legende. Politische Fantasy zudem. Aber es funktioniert. Denn vor allem ist es eine gute Geschichte.
Zuerst störte mich, dass König Ratte Jenisch- bzw. Rotwelsch-Brocken einstreut, als hätte sich Übersetzerin Eva Bauche-Eppers verpflichtet, pro Seite drei Begriffe einzuarbeiten, die sie dann auf einer aus einem Wörterbuch abgeschriebenen Liste abhakte. Erledigt. Aber je mehr Leben die Story gewinnt, desto klarer wird: Wie sonst könnte sich einer mitteilen, der seit Jahrhunderten im Verborgenen lebt. Mit Anansi, Herr der Spinnen, wird ein uralter Mythos lebendig, der von afrikanischen Sklaven in die Karibik getragen wurde. Und auch für ihn fand Bauche-Eppers abenteuerliche Sprachformen. Gut gemacht. Die (Tipp?)Fehler lassen sich mit etwas gutem Willen überlesen.