Mit Zeichnungen von Kurt Löb. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Manfred Wedemeyer
Ernst Willkomm (1810 - 1886), heute völlig vergessen, war zu seiner Zeit ein bekannter Autor und Journalist. Sein Gesamtwerk ist groß, um die einhundert Bände, neben Theaterstücken, Romanen und Erzählungen, sammelte er auch Märchen. Vor allem aber schrieb er Reiseberichte. Es sind Berichte aus einer Gegend, das damals in Deutschland außer als geographische Gegebenheit weitgehend unbekannt war, dem westlichen Schleswig-Holstein, den Inseln und den Halligen der Nordsee. Willkomm, der eigentlich aus Zittau stammte, lebte viele Jahre in Lübeck und Hamburg.
Willkomm war neugierig, wissensdurstig, aufgeschlossen und besaß offenbar die Fähigkeit, fremde Menschen zum Sprechen zu bringen. Darüberhinaus besaß er die noch weit wichtigere Fähigkeit zuzuhören. Seine Reiseschilderungen zeigen ihn dann bei Ausübung seines größten Talent, des Erzählens.
1991 erschien im Verlag Schuster in Leer ein Band mit vier Texten von Willkomm, zum Wiederentdecken, zwei Reiseschilderungen und zwei Erzählungen, die erstmals in den 1850er Jahren publiziert wurden.
Die ‚Erzählungen eines Wattenschiffers’ wie ‚Der Halligmann. Ein Strandbild’ sind klassische Reiseschilderungen. Die Wattlandschaft wird beschrieben und das Spiel der Gezeiten, das Leben der Wattschiffer und das Leben auf den Halligen. Der Protagonist aber ist immer das Meer, das sich letztlich als allesverschlingendes Ungeheuer erweist. Sind die tödliche Fluten in der Geschichte, die der Wattschiffer bei der Überfahrt vom versunkenen Land Rungholt erzählt, schon längst Vergangenheit und letztlich in den Bereich der Spuksage (Elemente des Schwanks inklusive) zu verweisen, so ist die Geschichte vom Untergang seiner Familie bei einer Sturmflut, die der Halligmann berichtet, realistisch genug.
Eine Familiengeschichte und zugleich ein Familiendrama ist ‚Vorgesichte’, die Erzählung von tödlichen Ende einer winterlichen Jagd auf dem Eis der Nordsee. Wieder in die Vergangenheit führt die Erzählung ‚Der Schlickläufer’, über einen furchterregenden Strandräuber und sein entsprechendes Ende.
Die Verbindung zwischen eigener Beobachtung, Naturschilderungen und den Beschreibungen der Menschen ist überaus gelungen. Watt und Meer liegen vor einer. Man sieht die Farben des Himmels, glaubt den Wind zu spüren und schließlich hört man den Sturm heulen, als tose er ums eigene Haus. Schönheit und Pracht von Meer und Himmel scheinen noch größer durch das bald erworbene Wissen, daß sich das alles in kurzer Zeit nur in tobendes Chaos verwandeln kann, in dem der Mensch nichts ist.
Berichte wie Geschichten sind lebhaft und lebendig, bunt, kurios, witzig und unheimlich bis zum echten Grusel. Das Ende des bösen Strandräubers im Schlick ist beeindruckend grausam wiedergegeben.
Am lebendigsten ist das Meer, in seinen Farben, seiner Kraft, eine Urgewalt, der nichts widerstehen kann und die mit unerbittlicher Regelmäßigkeit ihre Opfer einfordert.
Informativ und interessant auch heute noch sind die kleinen Schlaglichter auf das harte Leben der Schiffer in einer Zeit ohne Motoren, die nur auf Ruder, Segel und ihr Wissen über Wind und Wetter vertrauen konnten, das Senkblei immer in der Hand. Da wird Kautabak gekaut und beim Erzählen immer wieder kräftig gespuckt, Grog wird gemischt. Man bildet eine Notgemeinschaft bei hartem Schwarzbrot und getrocknetem Fisch.
Bleibt der Wind plötzlich aus, erreicht man an diesem Abend eben die Insel nicht mehr und muß auf dem Meer nächtigen, immer in Gefahr, daß das Wetter plötzlich umschlägt und man auf einmal da, wo eben noch ruhige See war, in einen tobenden Strudel gerät. Der Mensch ist nicht Herr seiner Zeit noch über sein Leben.
Kärglich auch das Leben auf den Halligen, erschreckend vor allem die Erkenntnis, daß man in der Not nicht einmal mehr den Nachbarn beistehen kann, weil die Fluten es verhindern. Das ist Alltagserfahrung jenseits aller beliebten Heldenmythen.
Die Sprache bietet auch für Leserinnen und Leser von heute wenig Probleme, die Schilderungen sind rasch so packend, daß man, wenn man es überhaupt schafft, den Blick vom Buch so lösen, halb darauf gefaßt ist, die grauen Wassermassen vor sich zu sehen, kurz davor, über einer zusammenzustürzen.
Die Schwarz-Weiß-Bilder von Kurt Löb, mit ihren schwachen Konturen, verwischt, immer ein wenig im Nebelhaften unterstreichen die leicht unheimliche Atmosphäre des Ganzen.
Ein ausführliches Nachwort informiert über Willkomm, eine fünfseitige Liste mit Worterklärungen erklärt ältere Ausdrücke, Friesisches wie Fachausdrücke aus der Wattenschiffahrt.
Für alle, die Meer und Küsten lieben, seien die Geschichten von Willkomm sehr empfohlen. Eine echte Entdeckung.