Das Mädchen, der Köter und ich - Helena Öberg (ab 11 J.)

  • OT: Viktor Dolores 1994


    Dieses Kinderbuch, das mit nicht wenigen ungewöhnlichen Wendungen aufwartet, erschien erstmals 1997 in Deutschland, damals unter dem Titel ‚Viktor, auf den Hund gekommen’. Der ältere deutsche Titel ebenso wie der schwedische Originaltitel verraten ein wenig mehr über den Inhalt als der neue, der eine eher auf eine geradlinige Teenagerliebesgeschichte einstimmt.


    Viktor ist zwölf und im Wortsinn auf den Hund gekommen. Der Hund, den er nur ‚das Ferkel’ nennt, gehört der Freundin seines Vaters. Jedesmal, wenn sie im Haus ist, ist auch der fürchterliche Hund da. Viktors Eltern haben sich vor einiger Zeit getrennt, Viktor leidet stark darunter. Seine ganze Wut ballt sich in der Abneigung gegen die ‚Neue’ und ihren Köter. Schließlich sorgt er einfach dafür, daß der Hund, ein kleiner Terrier, davonläuft.
    Etwa zur gleichen Zeit macht sich Marika mit Viktor bekannt. Sie ist noch nicht lange in seiner Klasse. Sie tritt ein wenig aufmüpfig auf, wirkt mit ihrer wilden Frisur und der Lederjacke viel reifer als die anderen und hat sogar schon einen Freund, den 14jährigen Jimmy. Was sie wohl an Viktor findet?
    Der versteht das überhaupt nicht. Er findet sich eher schüchtern und unansehnlich, hat keine Ahnung, wie man mit Mädchen umgeht, und ist mit der Trennung der Eltern sowieso beschäftigt genug.
    Jimmy versteht ebensowenig, wieso Marika plötzlich mit kleinen Jungs rumhängt. Was bildet sich dieses Windelkind Viktor ein? Dem wird er es zeigen.
    Innerhalb weniger Tage muß Viktor sein Leben völlig neu überdenken. Er verliert einen Zufluchtsort nach dem anderen. Seine Mutter, bei der er sich gern gegen seinen Vater und Ingela, die Neue, verschanzte, erklärt, daß sie nach Stockholm ziehen werde. Überdies scheint sie eine Freundin zu haben!
    Sein Vater erklärt, daß er und Ingela zusammenziehen werden. Marika taucht bei ihm im Kinderzimmer auf und dann steht auch noch Jimmy mit geballten Fäusten im Garten!


    Viktor will nur seine Ruhe! Und leiden. Aber man läßt ihm keine Chance, er muß sich entscheiden. Zuletzt muß er sich auch zu Wehr setzen. Nicht nur gegen Jimmy, sondern vor allem gegen den kleinen, unsicheren und hin und wieder durchaus gemeinen Viktor, den er in sich trägt. Viktor Dolores, den Namen hat Marika ihm gegeben, Viktor von den Schmerzen. Voller Schmerzen ist es tatsächlich, was Viktor durchleben muß. Es nennt sich auch Erwachsenwerden.


    Erzählt wird, anders als das ‚ich’ im Titel vermuten wird, nicht von Viktor, sondern klassisch personal.
    Die Geschichte, das im übrigen das allererste Kinderbuch von Helena Öberg (geb. 1966) war, besticht vor allem durch die Frische der Darstellung. Viktor ist ein Held wider Willen. Es geht nicht nur darum, wie Kinder die Trennung der Eltern verkraften oder das Entstehen einer neuen Familie, sondern vor allem um die vielfältigen Ausprägungen von Liebe und Zuneigungen in den Beziehungen zwischen Menschen überhaupt. Es sind fast alle Varianten abgedeckt. Kinderfreundschaften, Freundschaften zwischen Jungen, zwischen Jungen und Mädchen, erste Liebesgefühle, Freundschaften unter Erwachsenen, Liebe unter Erwachsenen, aber auch nachbarschaftliche Beziehungen. Hier ist ein ganzer Kosmos eingefangen.


    Im Rahmen der überraschend spannenden Handlung wird auch diskutiert, was man anderen antun darf und was nicht, sei es aus Liebe, sei es aus dem gegenteiligen Gefühl heraus, Abneigung. Trauriges und Lustiges liegen eng beieinander, die einzelnen Figuren, gleich, ob es die Kinder oder die Erwachsenen sind, wachsen im Lauf der Geschichte zu richtigen Persönlichkeiten heran.
    Beschrieben werden Situationen des Übergangs, von alten Freundschaften zu neuen, von alter Liebe zu neuer Liebe. Vom kleinen Kind zum älteren Kind, das Verantwortung für sein handeln übernehmen muß. Die Sache mit dem Hund muß Viktor klären.
    Neue Rollen werden ausgetestet, das Kindliche weicht frühem Machogehabe. Es gibt die ersten wachen Blicke auf Erotik und Sexualität. Sehr spannend ist die Beziehung zwischen der zwölfjährigen, selbstbewußten Marika und dem 14jährigen Jimmy, überzeugend eingefangen Viktor, der sich viele Gedanken über seinen Vater und Ingela macht, einmal auch in einem Pornoheft blättert, es aber angesichts der vielen erwachsenen Frauen ein wenig erschrocken ganz schnell wieder weglegt. Daß sich der ‚blöde Hund’ am Ende als trächtig erweist und Viktor auch noch einer Notgeburt beiwohnen darf, ist ein echter Showdown mit gezielt eingesetzten Schockeffekten.


    Ein originelles Buch, das das ganz normale Leben präsentiert wie ein tolles Abenteuer. Was gar nicht so falsch ist.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus