Henning Mankell - Der Chronist der Winde

  • Henning Mankell
    Der Chronist der Winde
    dtv April 2002
    267 Seiten


    Kurzbeschreibung von Amazon:
    »Man kann fliegen, ohne sichtbare Flügel zu haben.«


    Nelio, ein zehnjähriges Straßenkind, erzählt um sein Leben. Er liegt mit einer Schußwunde auf dem Dach eines afrikanischen Hauses und weiß, daß er sterben wird, sobald seine Geschichte zu Ende ist. Er erzählt, wie die Banditen sein Dorf überfielen, seine Schwester massakrierten und ihn zwingen wollten, seine Verwandten zu töten. Wie er floh, den Weg in die große Stadt fand und Anführer einer Bande von Straßenkindern wurde.


    Vor allem aber erzählt er vom Leben dieser schwarzen Kinder. Von Mandioca, der Tomaten und Zwiebeln in seinen Taschen wachsen läßt, und von Deolinda, einem Albinomädchen, das die sexuellen Phantasien der Jungen erregt. Vom Geheimnis des Reichtums erzählt er, einer vertrockneten Eidechse in einem gestohlenen Aktenkoffer und einem nächtlichen Besuch beim Präsidenten. Und vom Paradies, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist und das man doch finden kann.


    Meine Rezension:
    Henning Mankell war mir bisher nur als Autor der Krimiserie um Kommissar Wallander bekannt. Und weil mir diese Serie so gut gefallen hat, ist mir vor einiger Zeit dieses Büchlein in die Hände gefallen. Und ich muß sagen, es ist ein anderer Mankell, aber er gefällt mir nicht minder.


    In einer beliebigen afrikanischen Stadt arbeitet ein junger Mann mit dem Namen Jose. Als er eines Abends im benachbarten, heruntergekommenen Theater den Straßenjungen Nelio findet, ahnt er noch nicht, daß er mit dem schwerverletzten Jungen die folgenden Nächte verbringen wird. Nelio wurde angeschossen; Jose kümmert sich rührend um den Straßenjungen, der im Gegenzug beginnt, aus seinem Leben zu erzählen.


    Nachdem sein Dorf von Rebellen überfallen wurde, hat Nelio seine ganze Familie verloren. Trotzdem macht er sich auf, um alleine über die Runden zu kommen. All die Dinge, die Nelio erlebt, erzählt er Jose im Laufe der folgenden Nächte. Während all dieser Zeit ist Nelio sicher, daß er sterben wird - und verweigert damit auch jegliche Behandlung.


    Eine rührende Geschichte, die Neugier auf mehr Afrika-Bücher von Mankell weckt. Eine weise Geschichte, die vom Leben und vom Sterben handelt und davon, daß man nie aufgeben soll, auch, wenn schon alles verloren scheint…


    Mein Prädikat: Mankell und Afrika, das geht trotz der scheinbaren Widersprüche.


    8/10 Punkte

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Na sowas, ich haette wetten koennen, dass es schon eine Rezension zu diesem Buch gab. Ich hab es naemlich auch schon vor einigen Jahren gelesen. Dabei war ich sehr ueberrascht - positiv!


    Ueberrascht vor allem, weil ich den Schreibstil als ganz anders empfand als bei seinen Krimis. Sehr gut lesbar. Es ist eine eher kurze Geschichte und das tat ihr sehr gut. Das Tempo stimmte.


    An viel mehr kann ich mich leider nicht erinnern. Aber mein Lesetagebuch hat noch den Kommentar: traurig UND hoffnungsvoll. Wenn ich diese Art Stimmung finde, sind das fuer mich eigentlich auch immer die schoensten Geschichten, die auf tragische Realitaeten basieren.

    Gruss aus Calgary, Canada
    Beatrix


    "Well behaved women rarely make history" -- Laura Thatcher Ulrich

  • Abseits seiner Krimis kenne ich nur Die flüsternden Seelen. Ich fand den Schreibstil ganz furchtbar, so dass ich gar nicht weit gelesen habe. Wenn der Chronist der Winde auch in die Richtung schlägt, spar ich es mir und streich es von der Wunschliste. :gruebel Mal sehen, vielleicht finde ich wo eine Leseprobe.

    LG, Uhu :katze


    Bücher bergen mehr Schätze als jede Piratenbeute auf einer Schatzinsel... und das Beste daran ist, daß man diese Reichtümer an jedem Tag im Leben aufs neue genießen kann. (Disney, Walt)

  • Danke, Caia, für die schöne Rezi. Seine Krimis gefallen wir nicht unbedingt, aber ich habe von ihm, Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt, gelesen und dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. :wave

  • Danke für die schöne Rezi Caia :wave, das Buch klingt als wäre es etwas für mich. Seine Krimis habe ich noch nicht gelesen, aber "Das Geheimnis des Feuers" und das Buch hat mir sehr gut gefallen.

  • Hallo Caia,


    ich danke für die Rezension, sie hat bei mir Neugierde geweckt. Auch ich kannte bisher Mankell nur aus den Wallander-Romanen beziwhungsweise einem vom Stil her ähnlichen.


    Einen Widerspruch in der Makell-Afrika-Thematik sehe ich eigentlich nicht, lebt der Autor nicht sogar dort oder hat dort zumindest lange gelebt?


    Viele Grüße
    Mark

  • Vielleicht habe ich mich schief ausgedrückt, ich war halt sehr verwundert über diesen anderen Mankell, den ich nach Wallander nicht vermutet hatte. Nichtsdestotrotz hat es mir ja gut gefallen und ich werde sicherlich noch den einen oder anderen Afrika-Wallander lesen.


    Edit fügt hinzu, daß Mankell meiner Meinung nach eine Wohnung in Maputo hat... Was wiederum meiner Meinung nach in Mosambik zu liegen gekommen ist.

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

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  • Guten Tag zusammen,


    ersteinmal vielen Dank für die Rezension. Ich finde es immer wieder erstaunlich und schön, dass von Rezensent zu Rezensent bei aller Übereinstimmung es aber dennoch unterschiedliche Betrachtungsperspektiven gibt. Wenn man in meinem Literatur-Blog mal die Rezension zu "Der Chronist der Winde" mit obiger vergleicht, bekommt man davon einen recht guten Eindruck.


    Es grüßt Walter-Benjamin Karlshö

  • Zitat S. 13


    „Einst habe auch ich, José Antonio Maria Vaz, nachts grübelnd wach gelegen.
    Aber jetzt nicht mehr. Nicht mehr, seit ich Nelio begegnet bin und ihn aufs Dach getragen habe und ihn sterben sah.“ S. 9 Der Bäcker José Antonio Maria Vaz begleitet den Straßenjungen Nelio in den letzten neun Nächten vor dessen Tod, nachdem er ihn angeschossen fand auf der Bühne des Theaters mit angeschlossener Bäckerei seiner Arbeitgeberin. Danach wird er zum Chronisten der Winde.


    In den neun Nächten erzählt Nelio dem Bäcker ebenso wie dieser selbst in neun Kapiteln vom Leben in Afrika – von der Überbleibseln der (hier portugiesischen) Kolonialherren und dem mangelnden Verständnis dafür, Geld für Kunst auszugeben, von Bürgerkrieg und Kindersoldaten, vom Betteln und Taschendiebstahl, von Gewalt und Freundschaft. Die Sprache ist bildhaft, einzelne Sequenzen wie im Traum oder im Märchen – da gibt es den Albino, der einen leeren Koffer mit sich führt, denn „Mein Koffer ist leer, falls ich etwas finde, das ich mitnehmen will.“ S. 76 Da gibt es seltsame Menschen, von den zum Beispiel erzählt wird: „Senhor Rodrigues …spielte gegen sich selber Schach. In seinen vielen Jahren auf dem Festplatz hatte er großes Geschick darin entwickelt, gegen sich selber zu verlieren. Er wußte, daß er ein schlechter Schachspieler war. Doch in ihm wohnte ein heimlicher Genius, der ein unschlagbarer Meister war.“ S. 140f
    Da gibt es das wiederkehrende Motiv der Eidechse, mal Königin, Ratgeberin, mal Zeichen der Existenz der Straßenkindergang, deren Anführer Nelio wurde. Da gibt es wunderschöne Sätze voller Weisheit und Wahrheit, die Einblick gewähren in das Leben generell – und in Afrika. „Ich sah, wie die Armen gezwungen wurden, ihr Leben roh zu essen. Ihnen blieb keine Zeit, ihr Leben zu gestalten, da sie ständig an der äußersten Bastion des Überlebens kämpfen mussten.“ S. 228


    Autor Mankell hatte im Wechsel in seiner schwedischen Heimat und in Mosambik gelebt und es fällt nicht schwer, Spuren der ehemaligen portugiesischen Kolonie im Buch zu erkennen in der Lage am indischen Ozean, in der Erwähnung der sehr späten Beendigung des Kolonialismus, in den Revolutionären, die von Kuba unterstützt wurden, in den portugiesischen Wörtern. Aber sicherlich ist das nicht wichtig, hier Mosambik zu finden; die beschriebenen Szenen der verschiedenen Nächte könnten für viele Länder in Afrika stehen, für die Menschen und besonders für die Armen, für die Straßenkinder.


    „Das gab ihm den Gedanken ein, daß alle Menschen, die vor einem Krieg, einer Seuche oder einer Naturkatastrophe fliehen mussten, irgendwo ein zweites Zuhause hatten, das sie erwartete. Es galt nur, bis zu dem Punkt weiterzumachen, an dem alle Kräfte erschöpft waren. Genau da, wo die Erschöpfung sich in einen eisernen Griff um die letzten Reste des Willens verwandelt hat, wartete das Zuhause, von dem du nicht wußtest, daß du es hast.“ S. 91


    Mein Buch ist noch mit alter Rechtschreibung, wie an den Zitaten ersichtlich.