Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel

  • Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel. TB,766 S. 10.Aufl. btb/Goldmann, München 2000. ISBN: 3-442-72668-9; 12,50 Euro.


    Rückseitentext:
    Toru Okada ist unzufrieden mit sich und der Welt. Er fühlt sich wie ein SPielzeugvogel, der von wer weiß wem aufgezogen wird. Der 30jährige gibt seinen Job in einer Tokioter Anwaltskanzlei auf, um sich in Ruhe über einen Neuanfang klar zu werden. Nach seinem Ausstieg aus der alltagswelt tun sich diesem "Mister Aufziehvogel" plötzlich Wirklichkeiten auf, von denen er bislang nichts ahnte: erotische, ökonomische und politische. Selbst über seine eigene Ehe drängen sich dem Helden schwindelerregende Vermutungen auf. Er erkennt, daß unter dem Alltagsleben der Großstadtgesellschaft andere, geheime Kräfte wirken.


    Über den Autor
    Haruki Murakami, 1949 in Kyoto geboren, ist einer der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. Sein Roman "Gefährliche Geliebte" entzweite das Literarische Quartett, mit "Mister Aufziehvogel" schrieb er das Kultbuch seiner Generation. Er lebte über längere Zeit in Europa und in den USA. Murakami ist der international gefeierte und mit den höchsten japanischen Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Er hat die Werke von Raymond Chandler, John Irving, Truman Capote und Raymond Carver ins Japanische übersetzt.
    Quelle: RandomHouse.de


    Meine Meinung:
    Toru Okada -- einer von denen, die auch mit etwa 30 Jahren noch nicht "erwachsen werden" und damit ein typischer Murakami-Protagonist -- löst sich aus der Maschinerie der modernen japanischen Gesellschaft. Sein Nachdenken bringt ihn selbst keinen Zoll weiter, er lungert eigentlich nur gepflegt herum, bis seine geliebte Frau Kumiko überraschend verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen.
    Das Viertel, in dem Toru und Kumiko leben, ist rings um eine "Gasse" angeordnet, einen wild überwucherten Weg, der aufgrund der Bebauung weder einen Anfang noch ein Ende hat, sondern nur eine Verbindung zwischen den Gärten ist. Eines der dazugehörigen Häuser, das "Selbstmörder-Haus", ist unbewohnt, es gilt quasi als verhext; zu diesem Haus gehört ein ausgetrockneter Brunnen.
    Toru ist ratlos über Kumikos Verschwinden; eingedenk der Mahnung eines weisen alten Mannes steigt er eines Tages in einen Brunnen, um sich über einiges klar zu werden. In der Abgeschiedenheit des Brunnens eröffnen sich ihm andere, verdrängte Wirklichkeiten.
    Während seiner im Grunde wenig konsequenten Suche nach der verschwundenen Kumiko begegnet Toru Menschen mit spirituellen Begabungen: dem passiven Medium May Kasahara, die sich in passivem Widerstand ebenfalls den Zwängen der japanischen Gesellschaft verweigert, der sonderbaren Malta Kano und ihrer Schwester Kreta Kano, die von sich aus mit ihren Kräften aktiv werden, sowie Muskat und ihr Sohn Zimt Akasawa, die eine spirtuelle Praxis führen, in die Toru zeitweilig eintritt. Die sonderbaren Rufnahmen - selbstgewählte Pseudonyme - sind ein deutlicher Hinweis darauf, daß auch diese Menschen auf ihre Weise aus der Welt gefallen sind.
    Doch hiermit ist die Kette längst nicht geschlossen; Toru wird quasi zum "Beichtvater" eines alten Leutnants, der ihn mit der Arroganz japanischer Spätkolonialpolitik und dem Irrsinn des Zweiten Weltkrieges konfrontiert. Angefangen von der Eroberung Südostasiens, der Gründung des Vasallenstaates Manchukuo bis zum japanisch-sowjetischen Krieg, den Atombombenabwürfen und dem Schicksal japanischer Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft.
    Die Bandbreite der Themen bilden eine hochproblematische Mischung und machen den Roman insgesamt zu einem Drahtseilakt: Persönliches und Politisches, Geschichte und Gegenwart, Realität und Phantasie mischen sich. Das Individuum wird zu einem Produkt seiner Umwelt, die nicht nur aus der sichtbaren Oberfläche besteht, sondern in der Tiefe (dem Brunnen!) aus verdrängter Geschichte und verborgenen psychischen Kräften.
    Unbeantwortet bleibt die Frage, was denn bei all diesen Einflüssen noch als Kern-"Ich" übrigbleibe.


    In Murakamis Romanen und Erzählungen verschmelzen ein glasklarer analytischer Realismus mit Elementen aus Science-fiction und New Age, und unter einer dünnen Kruste des modernen Japan, gespalten zwischen rigidem Traditionalismus und American way of life, lauert eine verdrängte Vergangenheit.
    Murakami legt den Finger auf die Wunden seiner Heimat, nicht zuletzt indem er immer wieder Rückbezug nimmt zur Kultur Europas, das im vergangenen Jahrhundert ebenfalls durch politische Exzesse zerrüttet wurde.
    Genial feand ich das Bild der "Gasse", die meiner Ansicht nach die von ihrer Vergangenheit abgeschnitten ist und deshalb auch keine Zukunft kennt, sondern sich nur in einem "Dazwischen" bewegt. -- Irgendwie trifft das auch auf uns zu ...


    Insgesamt ein äußerst lesenswertes Buch, aber keine einfache Lektüre!


    Einen Kritikpunkt, für den der Autor allerdings nicht verantwortlich ist, muß ich noch anbringen: Das Buch wurde nicht aus dem japanischen Original, sondern aus der amerikanischen Ausgabe übersetzt, die nicht sonderlich sorgfältig angefertigt worden war. Es gibt teilweise gravierende stilistische und erzählerische Differenzen zwischen dem Originaltext und der deutschen Ausgabe! Hinzukommt eine stellenweise sehr nachlässige Redaktion der deutschen Übersetzung, die zu Wortwiederholungen und manchmal etwas ungelenkem Satzbau führte.
    Aber wie gesagt: Der Autor kann nichts dafür, wenn man sein Buch schlecht übersetzt.

  • Ich war begeistert!
    Ich kann das nicht so gut in Worte fassen, aber diese Mischung aus realen und surrealen Elementen hatte es in sich.
    Vor der Lektüre hatte ich die vage Vorstellung, Literatur aus diesem doch ganz anderen Kulturkreis nicht richtig zu "verstehen", aber von Seite 1 weg hat mich die teilweise auch in Europa mögliche Szenerie eingesaugt und nicht mehr losgelassen.


    Das Lektorat hat allerdings versagt! So viele Rechtschreib-, Sinn- und sonstige Fehler sind mir noch nie untergekommen!

    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das nicht allemal das Buch.
    Georg Christoph Lichtenberg

  • Ich hab das Buch auch gelesen, es war mein erstes Murakami-Buch und seitdem bin ich von diesem Autor restlos begeistert! Man könnte eigentlich ganze Bücher und Seminare füllen, wenn man über die Einzelheten und Handlungsstränge etwas sagen will und doch findet man nie ein Ende. Einfach genial, wie Murakami das "Offene Ende" benutzt. Und dieses Surrelae, das in beinahe allen seinen Romanen auftaucht, lädt dazu ein sich in seinen Büchern zu verlieren!

  • Meiner Meinung nach eines der schwächsten Bücher von Murakami, der Prota wartet und ich wartete auch, zu viel, zu lange. Mal wieder gibt es einige sehr schöne Formulierungen, aber die meiste Zeit dachte ich bloß: "Wieso versucht er möglichst viele Seiten zusammenzubekommen?"
    Man kennt es ja schon von ihm, dass seine Plots ein bisschen schwächeln und Lücken aufweisen, doch bei diesem buch fällt es besonders ins Gewicht. Seine Sprache konnte mich nicht fesseln und ich habe bloß weitergelesen, weil ich keine Satzjuwelen verpassen wollte.