Gewalt und der Umgang der Gesellschaft damit.

  • Heute morgen an der Tankstelle stand ein roter Lieferwagen mit einem Kennzeichen aus dem Landkreis Barnim vor mir, auf dessen Rückseite in großen Lettern stand: "Todesstrafe für Kinderschänder!". Nur das. Kein Hinweis auf irgendeine Organisation, aber wenn man die Google-Bildsuche abruft, findet man entsprechende Fotos zuhauf. Es scheint auch eine entsprechende Website zumindest gegeben zu haben. Sie ist auf eine Privatadresse in Bleckede registriert und derzeit unerreichbar. Aber es gibt andere, die (noch?) online sind und auch entsprechendes "Merchandising" anbieten. Den Aufkleber, den ich gesehen habe, habe ich aber nicht darunter gefunden.


    Gutwillig könnte man annehmen, dass hinter derlei Hilflosigkeit, Angst und (persönliche?) Betroffenheit stehen. Dass diese Leute es einfach nicht besser wissen. Es ist aber auch gut möglich, dass die Art, wie mit diesem Thema umgegangen wird, solche "Initiativen" befördert. Voltaires Zitat aus dem Angst-Hass-Titten-Wetterbericht-Massenblatt zeigt ja, wie ein Teil der "öffentlichen Meinung" damit umgeht. "Kinderschänder" (ich verwende den Begriff, obwohl ich ihn für einen Teil des Problems halte) werden als Monster dargestellt, als asozialer Dreck, der nicht würdig ist, unter uns zu leben. Natürlich ist monströs, was diese Leute tun. Es ist grauenhaft, widerwärtig und durch nichts zu entschuldigen. Das bedeutet aber keineswegs, dass alle Menschen (zumeist Männer), die in dieses Bild passen, auch moralfreie Bestien sind, die vorsätzlich handeln - oder, noch schlimmer, solche, die damit Geld verdienen. Sondern zumindest zu einem Teil Leute, die schwere psychische Störungen haben - Störungen, die manchmal therapierbar sind. Ich will nicht darüber diskutieren, ob und inwieweit das sinnvoll ist. Ich will lediglich darauf hinweisen, dass diese Art des Umgangs und solche Forderungen wie die oben zitierte aus einer Gesellschaft wie der unsrigen einen mittelalterlichen Gewaltstaat zu machen in der Lage wären - sehr zur Freude der BILD-Redakteure, wie ich annehme. Die Abscheulichkeit der Taten und die unglaublichen Folgen für die Opfer stehen außer Frage, und da die Opfer ausschließlich wehrlos sind, wiegen die Taten augenscheinlich (ich mag das nicht entscheiden, dazu weiß ich zu wenig darüber, wie sich Folgen außerhalb der medialen Inszenierung darstellen) auch schwerer als Morde oder ähnliche Verbrechen. Den Spieß einfach umzudrehen ist aber nie eine Lösung. Und erst recht nicht abschreckend oder im Sinne einer Buße befriedigend. Ich bin weiß Gott alles andere als gläubig, aber Menschen sollten andere niemals und aus keinem Grund töten.


    Insbesondere den Opfern wäre wahrscheinlich sehr damit gedient, wenn nicht so populistisch mit dem Thema umgegangen würde. Und die Leute, die mit Autoaufklebern Todesstrafen fordern, sollte man sehr genau beobachten. Von diesem ist der Schritt zur Selbstjustiz nicht mehr groß.


    Davon abgesehen bin ich der festen Überzeugung, dass unsere Justiz alle nötigen Mittel zur Verfügung hat und mit den Tätern angemessen umgeht - sehr viel angemessener als die Springer-Presse.

  • Offenbar hat man bei Bild-Online die Vokabel "Dreckschwein" (so stand es dort am heutigen Morgen) durch die Wörter "Sex-Bestie" und "widerlicher Kinderschänder" ersetzt. Aber auch diese Wortwahl empfinde ich als nicht sehr glücklich.


    Hier geht es zum "Artikel"

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Tom: Sie ist auf eine Privatadresse in Bleckede registriert und derzeit unerreichbar. Aber es gibt andere, die (noch?) online sind und auch entsprechendes "Merchandising" anbieten. Den Aufkleber, den ich gesehen habe, habe ich aber nicht darunter gefunden.


    Die Gegend um Bleckede ist bekannt. 10 km weiter befindet sich Amholz. Google mal unter Amholz-->Gutshaus. Nett hierzu auch der Bericht des Landtags MV. Und jetzt rate mal, wer in der Gegend mehr als gutbekannt ist und auf Stimmenfang geht?
    Wer die Nachrichten verfolgt, dem sollte Herrn Udo Pasteurs kein Unbekannter sein.

  • Salonlöwin : Ein so hochemotionales Thema, bei dem sich die Gesellschaft im Hinblick auf moralische Urteile auch noch weitgehend einig ist, eignet sich natürlich gut für Stimmenfang. Siehe auch Vita dieses Kollegen hier, der zu den Urhebern der "Todesstrafe für Kinderschänder"-Initiativen gezählt wird:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Hartmut_Wostupatsch


    Und es eignet sich natürlich auch für reißerische Schlagzeilen.

  • Danke für den Link, der bereits wieder einen Hinweis auf Christian Worch enthält, der auch hier in Schleswig-Holstein sein Unwesen getrieben hat.


    Zum Thema Kinderschänder hat Voltaire eigentlich alles Wichtige und Richtige gesagt. Und die Herren der rechten Szene sollten sich vorzugsweise um ihre eigenen Probleme (Verfahren) kümmern, anstatt sinnbefreit die Bevölkerung aufzuhetzen.

  • @ Ikarus: ja hab ich...


    @ alle hier : Ich finde übrigens, dass dieses Thema generell ziemlich heikel ist...es gibt so viele verschiedene Meinungen dazu, die sicher größtenteils gute Gründe haben. Es ist wirklich schwer, so ein Thema zu beurteilen :S

    :lesend Der Thron der sieben Königreiche von George R.R. Martin

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  • @Pilvi...das weiß ich, dass Du den Link bzw. die Thematik darin gelesen und begriffen hast.


    Und Recht hast Du auch damit, dass es beim Thema Resozialisierung von Pädophilen, das übrigens nur bedingt mit der Notinsel zu tun hat, unterschiedliche Meinungen gibt.


    Deutschland ist aus guten Gründen ein Rechtsstaat, historischen wie auch logisch nachvollziehbaren Gründen.
    Emotional kann ich persönlich als Mutter und zukünftige Oma manches dennoch nicht nachvollziehen, finde es allerdings - besonders in einem Bücherforum - sehr grenzwertig, in die Nähe von neonazistischem Gedankengut gerückt zu werden, wenn manche hier ihre emotionale Meinung auch mal äußern.

  • "Gewalt und Übergriffe an Kindern sind ein wachsendes Problem in unserer Gesellschaft" heißt es auf der Site der "Notinsel", die übrigens ein Modell kopiert, das vor ein paar Jahren in einem ganz anderen Bereich Furore machte. Kneipen hatten Aufkleber in den Fensterscheiben, auf denen stand: "Wir bieten Schutz vor Nazi-Gewalt" (oder ähnlich). Inwieweit tatsächlich stimmt, dass Gewalt gegen Kinder "ein wachsendes Problem" unserer Gesellschaft sei (entsprechende Statistiken finde ich auf dieser Site nicht - vielleicht wird einfach nur sehr viel mehr darüber geredet?) und ob es tatsächlich Sinn hat, Läden als "Notinsel" vor solchen Fällen anzubieten, müsste hinterfragt werden. Oder ob Leute hier ein Thema für sich ausnutzen - eines, das hochemotional ist.


    Rechtsradikalität und Gewalt gegen Kinder haben in einer Hinsicht viel gemein: Man ist fraglos dagegen. Hier besteht weitgehend Konsens. Deshalb kann man nichts falsch machen, wenn man sich dem anschließt und energisch eintritt. Offenbar kann man auch kaum übers Ziel hinausschießen. Was auch immer man fordert, angesichts der Schwere der Taten (über die nach meinem Eindruck weit weniger Leute etwas wissen als es Leute gibt, die darüber reden) ist es immer angemessen. Und während heutzutage niemand mehr in Deutschland ernsthaft für körperliche Züchtigung als Strafe eintritt - für welche Tat auch immer -, darf hier dann auch nach Gegengewalt und sogar Todesstrafe gerufen werden.


    Zitat

    kann ich persönlich als Mutter und zukünftige Oma


    Als betroffene Mutter und Oma? Oder einfach nur als Mutter und Oma?


    Lasst doch einfach mal die Leute, die etwas davon verstehen, ihren Job machen. Die Situation der Kinder ändert sich ganz sicher nicht dadurch, dass man gutgemeinte, aber offenbar hirnrissige Initiativen ins Leben ruft, dass man zu Denunziation als Gegenmaßnahme aufruft, oder gar zur Tötung der Täter.


    Und dass man dieserart in einen Chor einstimmt, dessen Dirigenten fragwürdige Leute sind - das ist wohl weniger ein Problem derjenigen, die das feststellen, gelle?

  • Zitat

    Original von Ikarus: Deutschland ist aus guten Gründen ein Rechtsstaat, historischen wie auch logisch nachvollziehbaren Gründen. Emotional kann ich persönlich als Mutter und zukünftige Oma manches dennoch nicht nachvollziehen, finde es allerdings - besonders in einem Bücherforum - sehr grenzwertig, in die Nähe von neonazistischem Gedankengut gerückt zu werden, wenn manche hier ihre emotionale Meinung auch mal äußern.


    Niemand rückt Dich in die Nähe von rechtem Gedankengut.
    Aber, um auf das Ausgangsthema zurückzukommen, warum verbessert unser Staat sein Ansehen im Volk nicht, wenn er ein hochsensibles Thema wie den Missbrauch von Kindern als Einfallstor dafür benutzt, den einzelnen Bürger immer weiter zu überwachen und die Privatspähre des Einzelnen auszuhöhlen, indem jegliche Internetaktivitäten ausgespäht werden. Die Gleichung, wer sich gegen eine Generalüberwachung wehrt, unterstützt die Täter, geht so nicht auf.
    Es gibt wesentlich einfachere Mittel, einschlägige Straftäter zu ermitteln.
    Wenn beispielsweise im Fall der Bankdatenausspähung Webseiten innerhalb von vier bis acht Stunden vom BKA gesperrt werden können, warum ist es dann nicht bei Delikten, die sich gegen Kinder und körperliche Unversehrtheit richten, möglich, einen richterlichen Vorbehalt vorausgesetzt, ähnlich zu agieren?
    Der Exekutive stehen in unserem Staat vielfältige Möglichkeiten mit geringerem Eingriffscharakter zur Verfügung, von einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Provider spreche ich gar nicht erst.
    Warum werden diese Mittel nicht genutzt?

  • @Salonlöwin...eben! Mir will z.B. einfach nicht einleuchten, warum nicht die Provider in die Pflicht genommen werden oder sich selbst Lorbeeren durch freiwillige Selbstkontrolle verdienen, in Zusammenarbeit mit der Polizei, Psychologen und wasweißich, um z.B. ein funktionierendes Suchsystem ihrer Server zu entwickeln und anzuwenden. Ich habe mal ein paar Programmierer gefragt, ob sowas nicht möglich wäre und man sagte mir, unmöglich wäre das nicht. Provider müßten doch ein starkes Interesse daran haben, ihr "Haus" rein zu halten?


    @Tom...betroffen bin ich nicht, aber ich möchte es auch nicht werden. Mir ist allerdings nach intensiverem Nachdenken und Gesprächen mit Freunden auch klar geworden, dass sich durch Aktionen wie der Notinsel auch durchaus wieder Renommes aufpolieren lassen...und vermutlich wieder bei den Verkehrten.


    Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass gegenüber Kindern, Schwächeren usw. der Beschützerinstinkt bei Erwachsenen geweckt wird. Sie sollten sich immer vertrauensvoll an Erwachsene wenden können...und nicht nur an Stellen, die sich einen Aufkleber aufpappen.

  • Zitat

    Original von Tom


    Lasst doch einfach mal die Leute, die etwas davon verstehen, ihren Job machen. Die Situation der Kinder ändert sich ganz sicher nicht dadurch, dass man gutgemeinte, aber offenbar hirnrissige Initiativen ins Leben ruft, dass man zu Denunziation als Gegenmaßnahme aufruft, oder gar zur Tötung der Täter.


    Ich denke auch, dass diese Art von Reaktion nicht zu einer Lösung führen wird, das sind wohl eher unüberlegte Kurzschlusshandlungen bzw. (wie das Ausgangsthema) Aktionen, die nur von politischem Machtstreben beeinflusst werden....leider :S.


    Das einzige was mich wirklich stört, ist, dass teilweise Menschen in Freiheit entlassen werden, die dann später erneut Straftaten verüben ( wie z.B. Missbrauch an Kindern).


    Und Ikarus muss ich einfach auch Recht geben. Kinder sollten in jedes Geschäft gehen können, wenn sie Hilfe benötigen, nicht nur in speziell gekennzeichnete.

  • Hallo, Pilvi.


    Ja, es ist ein Problem, dass Leute "in die Gesellschaft zurückkehren", die dann wieder Straftaten begehen. Das betrifft übrigens alle Arten von Straftaten. Und es sind längst nicht nur die hier diskutierten Straftaten, die traumatische Folgen für die Opfer haben. Nicht wenige Menschen, die überfallen und ausgeraubt worden sind, die im sicher gewähnten Zuhause bestohlen wurden, die Opfer von Nötigungen (auch sexueller Art) und anderen Übergriffen wurden, haben anschließend sehr, sehr große Probleme damit, ihren Alltag zu bewältigen. Ich habe in meiner Schöffenzeit viele Opfer erlebt, deren Leben sich vollständig durch die Tat änderte, geändert hatte. Bis hin zum Totalrückzug, zum Verzicht auf ein gesellschaftliches Leben - als Folge vergleichsweise "leichter" Delikte, wenn man die Messlatte bei Kindesmissbrauch ansetzt. Menschen, die in öffentlichen Verkehrsmitteln attackiert wurden, trauten sich nicht mehr in Menschenansammlungen. Vergewaltigungsopfer änderten ihr Sozialverhalten vollständig. Opfer von Raubüberfällen entwickelten sich zu verschüchterten, ängstlichen Menschen, die im Nachgang auch noch ihre Arbeitsstelle verloren und vieles darüberhinaus. Wenn man sich nur auf die Extreme kapriziert, verliert man aus dem Blick, wie grausam schon der "Regelfall" sein und werden kann. Opferinitiativen und (Selbst-)Hilfegruppen vermögen hier oft nur, dabei zu helfen, den Anschein von Normalität wieder herzustellen. Natürlich betrifft das nicht alle Opfer (nach meinem subjektiven Eindruck sogar glücklicherweise nur eine Minderheit). Aber doch bemerkenswert viele. Die Erkenntnis, keineswegs in einer sicheren Welt zu leben, kann hart treffen.


    Und dann werden diese Leute auch noch nach zwei, drei Jährchen entlassen. Ohne psychologische Nachsorge, ohne Überwachung, ohne Schutz für potentielle Opfer. Während der Haft wird zwar versucht, auf die Täter einzuwirken, aber im Regelfall ändert das - vor allem bei notorischen Kriminellen - wenig, gerade bei solchen, die man als Berufsstraftäter bezeichnen könnte, also Leute, die auf kriminelle Weise ihren Lebensunterhalt bestreiten. Also werden weitere Viten verheert, wenn man es so ausdrücken will. Wie gesagt, das gilt längst nicht nur für Missbrauchsfälle.


    Allerdings ist das psychologische/psychiatrische Gutachten bei Missbrauchsstraftaten eher die Regel, und die Gerichte bemühen sich durchaus intensiv darum, nicht nur den aktuellen Fall abzuurteilen, sondern auch an die Zukunft zu denken. Die reißerische Darstellung in den Medien ist oft falsch oder stark vereinfachend.


    Die Prinzipien unseres Strafvollzugs sind aber auch relativ wohl durchdacht, und es ist nicht die Aufgabe des Strafvollzugs, die Gesellschaft rundum vor Straftätern zu schützen. Zudem würde eine fragwürdige Art von Schutz entstehen, wenn man alle Täter einfach entfernen würde (früher, in vergangenen Jahrhunderten, wurde Straftäter verbannt, um derlei zu erreichen, zuweilen sogar auf andere Kontinente - was auch nicht funktioniert hat). Denn den Ersttäter erreicht man so niemals. Und gerade im Bereich der Kindesmisshandlung und des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger sind - entgegen der Darstellung in den Medien - überwiegend viele Ersttäter "zugange". Sehr häufig entstammt der Täter dem familiären Umfeld des Opfers. Die Verhaltensmuster sind komplex, vielschichtig und sehr unterschiedlich. Prävention ist hier außerordentlich schwer, grenzt zuweilen an Denunzierung. In den Neunzigern war das sehr "beliebt", und "überfürsorgliche" Sozialamtsmitarbeiter haben ganze Familien vernichtet, weil sie Indizien bewerteten, die keine waren. Dass dabei auch hier und da tatsächlich Taten verhindert wurden, verwischt diese dramatische Entwicklung oft im Wahrnehmungsbild.


    Man sollte auch nicht aus dem Blick verlieren, dass hier - auch durch die Initiativen von Frau von der Leyen - etwas zum gesamtgesellschaftlichen Großproblem gemacht wurde, wodurch gleichzeitig die Verhältnismäßigkeit zu Grabe getragen wird. Natürlich ist und wäre wünschenswert, dass es überhaupt keine Fälle mehr gäbe, aktive wie passive (etwa durch den "Konsum" von Kinderpornografie). Aber diesem Problem durch Zensur, Sippenhaft, staatlich anerkannte Feindbilder und Haudraufjustiz zu begegnen, beseitigt es erstens nicht und generiert zweitens eine Geisteshaltung, die alles konterkariert, was wir im Hinblick auf Strafverfolgung und -vollzug seit dem "Dritten Reich" dazugelernt haben. Und den eigentlichen Opfern wird auf diese Art sowieso nicht geholfen.


    Sonntag, 9. August 2009, ARD, 20:15 Uhr: "Polizeiruf 110". Thema "Kindesmissbrauch", wie schon so oft. Ein Vater hat seine Tochter missbraucht, jahrelang. Das Mädchen hat versucht, sich umzubringen, überlebte aber mit einer schweren geistigen Behinderung. Dieses Mädchen hat schließlich den Vater getötet. Bemerkenswert war vor allem das Ende des Films. Es stellte sich heraus, dass sich der Mann hat umbringen lassen, dass er sich also nicht gewehrt hat, weil er die eigene Schuld anerkannte. Gleichzeitig wurde offenbar, dass dieser Mord für das geistig behinderte Mädchen weitgehend ohne Konsequenzen bleiben würde - aufgrund ihrer verminderten Schuldfähigkeit. Dieser Plot, dessen möglicher Realismus nicht das Thema ist, vermittelt eine sehr eindeutige Botschaft: Es war in Ordnung, dass das Mädchen ihren Vater getötet hat. Und es ist auch in Ordnung, dass sie dafür nicht bestraft werden wird. Die "Todesstrafe für Kinderschänder"-Initiatoren dürften gejubelt haben.

  • Zitat

    Original von Pilvi


    Das einzige was mich wirklich stört, ist, dass teilweise Menschen in Freiheit entlassen werden, die dann später erneut Straftaten verüben ( wie z.B. Missbrauch an Kindern).


    Die Gefahr besteht potentiell bei fast jedem entlassenen Strafgefangenen. Nur sollte man nicht vergessen, dass die Rückfallquote bei Sexualstraftätern geringer ist, als beispielsweise bei Gewalttätern. Zudem hat jeder entlassene Strafgefangene nach Verbüßung seiner Haftstrafe ein Recht auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das gilt auch Sexualstraftäter.


    Leider tut die "Rübe-ab-Mentalität" unserer Sensationsmedien ein Übrigens dazu, diese Wiedereingliederung zu erschweren. Natürlich ist eine Sexualstraftat nicht zu entschuldigen und viele Opfer leiden ein ganzes Leben unter dem was ihnen angetan wurde - aber nichtsdestotrotz ist auch der Straftäter Teil unserer Gesellschaft - ohne Wenn und Aber.


    Würde sachlicher berichtet werden, würde die Sensationsgeilheit der Menschen nicht dauernd neu angestachelt werden, wäre es vielleicht möglich ein wenig emotionsloser mit diesem Problem umzugehen.


    Zudem hat die Zahl der Sexualstraftaten abgenommen. Die Hamburger Kriminalstatistik wies für das Jahr 2007 insgesamt 1588 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aus. Im Jahre 2008 sank diese Zahl auf 1520 Straftaten. Ein Rückgang um 68 (gleich 4,3 %) gegenüber dem Vorjahr.


    Es gibt die Möglichkeit der Sicherheitsverwahrung. Das Bundesverfassungsgericht hatte dazu festgestellt, dass die Sicherheitsverwahrung nicht mit einer Strafverlängerung gleichzusetzen ist. Es handelt sich hier um eine reine Schutzmaßnahme. Man kann also nicht hergehen und unliebsame Menschen, die strafrechtliche auffällig geworden sind, einfach so "wegsperren". Diese widerspräche den Grundsätzen unserer Verfassung. Gerade an die Sicherheitsverwahrung hat das BVerfG sehr hohe Entscheidungshürden geknüpft.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ihr beide habt Recht, das betrifft alle Straftaten, nicht nur Kindesmissbrauch (wie in meinem Eintrag ja auch gesagt).


    Und ihr habt auch Recht, dass es natürlich nicht so einfach ist, wie es sich anhört. "Wegsperren und gut ist" funktioniert nicht, das ist mir ebenfalls klar.


    Das Problem ist einfach so komplex und gerade weil man als Normal-Bürger nur schwer die Übersicht behält und man sich so machtlos fühlt, kommen dann wohl solche Gedanken bzw. Formulierungen zustande, obwohl klar ist, dass eine Lösung viel schwieriger herbeizuführen ist.

  • Hallo, Pilvi.


    Ein Erwachsener, der beraubt oder angegriffen wird (oder werden soll), hat - nach Meinung vieler - irgendwie noch die Chance, sich zu wehren; er steht seinem Täter, so wird geglaubt, auf Augenhöhe gegenüber. Außerdem ist er erwachsen; ihm stehen andere Mechanismen zur Verfügung, um Erlebtes zu verarbeiten. Kinder sind in jeder Hinsicht schutzlos, zudem wirken sich Misshandlungen oft auf die Entwicklung aus, haben also langfristig sehr viel dramatischere Konsequenzen. Vereinfacht, vereinfachend gesagt. (In der Realität ist jeder Fall anders.)


    Und deshalb sind wir an dieser Stelle dünnhäutiger, aufgeregter, emotionaler. Das ist einerseits begrüßenswert; es ist ein gutes Zeichen, wenn sich eine Gesellschaft um die Schwächsten sorgt und kümmert - solange sie es ernsthaft tut. Aber wie bei jeder Entwicklung gibt es auch hier Leute, die etwas für sich auszunutzen versuchen, Politiker, die bei Wahlkampfthemen keine Tabus kennen, Gutmenschen, die Schutz mit Selbstjustiz verwechseln, und Trittbrettfahrer aus allen Ecken. Da das Thema heikel ist, gerät jede Kritik an diesen Leute wiederum zu einem Gang über dünnes Eis. Wer Maßnahmen kritisiert, macht sich sofort verdächtig, Sympathisant oder wenigstens Dulder zu sein. Auf diese Art entsteht eine Aktionismusspirale, deren Ende nicht abzusehen ist. Was auch immer als Maßnahme geeignet zu sein scheint, muss abgenickt werden, solange die Chance besteht, ein bisschen zu erreichen, wie mordsmäßig groß der Aufwand im Verhältnis dazu auch sein mag. Oder welche Kollateralschäden sonst noch in Kauf genommen werden müssen - zum Beispiel der Verzicht auf ein Grundrecht wie die Meinungsfreiheit. Der "Kampf gegen den Terror" und der Kampf gegen Kindesmissbrauch haben dieserart inzwischen viel gemein.


    Ich muss allerdings auch anmerken, dass Literatur und Kunst nicht ganz unschuldig an den aktuellen Entwicklungen sind. Aus einem Tabuthema, das es noch bis in die Achtziger war, ist ein Lieblingsthema geworden. An der Spitze der Gewaltthemeninflation steht Kindesmissbrauch. Kein anderes Tatmuster macht es leichter, schwarz-weiß zu zeichnen, Emotionen zu generieren (oder auszunutzen), fragwürdige Plots zu rechtfertigen. Kaum eine angekratzte Protagonistinnenvita kommt mehr ohne Missbrauchsvergangenheit aus. Alleine die Erwähnung der Vokabel erspart Autoren seitenlange Figurenzeichnungen. Die Verarbeitung von vielen anderen, nicht minder schweren (ohne das gegeneinander aufrechnen zu wollen oder können) traumatischen Erlebnissen ist in den Hintergrund gerückt. Salopp gesagt kann man mit einer "simplen Vergewaltigung" kaum noch einen Blumentopf gewinnen, als Autor. Die Gesellschaft und die Leserschaft fordern immer die schwerstmöglichen Geschütze, die auf dem Markt erhältlich sind. Natürlich gibt es viele Autoren, die ihre Literatur dieserart als Ventil und Verarbeitungshilfe tatsächlich benötigen. Aber das Bild, das in der Öffentlichkeit entsteht, beschädigt Wahrnehmung und Umgang. Siehe oben (voriger Beitrag).

  • * Hier OT *


    Zitat

    Original von Tom
    Ich muss allerdings auch anmerken, dass Literatur und Kunst nicht ganz unschuldig an den aktuellen Entwicklungen sind. Aus einem Tabuthema, das es noch bis in die Achtziger war, ist ein Lieblingsthema geworden. An der Spitze der Gewaltthemeninflation steht Kindesmissbrauch. Kein anderes Tatmuster macht es leichter, schwarz-weiß zu zeichnen, Emotionen zu generieren (oder auszunutzen), fragwürdige Plots zu rechtfertigen. Kaum eine angekratzte Protagonistinnenvita kommt mehr ohne Missbrauchsvergangenheit aus. Alleine die Erwähnung der Vokabel erspart Autoren seitenlange Figurenzeichnungen. Die Verarbeitung von vielen anderen, nicht minder schweren (ohne das gegeneinander aufrechnen zu wollen oder können) traumatischen Erlebnissen ist in den Hintergrund gerückt. Salopp gesagt kann man mit einer "simplen Vergewaltigung" kaum noch einen Blumentopf gewinnen, als Autor. Die Gesellschaft und die Leserschaft fordern immer die schwerstmöglichen Geschütze, die auf dem Markt erhältlich sind. Natürlich gibt es viele Autoren, die ihre Literatur dieserart als Ventil und Verarbeitungshilfe tatsächlich benötigen. Aber das Bild, das in der Öffentlichkeit entsteht, beschädigt Wahrnehmung und Umgang. Siehe oben (voriger Beitrag).


    Das wäre mal ein äußerst interessantes Diskussionsthema, nicht nur auf Kindesmißbrauch, sondern ganz allgemein auf die, um es so auszudrücken, zunehmende Gewalt und Tabubrüche in Büchern (und Filmen) bezogen.


    Edit. Präzisierende Ergänzung

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von SiCollier ()

  • ich möchte meinem ärger bitte auch mal luft machen:


    in erster linie frequentiere ich in diesem forum die buchrelevanten threads, aber ab und zu schaue ich auch mal hier und in der plauderecke vorbei.
    nahezu JEDES mal stolpere ich über diesen thread... klicke an... und dann erinnere ich mich: achja, das thema mit der frau von der leyen.


    es wäre schön, wenn dem grund des ärgers irgendwie im titel ausdruck verliehen werden könnte :anbet :wave

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben." (A. Lincoln)