Thomas Glavinic - Carl Haffners Liebe zum Unentschieden

  • Stell Dir den freundlichsten Ort der Welt vor:


    "In Golds Buchladen gab es ein enges, gemütliches Hinterzimmer, (...). Es herrschte ein anheimelndes Durcheinander. Bücher stapelten sich in den Regalen, auf dem Boden, auf dem Tisch. Zigarrenasche bedeckte aufgeschlagene Zeitungen. Überall standen Kaffeetassen, die niemand abwaschen wollte. Auf dem Fauteuil türmten sich Wäsche, Kochgeschirr, Zeitungen und allerhand Kleinigkeiten wie Schreibpapier, Zahnbürste, Rheumamittel und Faschingsmasken. Leicht stieß man sich irgendwo, und ein paarmal am Tag am Tag griff man in einen Fliegenfänger. In einer Ecke qualmte ein undichter Ofen, auf ihm bereitete Gold Tee und Kaffee."


    Der gemütlichste Ort jedenfalls für den jungen Carl Haffner, der im Hinterzimmer der Buchhandlung das Schachspiel lieben lernt. Und das - Glavinic lässt es den Leser dieser spannenden Geschichte spüren - ist auch das Handicap des gutmütigen Helden. Er liebt das Spiel, nicht den Wettkampf. Erfolgreich spielt er sich in die Schachelite der Welt, geht seinen Weg, welcher ihm mehr durch seine Freunde als durch Ehrgeiz vorgezeichnet ist.


    Vielleicht literarisch nicht das "Große Werk" Glavinics, von der Spannung, der Menschlichkeit und der Schilderung eines zutiefst in sich gefangenen Menschen allerdings ein Meisterstück.


    Liebe Grüße
    D.M.

  • Worum es geht
    1910 wird in Wien die Schachweltmeisterschaft unter reger Anteilnahme von Publikum und Presse ausgetragen. Die Aufregung ist groß, als sich abzuzeichnen beginnt, dass der amtierende Weltmeister Emanuel Lasker mit dem weltfremden und schüchternen Herausforderer Carl Haffner womöglich doch kein so leichtes Spiel haben könnte, wie anfangs allseits vermutet wird.


    Wie es mir gefallen hat
    Der menschenscheue Carl ist ein Schachgenie und hat seit seiner Kindheit keine anderen Interessen als das "königliche Spiel". Früh hat er sich in seine eigene Welt der schwarzen und weißen Steine zurückgezogen, und darüber alles andere vernachlässigt, die Schule, eine Berufsausbildung und die Pflege von Freundschaften. Dass er trotzdem schlecht und recht durchs Leben kommt, verdankt er seiner Mutter und der Halbschwester. Trotz aller Entbehrungen hat er es aber noch zu keinem durchschlagenden Erfolg gebracht, denn Carl fehlt eine ganz entscheidende Eigenschaft, die Sieger letzten Endes ausmacht.
    Nicht gegensätzlicher könnte Emanuel Laskers Charakter sein; der Weltmeister ist gebildet, redegewandt und weltoffen. Und doch gehörten alle meine Sympathien dem bescheidenen Carl, dessen Lebensgeschichte der Autor in Rückblicken ganz wunderbar erzählt.
    Obwohl der Wettkampf im Mittelpunkt der Handlung steht, konzentriert sich der Autor so geschickt auf die psychische Verfassung und das Umfeld seiner Figuren, dass der Leser von den Regeln des Schachspiels keine Ahnung haben muss, um in den vollen Genuss der Lektüre zu kommen.
    Mich hat dieser faszinierende Roman jedenfalls von Anfang an in seinen Bann gezogen, und ich bin Carl Haffner auf seinem Lebens- und Leidensweg mit Interesse und Anteilnahme gefolgt.