Über den Autor:
Jean-Paul Sartre (* 21. Juni 1905 in Paris; † 15. April 1980 in Paris; vollständiger Name Jean-Paul Charles Aymard Sartre) war ein französischer Schriftsteller und Philosoph. Der politisch engagierte Verfasser zahlreicher Romane, Erzählungen, Dramen, Essays und philosophischer Werke gilt als der bedeutendste und repräsentativste französische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts.
Weitere Informationen:
Jean-Paul Sartre - Porträt bei dieterwunderlich.de
Jean-Paul Sartre - Biographie bei whoswho.de
Jean-Paul Sartre - Eintrag bei philolex.de
Klappentext:
Meine Personen stellen sich die Frage, die auf der ganzen Welt so viele Menschen meiner Generation gequält hat: "Wie würde ich mich bei Folter verhalten?" (Jean-Paul Sartre)
Eigene Meinung:
Vier Männer, eine Frau, Angehörige der französischen Résistance. Ein Dorf sollte angegriffen, von französischen Kollaborateuren befreit werden. Es lief schief; das Dorf wurde zerstört, die Einwohner getötet, sie gefangen genommen. Sie erwartet die Folter, der darauf folgende Tod. Einige wesentliche Frage dieses Stücks: Wie gehe ich damit zu wissen, dass ich sterben werde? Wie gehe ich damit, dass ich gefoltert, geschlagen, misshandelt werde? Wie gehe ich mit eigenen Scham um, mit meinen Schuldgefühlen? Inwiefern bin ich Opfer? Bin nicht auch Täter? Welche Verantwortung übernehme ich für mein Handeln, für meine Taten und rechtfertigen meine Ideale, mein guter Wille die Knechtschaft durch Feinde zu beenden, auch auf Kosten von Menschenleben?
Francois, der Jüngste, gerade einmal 15 Jahre alt, verwehrt sich gegen die eigene Schuld und weist Mittäterschaft bei der Ermordung der Dorfbewohner von sich; er sieht sich als ein Befehlsempfänger, als ein Mann der Tat. Er handelte nicht nach seinem Gewissen, seinen Idealen oder politischen Vorstellungen; Heroik, der Gedanke der Freiheit, von freien Entscheidungen - all das ist ihm vollkommen fremd.
ZitatOriginal von: Jean-Paul Sartre - Tote ohne Begräbnis, 29.Auflage März 2006, S.20
"Habt ihr mich denn gewarnt, als ich zu euch kam? Ihr habt mir gesagt: Die Résistance braucht Männer. Ihr habt mir nicht gesagt, dass sie Helden braucht. Ich bin kein Held, ich nicht, ich bin kein Held! Ich bin kein Held! Ich habe gemacht, was man mir gesagt hat. Ich habe Flugblätter verteilt und Waffen befördert, und ihr sagtet, dass ich immer guter Laune war. Aber niemand hat mich darüber aufgeklärt, was mich am Ende erwartet. Ich schwöre euch, dass ich nie wusste, auf was ich mich eingelassen habe."
Wie gehe ich mit dem Wissen um, was ich habe? Kann ich die Schmerzen ertragen, kann ich damit umgehen zu schweigen, es mit mir geschehen zu lassen, mich nicht zu wehren, mich von mir selbst abzuwenden? Wie kann ich mich darauf "vorbereiten"? Gehe ich im Kreis, träume und schlafe ich, weine, rede darüber, schweige, weil ich es doch nicht ändern kann? Und wie ertrage ich es andere Mitglieder der Gruppe schreiend, um Gnade flehend, weinend zu hören?
Diese Versuchsanordnung Sartres ist ein gespanntes Feld mit Personen, die darüber nachdenken müssen und sollen, inwiefern sie verantwortlich sind für ihr eigenes Tun und Handeln; die Verantwortung weg zu schieben, mich auf das Befehlsverhältnis zwischen Anführer und Mitglied zu berufen, einfach nur zu schweigen - all das führt zu Spannungen, nicht nur mit der eigenen Persönlichkeit. Nicht zuletzt ist das Stück auch eine existenzialistische Versuchsanordnung. Sartre sagt: "Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben." Und weiter: "Die Existenz geht der Essenz voraus. [...] In der Tat, alles ist erlaubt, wenn Gott nicht existiert, und demzufolge ist der Mensch verlassen, da er weder in sich noch außerhalb seiner eine Möglichkeit findet, sich anzuklammern. Vor allem findet er keine Entschuldigungen. Geht tatsächlich die Existenz der Essenz voraus, so kann man nie durch Bezugnahme auf eine gegebene oder feststehende menschliche Natur Erklärungen geben; anders gesagt, es gibt keine Vorausbestimmungen mehr, der Mensch ist frei, der Mensch ist Freiheit."
Die Frage also ist, wie nutze ich diese Freiheit? Und: bin ich immer noch frei, selbst wenn ich in unfreien Verhältnissen mich befinde? Inwiefern schließt meine Freiheit aus, Entscheidungen gegen den Willen anderer zu treffen? Gibt es überhaupt eine Freiheit der Entscheidungen und Handlungen?
Sartre untersucht das Interaktionsverhältnis der Figuren, lässt die unterschiedlichen Meinungen aufeinander prallen; die die Figuren formulieren sehr deutlich ihre Meinungsansätze, sehr deutlich ihre Einstellungen und sind auch nicht davor gefeit falsche, in dem Moment voreilige Entscheidungen zu treffen, die dass Leben anderer zerstören, ja vernichten können. Und doch ist die Frage, ob und wie sich Menschen unter schwierigen Verhältnissen verändern; wie sehr sich die Folter auf den Geist auswirkt, wie sehr sie entmenschlicht. Die Situation eskaliert, als der Anführer der Résistance-Gruppierung zu Ihnen gesperrt wird.
Verrät man ihn, um das eigene Leben zu schützen? Wie viel wert ist das eigene Leben, im Gegensatz zu Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten? Ist das eigene Leben noch wert gelebt zu werden, wenn man es durch falsche Entscheidungen zerstört? Sartres Philosophie geht von einer vollkommenen Negierung eines moralischen gültigen Wertesystems aus - "Gott ist tot.", proklamierte Nietzsche - Sartre negiert also die Existenz eines moralisch-guten, wichtigen Daseins eines Menschen; der Mensch ist nicht Teil einer Welt, er erschafft sie sich. So auch die Gründe seiner Existenz, so es denn welche gibt.
Die Gruppe entscheidet sich für ihre Ideale und gegen feste Bande, sei es Familie oder Freude. Dem Anführer, eigentlich Unbeteiligter der Gesamtsituation bemerkt:
ZitatOriginal von: Jean-Paul Sartre - Tote ohne Begräbnis, 29.Auflage März 2006, S.61
"Was ist bloß aus euch geworden? Warum seid ihr nicht mit den anderen umgekommen? Mir graust vor euch."
Die Folter als Grenzsituation hat zu einer charakterlichen Entwicklung aller geführt, positiv, meistens eher zum negativen. Die Entwicklungen sind schleichend, später daran direkt bemerkbar. Der Leser hält die gesamte Zeit die Luft an; das Spannungsverhältnis ist so spürbar, dass man sich als Teil der Geschichte, als Beobachter der Situation fühlt. Die Frage, ob man die Handlung der Figuren moralisch verurteilen kann, stellt sich nicht, führt Sartre doch genau darüber die Argumentation: Darf ich als Außenstehender eine Entscheidungen, die aus Moral oder Unmoral heraus, getroffen wurde, anzweifeln? Habe ich dieses Recht als Leser, als Mensch?
Viele Fragen bleiben offen, das Ende verstört um so mehr. das Stück führt dazu über die eigenen moralischen Maßstäbe, die eigenen Vorstellungen nachzudenken. In einem Nachwort wird extra betont, der Ort und auch die Zeit der Handlung seien unwichtig - ebenso hätte es in China, den USA, Afghanistan oder Indien passieren können. Oder tatsächlich kommt man nicht umhin an moderne Beispiele zu denken - siehe Abu Ghraib, Guantanamo,... .
Dieses Drama ist sprachlich klar, direkt, schnörkellos, ohne viele Details, pointiert und macht einfach nur sprachlos. Es regt zum Nachdenken an, es lässt einen nicht los, die Entwicklung der Figuren ist rasant, die Fragen, die sie sich stellen, auch modern, immer noch (traurigerweise) sehr aktuell. Der Leser wird ständig mit der Frage "Und du?", wenn auch nie direkt, konfrontiert. Man lernt etwas, nicht nur über sich selbst.
Das Stück ist kein "Lesevergnügen" - es hat keinen unterhaltenden Aspekt, es will aufrütteln. Und das schafft es, nicht zuletzt durch die spannungsgeladene Handlung und die handwerklich gute Sprache.