Der Untergrundmann - Ross Macdonald

  • OT: The Undergroundman 1971



    Lew Archer, Privatdetektiv in Los Angeles, macht beim morgendlichen Vogelfüttern vor dem Haus die Bekanntschaft eines kleinen Jungen. Nur wenige Augenblicke später wird er in eines Familienstreit zwischen Jean und Stanley Broadhurst, den Eltern des Kleinen, hineingezogen. Aus der Zufallsbegegnung ergibt sich noch am gleichen Tag ein Auftrag für Archer. Stanley und der kleine Ronnie sind nämlich nicht, wie angekündigt, bei Ronnies Großmutter, Elizabeth Broadhurst, eingetroffen. Und in der Gegend, wo die Großmutter wohnt, ist ein Waldbrand ausgebrochen. Jean möchte, daß Archer ihren Sohn und ihren Mann sucht.
    Schon in den nächsten Stunden erfährt Archer, daß Stanley mit einem jungen blonden Mädchen unterwegs war. Überdies scheint er wenig lebenstüchtig zu sein. Die Ehe mit Jean kriselte vor allem deswegen, weil Stanley mehr und mehr von dem Wunsch besessen war, herauszufinden, was mit seinem Vater, Leo, geschah, der fünfzehn Jahre zuvor spurlos verschwand.


    Der sich ausbreitende Waldbrand läßt die Zeit, die Archer für die Suche nach Stanley und dem Jungen zur Verfügung steht, knapp werden. In der Berghütte der Broadhursts aber wird er fündig. Dort liegt Stanleys Leiche. Das Mädchen und Ronnie sind verschwunden. Bei der weiteren Suche stößt Archer auf die Familien Kirkpatrick und Crandall, den geflüchteten Sträfling Sweetner, die Kunstlehrerin und Malerin Ellen Storm sowie den etwas zurückgebliebenen Gärtner Fritz Snow und seine dominierend-beschützende Mutter. Archer muß die Fäden entwirren, die all diese Menschen seit fünfzehn Jahren auf tragische Weise aneinanderbinden.


    The Undergroundman ist der sechzehnte Kriminalroman von Ross Macdonald (1915 - 1983) mit dem Detektiv Lew Archer. Kaum erschienen, stand er auf der Bestsellerliste und hielt sich dort fast fünf Monate lang. Dabei erzählt Macdonald eigentlich nur das, was er in seinen Archer-Krimis immer erzählt. Es gibt ein Rätsel bzw. ein Verbrechen in Archers unmittelbarer Umgebung, er soll es lösen. Auf der Suche nach der Lösung stößt er auf eine Gruppe von drei, vier reichen Familien sowie mindestens einer armen Familie, die allesamt im Wortsinn durch die Leiche im Keller schuldhaft aneinander gebunden sind. In der Elterngeneration, oft schon der Großelterngeneration, herrschen Neid, Haß, Gier und enttäuschtes Liebesverlangen. Die Menschen sind nicht freundlich zueinander, sondern hart und aggressiv. Es geht ums Geld, auch Sex ist nur Ware. Rettung gibt es höchstens für die allerjüngste Generation, die Kinder. Sie sind unschuldig, ihr ‚Makel’ besteht nur in der Schuld, die ihre Eltern ihnen vererbt haben. Der melancholisch-resignierende Archer wird ihr Retter und damit ihr Hoffnungsträger. Die geretteten Kinder wiederum werden sobald sie geheilt sind, die Garanten für eine bessere Zukunft sein.


    Macdonald gelingt es immer und oft schon auf den ersten ein, zwei Seiten eine bestimmte bedrückende Stimmung aufzubauen, die während des gesamten Romans anhält. Die Handlung ist immer spannend, auch wenn man weiß, daß man die Geschichte an sich schon fünfzehnmal gelesen hat.
    Der Grundgedanke einer von den Wurzeln her verrotteten Gesellschaft ist zugleich jedoch in hohem Maß sentimental und eigentlich banal. Die Vergangenheit ist immer böse und immer traumatisch. Romantisch-einschichtig ist das gesamte denkerische Fundament der Auflösung, nämlich daß einen die Sünden immer einholen.


    Das Vorführen einer moralisch-sittlich verrotteten Gruppe von Menschen hat Macdonald immer wieder das Lob eingebracht, gesellschaftskritisch zu sein. Das ist er aber nicht, dafür sind die Handlung und die Figuren viel zu einschichtig angelegt. Die Reichen sind schlecht, die Armen sind oft noch schlechter. Junge Frauen und vor allem Kinder sind gut. Ich ertappe mich beim Lesen oft genug dabei, daß ich die Angehörigen der einzelnen Familien miteinander verwechsle. War Leo jetzt Stanleys Vater? Und von wem hat sich Mrs. XY scheiden lassen, um wen zu heiraten? Wer war jetzt gleich noch mal der Vater des unehelichen Kindes der Tochter von YZ? Die Personen sind eben alle gleichermaßen gierig und Alkoholiker und Süchtige und haßerfüllt und herrschsüchtig.


    Die Krimihandlung ist in der Regel sorgfältiger und überzeugender aufgebaut. Das Motiv von Täterin/Täter ist genreentsprechend überzeugend. Die Spannung wird tatsächlich bis zur vorletzten Seite aufrechterhalten.
    Die Motivik ist stimmig. Im ‚Untergrundmann’ wird im Wortsinn nach der Vergangenheit gegraben. In Papieren, in den Köpfen der Betroffenen, in der Erde. Der Boden muß aufgewühlt werden, um freizulegen, was er verbirgt. Ebenso brennt nicht nur der kalifornische Wald, sondern der ganze Kosmos der betroffenen Familien.


    Das ist zugleich enorm symbolisch, wirkt aber letztlich aufgesetzt, eben weil das Gesamtkonstrukt nicht anderes ist als ein Kriminalroman. Es geht um die Aufklärung eines Verbrechens, um nichts sonst. Aufgesetzt fand ich es auch stilistisch. Es gibt wilde Metaphern, die poetisch wirken sollen, für mich den Text aber auseinanderreißen. Da sehen Vögel am Boden aus wie Stücke zerbrochenen Himmels, Blicke kriechen wie Schnecken eine Mauer hinauf. Andere Vergleiche sind völlig abgebraucht, auch 1971. Schmieröl liegt wie ein Handschuh um eine Hand, Haare sind ausgebreitetes Gold auf dem Kissen. Ja, klar.
    Die deutsche Übersetzung holpert überdies, aber wahrscheinlich ist es nicht leicht, Macdonalds gewagte Ausdrücke adäquat zu übertragen, abgesehen davon, daß sie verführerisch wirken und den Eindruck von poetischer Sprache machen, obwohl sie alles andere als sprachliche Glanzleistungen sind, sonder eher an erste Schreibversuche schwärmerischer Teenager erinnern.


    Wenn man sich vor Augen hält, daß man einen Kriminalroman liest, wenn man pessimistische, alternde Detektive mag und atmosphärische Landschaftsschilderungen, wortkarge Dialoge und ein Amerika-Flair ohne Handy, PC und schnelle Schnitte, ist man mit dem Untergrundmann trotzdem gut beraten. Obwohl die Handlung zu Beginn der siebziger Jahre spielt, hat dieser Krimi eine gewisse Überzeitlichkeit bewahrt, die ihn auch heute noch zu attraktiver Lektüre werden läßt, nostalgisch vielleicht, aber ohne daß man das Gefühl hat, im Krimi-Museum gelandet zu sein.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Die Lew-Archer-Krimis von Ross Macdonald sind eigentlich alle zu empfehlen. Er bewegt sich da in der Tradition von Raymond Chandler. Aber auch die John-Lutz-Krimis um den Privatdetektiv Arb Nudger sind aus diesem ganz besonderen Holz geschnitzt. Natürlich darf auch Dashiell Hammet in dieser Aufzählung nicht fehlen.


    Wenn mich nicht alles täuscht dann ist/war Ross Macdonald mit der Krimiautorin Margaret Millar verheiratet.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Du hast recht, Macdonald knüpft an Chandler an. Sehr stark sogar, das ist in allen sechzehn :gruebel sechzehn?, ich glaube es jedenfalls, Lew-Archer-Krimis zu erkennen.


    Es sind sehr spannende Krimis, ich habe sie so zwischen 15 und Mitte zwanzig mit Begeisterung gelesen. Damals waren sie zum Teil ganz neu.
    Heute kann ich sie nicht mehr mit echtem Genuß lesen, wie ich in den letzten zwei Tagen festgestellt habe. (Ich bin am Ausmisten :grin)


    Die Lew-Archer-Romane haben wirklich alle den gleichen Plot. :wow
    Ich hatte eben Nr. 6 seit heute morgen in der Hand, in dem Archer zu einer reichen Familie kommt, einen kleinen Auftrag übernehmen soll, kurz darauf auf verwirrte junge Leutchen oder Kinder in Gefahr stößt und zwei Seiten später dahinter kommt, daß mindestens fünfzehn Jahre zuvor etwas so Schreckliches passiert ist, daß seither sechs Familien traumatisiert sind.
    Archer entwirrt die Fäden, der Bösewicht wird endlich bestraft und wir dümpeln melancholisch zum nächsten Band.


    Ich gebe zu, daß ich etwas gereizt bin. :grin


    Mir war nicht klar, wie ähnlich sie sich sind.


    Dagegen ist Chandler, den ich überhaupt nicht mag, noch abwechslungsreicher.


    Hammet nehme ich persönlich aus der Aufzählung immer heraus, weil er in meinen Augen echte Romane schreibt, nicht 'bloß' Krimis. Das ist aber eine dieser eigenartigen magali-Abweichungen in der Beurteilung der Weltliteratur ;-)


    Ja, Ross Macdonald war mit Margaret Milar verheiratet. Macdonald ist ein Pseudonym, er hieß Kenneth Millar.



    Und für heute will ich kein Buch mehr von ihm sehen. Wie konnte ich damals bloß 14 Stück davon kaufen? :yikes



    :lache


    magali

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    K. Kraus

  • Ähm...ich habe da mal eine Frage: Der Autor vom "Malteserfalken", einem der richtungsweisenden Kriminalromane (neben vielen anderen) ist bei Dir kein Krimi-Autor? Ich würde gerne wissen wollen, warum nicht, ich hätte diese "Ausgrenzung" eher beim moralischen Chandler vermutet. :wave

  • Hammet setzt in den Romanen in Aufbau, Plot, Figuren (Detektive-Verbrecher) breit Elemente des Kriminalromans ein. Beschrieben wird tatsächlich die detection, die Lösung des gestellten Rätsels. Trotzdem finde ich nicht, daß man sie auf 'Krimi' reduzieren sollte.


    In meinen Augen geht es bei Hammet um mehr. Bluternte ist kein Krimi und auch nicht nur pulp, sondern ein Roman über die Spirale der Gewalt. Der Gläserne Schlüssel ist kein Krimi über Wahlbetrug, sondern über falsche Träume, heftige Gesellschaftskritik inklusive.
    Der dünne Mann ist eine klassische Comedy of Manners.


    Im Malteser Falken geht es auch nicht allein darum, wer Spades Partner erschossen und warum, noch wer den Falken besitzt, obwohl gerade das Buch am ehsten einem Krimi entspricht.


    Spades Bemühen um die 'Wahrheit' st ein seltsames Streben nach der Wahrheit an sich. Als ob es eine einzige, ultimative Wahrheit gäbe. Ich finde nicht, daß es nur Freundschaft ist, die ihn treibt, sondern eben das Bemühen nach der Erkenntnis der WAHRHEIT. Etwas Abstraktem Großen.


    Für mich hat sein Verhalten philosophische Aspekte. Spade ist ein absoluter Charakter. Er ist nicht gut, nicht böse. Ich bin nicht mal sicher, ob er im üblichen Sinn moralisch ist. Er will Gerechtigkeit, aber mehr noch will er Erkenntnis. Es hat einen Anklang des alten Faust-Anspruchs, daß einer erkennen will 'was die Welt im Innersten zusammenhält.'


    Das erklärt für mich seine brutale Umgangsweise mit allen Beteiligten weit besser als es Trauer, Gerechtigkeitsgefühl oder enttäuschte Liebessehnsucht tun.
    Wären diese Gefühle allein seine Triebkraft, wären der Rroman für mich sentimental, aber Hammet ist nicht sentimental.
    Spade ist es auch nicht, Gutman dagegen ist sentimental und Bridget ebenso.


    Mein zweites Argument ist der Falke. Gibt es ihn eigentlich? Es wird doch nur von ihm gesprochen. Wer von den Beteiligten hat ihn wirklich gesehen?
    Alle glauben nur an die Existenz dieses unermeßlichen Schatzes.
    In der Verfilmung wird er den ZuschauerInnen vorgeführt (für mich ein dramaturgischer Fehler in einem ansonsten ausgezeichneten Film), im Roman nicht.


    Die Suche nach dem unermeßlichen Reichtum, dem Gold, wird genauso absolut betrieben, wie Spades Suche nach der Wahrheit.
    Jede und jeder in diesem Roman geht völlig in dem Bemühen auf, etwas Gewaltiges, Großes, geradezu Übermenschliches in die Hand zu bekommen. Etwas, das größer ist als sie.
    Sie jagen letztendlich Chimären nach.
    Ich fand es immer ziemlich interessant, daß die sentimenatlen Charaktere dem Gold hinterherjagen und der, sagen wir mal, weniger sentimentale, einem philosophischen Abstraktum.


    Ja, es gibt eine klassische Krimilösung. Trotzdem haben wir am Ende den Falken nicht. Eigentlich hat der Roman ein offenes Ende.
    Wenn man ihn einzig als Krimi sieht, unterschätzt man Hammet, finde ich. Das ist zu vordergründig für diesen äußerst sorgfältig gearbeiteten kleinen Roman über das Streben nach Absolutem.



    Ähm ... Chandler ist nicht moralisch, er ist spießig.


    <duckundweg>



    :lache



    magali

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    K. Kraus

  • Ich finde nicht das Spade weder gut noch böse ist, obwohl diese Zuordnung in dieser Krimigattung (und ich finde die Bezeichnung nich im Geringsten herabwürdigend) sowieso sehr schwer ist.
    Ich sehe Spade eher als eine Art moralischen Söldner, jemand, der seine Loyalität verkauft, andererseits aber seinen eigenen Regeln gehorcht, oder besser noch, gehorchen muß. Er liefert Bridget der Polizei aus, weil es seinen Regeln entspricht, er hat in diesem Punkt keine andere Wahl. Ich halte ihn durchaus für integer und anständig und der Schutz seines KLienten hat für ihn oberste Priorität - bis der Auftrag abgeschlossen ist.


    Natürlich gehen die Werke Hammetts, Chandlers, Spillanes und anderer über den reinen Kriminalroman hinaus, aber für mich trifft das auf beinahe jeden guten Krimi zu: das er eben mehr bietet als nur die Suche nach dem Mörder, die Enthüllung des Geheimnisses.


    Ich finde Deine Sichtweise auf jeden Fall hochinteressant - und über Chandler reden wir noch! :wave

  • Zitat

    Original von magali


    Ähm ... Chandler ist nicht moralisch, er ist spießig.


    Damit tut man Chandler aber jetzt ein wenig Unrecht. Er war nicht spießig, er war halt ein Kind seiner Zeit. Man muss diese Krimis mit dem passenden Zeitfenster lesen: Chandlers Zeit war eben eine andere Zeit als unsere jetzige Zeit. Was wir heute vielleicht als spießig einordnen, waren früher halt ganz normale Lebenswerte.


    Spießig und auch faschistoid empfand ich immer Spillanes Mike Hammer. Passte irgendwie in die McCarthy-Zeit.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich halte Mike Hammer für einen der moralisch integersten PIs der Hardboiled-Schule.
    Leider hat eine mehr als schlechte Übersetzung und einige Kürzungen in Deutschland ein sehr verzerrtes Bild Mike Hammers geliefert. Natürlich ist er kein Waisenknabe, aber alle in den Romanen geschilderten Fälle übernimmt er ohne Auftraggeber aus einer moralischen Verpflichtung heraus.
    Natürlich bleibt trotzdem vieles fragwürdig an Spillanes Helden.