Nach dem plötzlichen Unfalltod seiner Eltern wird der kleine Paolo in beträchtlicher Eile aus Rom zu den Schwestern seiner Mutter ins Riesengebirge befördert. Ehe er sich auch nur besinnen kann, ist er in einer fremden Welt angekommen. Auch die sehr liebevolle Aufnahme hilft ihm nicht über die Fremdheit hinweg. Voll Trauer und Angst klammert sich Paolo an das, was ihm von seinem römischen Leben geblieben ist, ein paar Erinnerungen an seine Eltern und eine kleine Wölfin aus Holz. Diese Spielzeugfigur wird für ihn zur Grundlage einer ganz persönlichen Legende, nämlich der vom Weihnachtswolf. Erwähnt er ihn, erntet er aber nur Kopfschütteln oder Gelächter, auch von seinen Tanten.
Außerhalb des Hauses ist Paolos Leben ohnehin von Schwierigkeiten geprägt. Aus lauter Fürsorge haben die Tanten den Pastor dazu gebracht, Paolo im jährlichen Krippenspiel die Rolle des Joseph zu überlassen. Nicht nur will Paolo das überhaupt nicht, es ärgert vor allem den Jungen, dem die Rolle traditionell ‚gehört’. Und er ist der Anführer der Dorfjungen! Bald hagelt es Drohungen, harte Schneebälle und schließlich Prügel.
Hilfe kommt von unerwarteter Seite, das Hausmädchen Anna, mit ihren knapp dreizehn nur wenig älter als Paolo, stellt sich auf seine Seite. Die Schwierigkeiten enden damit aber keineswegs. Paolo steht noch eine böse Überraschung bevor, hinter der ausgerechnet Annas Brüder stecken. Dann verschwindet auch noch ein goldener Löffel aus dem Haus von Paolos Tanten.
Daß es doch ein Weihnachtsfest gibt, an das Paolo nicht nur mit Trauer und Zorn zurückdenkt, verdankt er eigentlich sich selbst. Denn er sieht ein, daß er sich seinem neuen Leben stellen muß. Und kaum hat er das verstanden, findet er auch die Kraft dazu. Aber wer weiß, vielleicht hat der Weihnachtswolf doch etwas dazu beigetragen.
Das ist eine sehr eigenartige und eigenwillige Weihnachtsgeschichte. Sie ist frei von allem Kitsch und allen Sentimentalitäten, die sonst zu Weihnachtsgeschichten gehören. Es ist eine Geschichte voller überraschender Härten, mit unangenehmen Schlaglichtern auf Trauer, auf Armut und den Winter in einer Gegend, in der es tatsächlich Wölfe gibt. Das Ganze spielt wahrscheinlich in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, man erinnert sich noch gut an den Kaiser und die Revolution, zahlt mit Reichsmark, und wenn der Schnee dick ist, läßt man das Auto stehen und spannt die Pferde vor den Schlitten. Es ist sparsam erzählt, es wird nicht geschwätzt, nicht erklärt und nicht psychologisiert. Es wird einfach vorgetragen, wie es war, was der ganzen Geschichten den verführerisch Ton eines echten ‚von früher’ verleiht. Erzählt wird aus der Sicht des Zehnjährigen, die Perspektive ist aber hin und wieder dadurch erweitert, daß das Ganze eigentlich von einem inzwischen erwachsenen Paolo vorgetragen wird.
Die Geschichte ist erstaunlich vielschichtig, obwohl vieles zunächst nur skizziert erscheint. Da sind die liebevollen Tanten, die ausgerechnet ihr Reichtum, den sie so gerne teilen möchten, letztlich hilflos macht, der Hauslehrer, der auf Disziplin setzt, dem ein verstörtes Kind wie Paolo aber eher Angst einjagt oder der Chauffeur, der ein Kind nicht ernst nimmt und deswegen immer zu spät kommt.
Die Kinder und ihre Beziehungen untereinander wirken höchst lebendig. Eine Menge Komik liefern die Proben zum Krippenspiel, das nicht nur von kindlichen Konkurrenzkämpfen, sondern auch vom Einfallsreichtum der Dorfjungen in puncto Streichen sabotiert wird. Dem örtlichen Pastor, der tapfer gegen stampfende Engel, ehrgeizige Mütter und vergeßliche Hirten ankämpft, gar nicht zu reden von den Übergriffen des vierjährigen Jeremias (Annas jüngstem Bruder) auf das hölzerne Schaf, gehört mein ganzes Mitgefühl.
Im Mittelpunkt steht natürlich Paolos innere Entwicklung. Der Weihnachtswolf ist ein wunderbares Bild von Verlustängsten, Sehnsucht und Trost gleichermaßen. Einen sehr spannenden Kontrast dazu bieten Annas ganz anders geartete Träume. Wo Paolo sich nach innen orientiert, strebt sie, kaum älter, mit Macht nach draußen.
Daß das christliche Thema, das Paolo eigentlich bewegt, die Geschichte von Lazarus ist und, aufgrund seiner Situation, eben nicht die eines neugeborenen Kindes als Hoffnungsträger, ist ein überzeugender Einfall. Daß der Pastor damit völlig überfordert ist, ist ebenso überzeugend dargestellt. Das ist eine der Schlüsselszenen der Erzählung und die Knappheit ihrer Darstellung macht sie zu einer Meisterinnenleistung.
Abgesehen vom völlig klischeefreien übermittelten Weihnachtsthema ist es auch eine beeindruckende Wintergeschichte. Trotz Schlittenglöckchen, verschneiten Tannen und dem Lied einer Weihnachtsflöte in der dunkelsten Winternacht kommt keine Sentimentalität auf. Der Winter ist eine harte Jahreszeit, hinter seiner Schönheit steckt eine grausame Erbarmungslosigkeit. Sie zerstört auch den Klang eines Weihnachtslieds, wenn man es nämlich brüllen muß, mitten im Wald, aus Angst vor der Dunkelheit und den Wölfen. Da leuchtet kein Stern von außen. Man kann ihn höchstens in sich tragen und dann ist der Stern der eigene Mut.
Schön und warm und golden ist Weihnachten in einem gut ausgestatteten Haushalt. Und nur dort. Das ist einer der vielen eigenwilligen Gedanken, die die Erzählung enthält.
‚Der Weihnachtswolf’ ist für einmal tatsächlich eine ‚andere’ Weihnachtsgeschichte. Wer das Gewohnte braucht, ist damit schlecht beraten. Wer eine einzigartige Geschichte sucht, ist dafür genau an der richtigen Stelle.
Das gebundene Büchlein ist schön gemacht und hübsch ausgestattet. Schade daß auf das Lesebändchen verzichtet wurde. Der Klappentext allerdings ist nicht gelungen. Er suggeriert ungeschickterweise einen etwas anderen Handlungsverlauf, überdies gab es einen Unfall. Der Name der Hauptfigur ist als Raffaele wiedergegeben, im Text des Buchs aber heißt er eindeutig Paolo. Wirklich dumm, wenn so etwas passiert. Eine so gute Geschichte müßte in jeder Hinsicht mit der größten Sorgfalt behandelt werden.