Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten - Christian Kracht

  • buzzaldrin : Auch ich habe das Buch nicht "verstanden", denn es kann meiner Meinung nach nicht verstanden werden - weil schlicht und ergreifend der Kontext (bis auf die im Buch selbst gereichten Informationen) weitgehend unbekannt ist, auf den es sich bezieht. Wir haben außer der erzählten Wahrnehmung des Protagonisten keine Informationen zur Verfügung, und da er sich nicht genötigt sieht, zum Beispiel die Steckdosen oder Sonden zu erklären (warum sollte er das auch tun - für ihn sind sie schließlich selbstverständlich!), stehen auch wir, die Leser, ohne Erklärung da. Dennoch kann "zugeordnet" und daher ein gewisses Verständnis erzeugt werden. Man muss nicht alles wissen, um das tun zu können. Der fortwährende Krieg hat die Evolution ins Stocken geraten lassen, mehr noch, er kehrt sie nachgerade um, und die verbliebene Elite versteckt sich im "Réduit", um den Krieg Krieg sein zu lassen. Das ist nach meiner Lesart die Kernerzählung (die allerdings noch einige weitere Facetten zu bieten hat), und an die kommt man auch heran, ohne zu wissen, wozu zur Hölle diese dammichten Steckdosen sind. Mehr noch: Das Buch würde sich durch solche Erklärungen nur schaden.

  • Zitat

    Original von Tom
    Das ist nach meiner Lesart die Kernerzählung (die allerdings noch einige weitere Facetten zu bieten hat), und an die kommt man auch heran, ohne zu wissen, wozu zur Hölle diese dammichten Steckdosen sind.


    Ich verstehe schon, was du meinst - mein Kommentar zu SueTwon war auch nicht negativ gemeint. Wenn ich aber für mich spreche, dann muss ich zugeben, dass ich wahrscheinlich nicht einmal vollständig an diese Kernerzählung herangekommen bin. Das lag vielleicht daran, dass ich zu wenig Vorwissen hatte, dass es mir schwer fiel mich darauf einzulassen oder das mich Dinge wie die Sonden und die Steckdosen (die ich nun einfach mal nicht zuordnen konnte), zu sehr vom Verstehen abgelenkt haben.


    Es gab aber, wie erwähnt, auch Stellen und Aspekte an dem Buch, die mir gefallen haben. Spontan fällt mir da zum Beispiel die Rauchsprache ein - das wurde aber in der Gesamtheit überlagert von Dingen, die sich mir nicht erschließen konnten (warum explodierte Favre z.B.?) :-)

  • Zitat

    Original von Tom


    Die ist nicht explodiert. Das hat wohl eher die deutsche Granate getan, die sie getroffen hat.


    Ja, das ist mir schon klar - die deutsche Granate ist explodiert und damit wohl auch Favre. Trotzdem war das für mich weder einleuchtend und logisch. Aber vielleicht sollte ich bei diesem Buch auch einfach aufhören, solche kleinen Nebensächlichkeiten verstehen zu wollen ... ;-)

  • Tom : Gut, dass ich nicht zu den Feuilletonisten zähle, die fürchten müssen, sich zu blamieren, wenn sie zugeben, dass ihnen das Buch nicht gefällt...


    Vielleicht sollte man tatsächlich nicht versuchen, dieses Buch so zu sehen (und zu verstehen) wie andere Bücher, und wahrscheinlich ist genau das mein Problem - auf die falsche Art an es herangegangen zu sein.


    Es hat eben keine klare Struktur, eine Handlung, deren Kontext mir oft sich nicht erschließt, weil er ebenso wie die Motive des Autors im Verborgenen bleibt, keinen richtigen Anfang und ein Ende, das ebenso gut Mittelteil oder Beginn einer neuen Geschichte sein kann. Wie du schon geschrieben hast, ist es das Fehlen einzuordnender Bezüge, das mir beim Lesen das Gefühl gab, es ginge Kracht nicht um eine in sich abgeschlossene Handlung, sondern darum, einzelne Szenen auszuarbeiten und sie dann dem Leser "an den Kopf" zu werfen. Dass viele Bilder, die er malt, tatsächlich so dicht und atmosphärisch sind, dass beim Lesen eine Stimmung spürbar ist, die er eventuell beim Schreiben rüberbringen wollte, sind sicherlich die positiven Punkte, die mir in Erinnerung bleiben - Das gesamte Buch an sich mag ein Experiment sein, aber trotzdem eines, das mir einfach nicht gefallen will...
    Danke für deine Rezi und eine andere Sichtweise. :wave

  • Zitat

    Original von buzzaldrin


    Es wird Zeit, dass du das Buch auch liest, damit wir noch eine andere Meinung mehr bekommen. :-)


    Nöö, das erspare ich Euch :grin. bzw. mir....

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Es ist beeindruckend was Christian Kracht hier zu Papier gebracht hat. Sein Handlungsszenario ist fiktiv, wirkt dabei sogar ein wenig surrealistisch – aber gerade dadurch schafft er die Darstellung einer „visionären Realität“. Kracht wechselt in teilweise atemberaubenden Tempo von der Nachdenklichkeit zur Brutalität, vom Pessimismus zum Optimismus. Fast perfekt gelingt ihm die Darstellung der Götterdämmerung der Zivilisation. Alles versinkt in Gleichgültigkeit und in einem fatalistischen Lebensgefühl. Religion und Nichtreligion, verquere Ideologien und resignatives Denken machen die Menschen zu einer willfährigen und leicht manipulierbaren Masse. Vorurteile sind an die Stelle von vermeintlicher Wahrheit und Respekt gegenüber dem Nächsten getreten.


    Interessant ist, dass Kracht, auch wenn er Schweizer ist, die Schweiz zum „Mittelpunkt der Welt“ zum ideologischen Mittelpunkt macht. Der Ausgangspunkt dieses Romans ist die Tatsache, dass Lenin 1917 nicht mit dem Salonwagen nach Russland geschafft wurde um dort die Revolution voranzutreiben; Lenin bliebt vielmehr in der Schweiz und errichtete dort die Schweizer Sowjetrepublik. Kein billiger Gag von Kracht – vielmehr zeigt er damit, dass ideologischer Unsinn überall entstehen und sich installieren kann.


    Kracht ist ein echtes stilistisches Chamäleon, er lässt sich auf keine Stilrichtung festlegen, stilistisch passt er sich jeweils dem Geschehen an und wechselt seinen Schreibstil wie andere Leute die Hemden. Ein fast schon genialer Schachzug.


    Ein Buch das sehr viele Fragen aufwirft, aber kaum Antworten bereit hält. Die Antworten muss sich der Leser selbst geben. Kracht diagnostiziert, zeigt auf, dass unsere Zivilisation nichts weiter ist als ein Fake, eine lediglich auf dem Papier bestehende künstliche Wunschvorstellung, jederzeit dem Missbrauch durch jedefrau/jedermann ausgeliefert. Eine Therapieidee, eine Möglichkeit das zu verhindern, sucht man bei Kracht allerdings vergeblich.


    Manchmal scheint Kracht sogar ganz bewusst kleine unlogische Sequenzen eingebaut zu haben. Nach 100 Jahren Krieg gibt es immer noch Telegrafenmasten. Dabei lernt man schon in der ersten Stunde jeder Offiziersausbildung, dass es wichtig ist, die Kommunikationsverbindungen der Gegenseite auszuschalten, also auch die Telegrafenmasten. Möglich, das Kracht gerade durch solche – mehr eingeschobenen Beispiele – die Irrationalität seiner Handlung unterstreicht und deutlich macht.


    Ein sehr interessantes, sehr bemerkenswertes Buch – das Raum für fast jedwede Interpretation lässt.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich habe das Buch nun auch durch und fand es...interessant.


    Ich denke, es ist eines der Bücher, das jeder anders interpretieren kann, das viele verschiedene Lesweisen und Perspektiven ermöglicht.


    Ich fand es - im Gegensatz zu einigen, sehr poetisch. Mir hat es Krachts klare und dennoch geheimnisvolle Prosa angetan.
    Verliebt bin ich in das Wort "Mwana", Kind.


    Für mich war es eine Parabel über die Unsinnigkeit des Krieges, vielleicht war der "Plot" auch deshalb so naja, unsinnig, oder eben gerade sinnig.
    Mich hat der Protagonist seltsam berührt. Eine Kriegsmaschine, die wieder den umgekehrten Weg geht: je näher er sich seiner Heimat (Afrika) nähert, desto blauer werden seine Augen. Für mich ein Zeichen dafür, dass er seine Unschuld wieder erlangt.
    Interessant fand ich auch, dass das Lesen und Schreiben fast verschwunden ist, in einer Welt, die nur noch kämpft und überlebt.


    Ich fand es gut, dass Kracht nichts erklärt hat: warum haben manche Steckdosen unter den Armen? Es bleibt Jedem selbst überlassen, sich unter dieser poetischen Idee etwas vorzustellen.


    Irgendwie war ich an die Schriften der Surrealisten, wie Eluard und Aragon, erinnert. Auch diese bestechen durch einfache, aber mehrdeutige, anscheinend unsinnige Sprache. Und da Eluard einer meiner Lieblingspoeten ist, ist klar, dass mir das Buch auch ganz gut gefallen hat.


    Ich würde behaupten, dass das Buch bei jeder Lektüre eine andere Bedeutung für Einen haben kann - und dass es eben auch durchaus sein kann, dass ich in drei Jahren das Buch schliessen würde, und "Schwachsinn" murmeln würde. Momentan hat es aber irgendwie gepasst.


    Bravo, an die FAZ, die den schwachsinnigsten "blurb" überhaupt für das Buch liefert: "Endlich, der große Schweiz-Roman." Da frage ich mich, ob die das Buch überhaupt gelesen haben... :gruebel

  • Ich habe mich mal wieder von einem Cover zum Lesen verführen lassen und ich bin immer noch sehr zwiegespalten, wie mir das Buch gefallen hat.


    Auf der einen Seite hat das Buch einen sehr interessantes Kernthema gehabt, daher finde ich es schade, dass der Autor dieses Potential überhaupt nicht genutzt hat. Sprachlich gesehen war das Buch ordentlich. Da ich mich das Buch nicht so richtig vom Hocker gehauen hat und mich wirklich über den Schlußsatz gefreut habe, bekommt das Buch auch nur 4/10 Punkten.


    Es war das erste Buch, das ich von Christian Kracht gelesen habe. Es wird auch erst mal bei diesem einem Buch bleiben.

    Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht. (Abraham Lincoln, 12.02.1809 - 15.04.1865)

  • Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
    Christian Kracht, 2008

    Kiepenheuer & Witsch; ISBN: 978-3462040418


    Christian Krachts hochumjubeltes “Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten” hat neben einem wunderschönen Titel mit hübschen Cover einen Inhalt zu bieten, der die Leser spalten kann.


    In einem wunderschön verwirrend angelegten Szenario, in dem der Leser in den ersten Kapiteln völlig unwissend umherirrt, nur akzeptieren und nicht verstehen kann, sehen wir die die Welt hätte sich entwickeln können. Wenn der Weltkrieg nicht zu Ende gegangen, die Schweiz als Kolonialmacht eine Sowjetrepublik geworden wäre. Nun ja, wenn.


    Abgesehen davon, dass man sich sowohl zeitlich als auch räumlich nicht immer im Klaren ist, wo man sich befindet - ich hatte bisher in keinem Buch nutzloseres Kartenmaterial - bleibt auch die Handlung im Unklaren. Die Frage, die sich beständig aufdrängt ist ein Warum?
    Es ist ein Buch, das keine Antworten gibt, es wirft Fragen auf. Solche, die die Handlung betreffen: Warum tut der Kommissär, den wir begleiten, genau das, was er tut und was tut er überhaupt? Warum hat sich die Welt so entwickelt? Und solche essenzieller Natur, die dem Buch seine Kraft geben: Warum gibt es Krieg? Warum sind wir Menschen so? Was ist an einer Ideologie besser als an einer anderen, die genauso menschenverachtend sein kann? Gibt es einen Ausweg?


    In einem Buch, das eine Zeit behandelt, in der der Frieden nur noch als Ammenmärchen existiert, ein Menschenleben von einen Moment auf den anderen jäh endet und dies kaum Reaktion bei anderen auslöst, sachlich distanziert wahrgenommen wird, kann es keine Antworten geben. Nur verstörende Bilder, Metaphern auf die Unmenschlichkeit, wirre Beliebigkeit. Steckdosen, Sonden, Sowjetrepublik Schweiz – wieso, weshalb, warum? Oder aber, warum nicht? Wird unsere Welt nicht immer komplexer, überwachender, gibt es nicht immer mehr, das man nicht versteht. Warum sollte es uns in einer Schreckensparallelwelt anders gehen? Noch dazu, wenn Kracht als Autor ein Versteckspiel mit uns treiben mag, teilweise nichts erklärt und sich plötzlich in geschichtlichen Erklärungsergüssen ergeht. Wenn er einzelne Szenen ausarbeitet, anderes völlig unter den Tisch fallen lässt.
    Er bleibt mit der Aussage seines Buches vage, es mag zu unterschiedlichen Lesarten führen - für mich ist es ein Plädoyer gegen Unmenschlichkeit und Krieg.


    Viel hängen bleiben wird vom Buch selbst leider nicht, zu wirr die Handlung, zu wenig lebhaft die Figuren, zu uneindrucksvoll die einzelnen Fragmente. Doch losgelöste Eindrücke, Gedankengänge über die (Un)Menschlichkeit werden bleiben. Und die Erinnerung an eine schöne Sprache, die im krassen Widerspruch zum Erzählten steht, die immer wieder fesseln und zum Nachdenken anregen kann. Eine klare, bestechende Sprache, die schon im Titel deutlich wird, die sich aber leider in der unwegsamen Handlung verhakt und nicht so wirkt, wie sie könnte. Schade. Ich denke, etwas weniger Fragmenthaftigkeit hätte dem Buch gut getan.


    6/10 Punkten


    :wave bartimaeus

  • Alternativweltgeschichte war für mich nie ein Genre, für das ich mich in irgendeiner Weise begeistern konnte. "Ich werde hier sein..." hat dennoch genau meinen Geschmack getroffen - ein selten faszinierendes Buch, das mich gleichsam verwirrt, berührt und amüsiert.


    Die eingangs geäußerte Kritik an den vielen nur unzureichend erläuterten Ideen und Motiven (Zwerge, Steckdosen unter den Achselhöhlen, Sonden, etc.) kann ich jedoch nur teilweise nachvollziehen. Aber vielleicht bin ich einfach mit einer völlig anderen Erwartungshaltung an die Geschichte herangegangen als manche meiner Vorredner. Denn damit, dass Kracht hier ein eigenes Universum erschaffen hat, in dem alle Ungereimtheiten geklärt werden und jede Handlung oder Äußerung der Charaktere nachvollziehbar bleibt, habe ich auch im Vorfeld nicht gerechnet. Und warum sollte man das einem Autor, der bewusst einen vollends unrealistischen Roman geschrieben hat, zur Last legen wollen? Anders gefragt: Soll ich mir etwa bei einem Film wie "Die fabelhafte der Welt der Amélie" denken: "So ein Quatsch, jetzt fangen plötzlich die Bilder an zu sprechen!" anstatt mich einfach auf das einzulassen, was mir präsentiert wird?


    Dieses Buch lebt aus meiner Sicht vor allem von seiner Sprache. Das auf dem Buchcover zitierte "schönste Deutsch, das derzeit zu lesen ist", halte ich da gar nicht mal für zu hoch gegriffen - auch wenn mir zugegebenermaßen die Vergleichsmöglichkeiten fehlen, da ich nicht viele zeitgenössische deutschsprachige Autoren lese. Aber ja, diese glasklaren Sätze und Umgebungsbeschreibungen des Ich-Erzählers haben einfach was und funktionieren interessanterweise auch in Kombination mit den Kracht-typischen, völlig absurden Dialogen (z.B. mit der Divisionärin oder mit dem Zwerg).


    Allen, die sich dieser Art von Literatur hingeben und auf eine vollends logische Handlungsbene mal verzichten können, möchte ich diesen (kurzen) Roman dringend ans Herz legen.


    Überdies kann ich nur empfehlen, sich einmal die Interviews mit Christian Kracht zu Gemüte zu führen. Wer sein Werk danach noch übermäßig ernst nimmt, hat wohl irgendetwas missverstanden...

  • Für dieses Buch habe ich mehrere Anläufe gebraucht. Eine Logik konnte ich darin zuerst überhaupt nicht erkennen. Ich habe versucht, es zu verstehen und bin daran vollkommen gescheitert. Dann habe ich Logik und Vernunft ausgeschaltet und mich in etwas, was mit einem Videospiel- Sequel vergleichbar ist, wiedergefunden. Falls ich das so beschreiben kann, denn ehrlich gesagt kann ich dieses Buch nicht bescheiben. Es ist auf jeden Fall was Besonderes, mich hat es aber nur verwirrt und kirre zurückgelassen. Ich kann auch nicht sagen, ob es mir gefällt. Eher nicht. Hhm. In ein paar Jahren werde ich es einfach nochmal rauskramen und mein Glück erneut versuchen.


    *Zuckt mit den Schultern und widmet sich wieder der Belletristik.* :grin

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)