Heinz Strunk: Die Zunge Europas

  • Auf dem sehr sachbuchartigen Cover schaut der Autor etwas missmutig drein, und die fast aufgerauchte Fluppe zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand ist am unteren Bildrand gerade noch so zu erkennen. Irgendwie sieht es wie eine Biographie aus, es fühlt sich auch wie eine an, sogar der Titel klingt danach - und tatsächlich: Wenn Strunk seinen Mittdreißiger-Protagonisten Markus Erdmann kommentieren lässt, kommen Zweifel auf, ob das geschilderte ein Alter Ego ist - oder noch etwas mehr. Nicht selten mutmaßt der Leser: Hier spricht der gut zehn Jahre ältere Strunk selbst, etwa, wenn er ergrauende Haare und kreisförmige Glatzenansätze betrachtet. Vierunddreißig?, fragt man sich hin und wieder, wenn Markus Strunk, pardon, Heinz Erdmann sich äußert. Nee, nee. Sechsundvierzig. So wird ein Schuh draus. Strunk ist 1962 geboren.


    In nicht wenigen Interviews hat der späte Literatur-Newcomer erklärt, mit diesem Zweitling lange gehadert zu haben. Respekt dafür. Wer eine so fulminante Randexistenzenballade wie "Fleisch ist mein Gemüse" als Steilvorlage an sich selbst abgeliefert hat, kann danach eigentlich nur abstinken - oder etwas völlig Anderes machen. Strunk hat sich für das Zwischendrin entschieden, und damit einen - leider faulen - Kompromiss gewählt.


    Wir erleben sieben Tage aus dem Dasein des an sich selbst und eigentlich allem zweifelnden Gagschreibers, aber "erleben" ist schon zu viel gesagt. Äußere Wahrnehmung spielt eine nur untergeordnete Rolle in dieser Geschichte, die keine ist und auch keine erzählt. "Die Zunge Europas" ist genaugenommen ein sehr langer innerer Monolog, eine Kommentarsammlung, die Nichtigkeiten einordnet oder größere Widernisse, etwa einerseits Im-vollen-Café-Dazusetzen-Phänomenologie und andererseits die abkühlende Beziehung zur Langzeitfreundin Sonja. Das eröffnet zuweilen interessante Einblicke, hat aber meistenteils die Qualität eines mittelmäßigen Internet-Tagebuchs. Deshalb entwickeln die häufig nur angedeuteten, gleichsam abgefertigten Figuren kaum Eigenleben, Originalität blitzt nur selten auf, und letztlich ist das alles Wischiwaschi, nicht Fisch, nicht Fleisch und nicht einmal Gemüse. Über fast 300 Seiten quält sich der Leser durch eine höhepunktearme, sehr persönliche und leider fast völlig uninteressante Bestandsaufnahme, die an keiner Stelle auch nur annähernd die Qualitäten des Vorgängers besitzt. Ja, hier und da lösen Sätze, die mal eben, in weiser Beiläufigkeit, ganze Weltsichten zusammenfassen, heftiges Nicken aus, aber für eine Aphorismensammlung ist das Ding zu teuer, hätte auch nicht die nötige Dichte. Das ist übrigens ein Kernproblem des "Romans".


    Dieses Buch kategorisiert den Literaten Strunk als One-Hit-Wonder, als Stuckard-Barre-Epigone, der ja auch nur einen akzeptablen Roman und danach ausschließlich Karaoke abgeliefert hat. Okay, für diesen Vergleich ist Strunk zweifelsohne zu intelligent, aber wahre Intelligenz hätte er bewiesen, wenn er auf dieses enttäuschende Nachfolgebuch verzichtet hätte.

  • Zitat

    Original von Tom
    .......aber wahre Intelligenz hätte er bewiesen, wenn er auf dieses enttäuschende Nachfolgebuch verzichtet hätte.


    Dann steht der Nachfolger vom Fleisch/Gemüse erstmal nicht auf der Kaufliste. Irgendwie aber auch zu erwarten, dass nach einem derartig fulminanten Start nur sehr schwer was Gleichwertiges nachkommt. Da wollte vielleicht auch jemand zu schnell die zweite Patrone abfeuern.


    Danke für diese sehr aufschlußreiche Rezi. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Voltaire : Strunk wollte erkennbar nicht noch einmal dasselbe machen, zumal er ja mit seinem Erstling bereits einen Teil der eigenen Biographie erschöpfend ausgereizt hat. So ein bravouröser Erfolg ist auch eine große Last. In diesem zweiten Buch setzt er seine Sicht in den Vordergrund und erzählt (fast) keine Geschichte mehr. Das offenbart zwar einen klugen Menschen, denn diese Weltsicht hat viel Witz und Charisma, und Strunk ist eine interessante Figur, aber als Roman ist das zu uninteressant und als Biographie(-Fortsetzung, den FimG war ja auch schon eine) ist es zu lapidar. Fühlt sich wie ein Teebeutel an, der ein zweites Mal aufgegossen wurde. Irgendwie lustlos. Und das war auch die Botschaft, die ich den Interviews entnommen habe. Eigentlich war der Autor damit überfordert, einen Nachfolger abliefern zu müssen. Dass er es doch getan hat, wird seinem Geldbeutel gut tun, aber es spricht nicht für ihn.

  • @ Tom


    Da will und muss ich aber mal entschlossen widersprechen.


    Ich finde Die Zunge Europas ein herrlich unterhaltsames Buch. Selten so viel und laut gelacht, wie bei diesem Buch. Der Schreibstil von Heinz Strunk ist einfach einmalig.
    Ich finde diese besondere Beobachtungsgabe großartig, die dir leider als langweilig und zu sehr in die Länge gestreckt erscheint. Mir ist es ein Rätsel, warum du ein Problem mit Erzählweise hast. Erst durch den überwiegend innere Monolog kann man so wunderbar an den absurden und unterhaltsamen Gedanken des Markus Erdmann teilhaben. Auch die Geschichte finde ich gut erkennbar. Eine Woche im Leben eines Mannes, der zunächst mit der Gesamtsituation unzufrieden ist, dann aber bereit ist, etwas zu ändern.
    Da die Geschichte in Hamburg spielt und ich aus Hamburg komme (aufgewachsen, hier lebend und nicht im Entferntesten dran interessiert, weg zu ziehen), ist es zusätzlich ein leichtes und ein persönlicher Pluspunkt, mit den Erlebnissen von Markus Erdmann zu sympatisieren. Will meinen, die Ereignisse auf dem Hamburger Berg, dem Pudel und dem Kiez allgemein, bringen mich schon automatisch zum lachen, da es hier einfach wirklich so ist und es nicht jeder schafft, dieses auch so rüber zu bringen. (Habe da schon ganz andere, schreckliche Bücher gelesen, die zB hauptsächlich im Schanzenviertel spielen, das wirkliche Lebensgefühl des Viertels aber nicht mal Ansatzweise rüberbringen können.)
    Auch die Interviews mit Heinz Strunk zu diesem Buch fand ich sehr unterhaltsam und über seinen Kommentar auf seiner Homepage, bezüglich es Buches, konnte ich nur herzlich lachen. Einfach mal nicht zu ernst nehmen, das Ganze. Hamburger haben einfach einen anderen Humor als Berliner. Berliner einen anderen als Kölner und alle einen anderen als die Bayern. :wave

  • Hallo, amanda.


    Zitat

    Ich finde diese besondere Beobachtungsgabe großartig, die dir leider als langweilig und zu sehr in die Länge gestreckt erscheint.


    Ich habe zweierlei vermisst: Erstens die Geschichte um die Beobachtungen herum und zweitens eine ... wie soll ich sagen? ... Richtung bei diesen (vielen) Kommentaren. Es ist leicht (und verführerisch), mit einem tendentiell (ab)wertenden Blick durch die Welt zu marschieren und akribisch festzuhalten, was einem auffällt, und es mag interessante Zeitgenossen geben, deren dieserartige Weltsicht eine spannende, unterhaltsame Lektüre ergibt. Für mich war das bei "Die Zunge Europas" nicht der Fall, was m.E. weniger mit Berliner/Hamburger/Kölner Humor zu tun hat als mit der Tatsache, dass hier etwas als Roman etikettiert wurde, das bestenfalls eine mehr oder weniger originelle Kolumnensammlung ist, die kaum veröffentlicht worden wäre, hätte sie nicht uns Heinzer geschrieben. Aber - was soll's. Ich werde dem kommenden Strunk sicher wieder eine Chance geben.

  • Ich habe es eben fertig GEHÖRT ud kann nur sagen: TOLLES BUCH! Habe zwischenzeitlich Tränen gelacht - Sonja, RTL, Oma und Opa, Bauch und die üblichen Strunk Sprüche.
    Gerade dass es keine richtige Handlung gibt macht den Charme aus. Wie Strunk von einem zum anderen kommt ist einfach herrlich!



    Fleisch und mein Gemüse ist natürlich auf Platz 1, aber die Zunge folgt doch sehr dicht.


    Fleckenteufel war unterhaltsam, aber nix beonderes.


    7/10

  • Habe das Buch gerade nochmal als Hörbuch gehört und was soll ich sagen... Ich fand es noch weitaus lustiger, als ich das Buch in jüngster Erinnerung hatte. Was daran liegt, das Stunk es selber vorliest (was ja auch nur zu nahe liegt).
    Einfach köstlich, wie er seine Stimme verstellt, zumal sein symaptisches Lispeln alleine schon göttlich ist. Grandios, wenn er am Ende der Geschichte die Schlager-Hits, die die Figuren auf dem Hamburger Berg hören und singen dann selbst auch zum besten gibt, in allerfeinstem Singsang-Stimmchen. Wirklich: Göttlich!!! :lache :anbet


    Die Geschichte selber finde ich natürlich immer noch sensationell unterhaltsam.


    Und @ Tom: Ich bleibe fest dabei, das es sehr wohl einen Unterschied macht, wo eine Geschichte spielt und welchen Bezug der Leser dann dazu hat.