Unterwegs verloren – Ruth Klüger

  • Hardcover, Verlag Zsolnay, 2008, 240 Seiten


    Kurzbeschreibung: :
    Ruth Klügers autobiografisches Überlebensbuch "weiter leben", war ein beklemmendes Augenzeugnis der Konzentrationslager von Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt. Doch was kam nach dem Krieg? Aus dem dreizehnjährigen Mädchen, dem die Gaskammer nur durch einen glücklichen Zufall erspart geblieben war, wurde eine angesehene Literaturwissenschaftlerin, eine selbstbewusste Feministin und eine international ausgezeichnete Schriftstellerin. Der American Way of Life in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die komplexe Beziehung zu ihren zwei Söhnen, die unglückliche Ehe und die als Befreiung empfundene Scheidung sind Themen dieser Autobiografie. Hier erzählt eine Frau, die sich ihre Muttersprache ebenso zurückerobert wie ihre Geburtsstadt Wien, die sich mit den Verlusten, die das Altern bringt, auseinandersetzt und sich den Schatten und Visionen der Vergangenheit, aber auch denen der Gegenwart stellt.


    Über die Autorin: :
    Ruth Klüger, 1931 in Wien geboren, wurde als Kind in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt verschleppt. Nach Ausbruch und Flucht mit ihrer Mutter und Pflegeschwester emigrierte sie in die USA, studierte Germanistik und Anglistik und lebt als Literaturwissenschaftlerin in Irvine/Kalifornien. Mit ihrer ersten literarischen Veröffentlichung, "weiter leben" fand Ruth Klüger überwältigendes Echo bei Kritik und Publikum.


    Rezension::
    Die Erinnerungen aus „weiter leben“ werden hier nahtlos weitergeführt.
    Und obwohl Ruth Klüger die Zeit nach ihrem Entkommen aus dem Konzentrationslager in den USA verbringt, zunächst als Studentin, dann sogar als Professorin in Princeton, lässt sie das KZ gedanklich nicht los. Es durchzieht als Thema auch dieses Buch, so beginnt das Buch auch konsequent mit der philosophischen Fragestellung über die Wirkung ihrer eintätowierten Nummer auf dem Arm auf andere Leute und wie sie sich nach langer Zeit entschlossen hatte, sie entfernen zu lassen.


    Die muffigen fünfziger, wie Ruth Klüger sie nennt, mit ihren Vorurteilen gegenüber Frauen in akademischen Kreisen oder in der Familie erkennt Ruth Klüger rasiermesserscharf, milder fällt ihr Urteil gegenüber den sechziger Jahren mit Beginn der 68ziger Bewegung aus.
    Die essayistisch wirkenden Einschübe lassen sich sehr gut lesen und zeigen ein deutliches Bild der USA dieser Zeit.


    Gelegentlich sind auch Gedichte Klügers in dem Buch verteilt, aber nur relativ wenige und nur um zu zeigen, wie sie sich in der oder jenen Zeit gefühlt hat oder wenn sie gerade so gut passen.


    Ansonsten wirkt vieles in diesem Buch wie eine Abrechnung: Die Paranoia der Mutter, die erst im hohen Alter starb, aber die KZ-Erlebnisse auch nie vergessen hat, der Ex-Mann, mit dem Ruth Klüger eine misslungene Ehe führte, der Cousin, der mit seinem Geiz und unangenehmen Wesen lange der fast letzte Verwandte blieb. Der Universitätsbetrieb, in dem viele Vorurteile mitschwangen Ruth Klüger ist hier gnadenlos. Eine vielfache Gekränktheit ist deutlich zu spüren.


    Ruth Klüger setzt sich vielleicht gelegentlich ins Unrecht, da sie ziemlich einseitig urteilt. Dafür dass sie konsequent bleibt, ergibt sich aber Klarheit und der Leser kann zumindest verstehen.


    Das Buch teilt sich auf in mehrere Teile. Nach den oben schon angerissenen Themenblöcke „Abschiede“ und „Neue Welt“ folgt mit „Alte Welt Ruth“ Klügers Rückkehr nach Europa. Sie wird Gastprofessorin in Göttingen, ihre zweite Heimat, in der sie abwechselnd mit Aufenthalten in den USA lebt. In Deutschland wird ihr Erinnerungsbuch ein großer Erfolg, vor allem nachdem es im literarischen Quartett so außerordentlich gut besprochen wurde, erhielt es sogar Bestsellerstatus. Klüger schreibt über ihre Freundschaft mit Martin Walser und den späteren Bruch nach Erscheinen von Walsers „Tod eines Kritikers“ (der bekannte, offene Brief Klügers an Walser ist hier abgedruckt), sie erwähnt die schlechte Behandlung die sie durch den Suhrkampverlag erlebte, nennt sogar Siegfried Unseld persönlich als unhöflich.
    Ein anderes Mal zeigt Klüger offen ihre Bewunderung für Ilse Aichinger, deren Roman „Die größere Hoffnung“ ihr Lieblingsbuch ist.


    Das Erleben des Literaturbetriebs durch einen Autor ist sehr spannend geschildert, da das auch selten so (also nicht als Parodie) zu lesen ist.


    Das Buch schließt mit einem Epilog, in dem Klüger von ihren Kreuzfahrten berichtet, die sie in den letzten Jahre unternommen hatte.
    Unterwegs verloren überzeugt genau wie sein Vorgänger „weiter leben“ durch eine spürbare Energie, die sich in ein intensives Lesegefühl wandelt.

  • DANKE für die tolle Rezi :wave


    Ich habe in der Presse schon von dem Buch gelesen und war gespannt, ob es jemand bei den Eulen zuerst in die Hand nimmt.


    Weiter leben habe ich von der Brigitte-Edition


    Edit: Fehlerteufelchen war unterwegs

  • Ich habe das Buch auch gerade gelesen und mir hat es ebenso gut gefallen wie "weiter lesen". Ich mag Klügers einfache, aber poetische Sprache. ich finde, sie ist eine unheimlich kluge, reflektierte Frau, die bei allen Konflikten (mit ihrer Mutter, mit ihrem Mann), die sie beschreibt, auch immer versucht die Seite des anderen zu sehen.
    Auf ihre schlichte Art und Weise gelingt es Ruth Klüger immer wieder, wahre und kluge Dinge über das Thema Shoah zu sagen, die mich überraschen, auch wenn zu diesem Thema doch schon so viel gesagt worden ist.
    In diesem Buch stehen jedoch andere Themen im Vordergrund, auch wenn Ruth Klügers Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend ihr ganzes Leben beeinflussen.
    Sehr interessant fand ich es über ihre Annäherung an Deutschland zu lesen. Aber auch ihre wissenschaftliche Karriere als eine der ersten Frauen. Ich glaube, ihre Bitterkeit ist nur allzu verständlich.
    Sehr lesenswert!

  • Danke für die Rezension, Herr Palomar! Ich habe im SPIEGEL und in der Literaturzeitung der Zeit schon sehr interessante Artikel über das Buch gelesen und nach deiner Rezension werde ich es nun auf alle Fälle auch selbst lesen.


    Schon "weiter leben" hat mir sehr gut gefallen; an Ruth Klüger bewundere ich, dass sie nicht altersmilde geworden ist, sondern immer noch eine "Wut" in sich hat. Ich freue mich schon auf die Lektüre von "Unterwegs verloren". :-)

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    in der Literaturzeitung der Zeit schon sehr interessante Artikel über das Buch gelesen und nach deiner Rezension werde ich es nun auf alle Fälle auch selbst lesen.


    Schon "weiter leben" hat mir sehr gut gefallen; an Ruth Klüger bewundere ich, dass sie nicht altersmilde geworden ist, sondern immer noch eine "Wut" in sich hat. Ich freue mich schon auf die Lektüre von "Unterwegs verloren". :-)


    :write
    ich habe den Artikel heute wieder gefunden, ich habe ihn auch in der Literaturzeitung der Zeit gelesen

  • Ich habe im Moment das WB von Herrn Palomar beendet.


    Es muß sich alles erst einmal setzen.
    Ruth Klüger erleben wir hier wieder als sehr starke und kluge Frau und sie berichtet u.a. aus ihrem Leben vor dem großen Umbruch für uns Frauen. Das war eine Seite des Buches, der mich fasziniert hat und das wäre für mich auch ein Grund das Buch jungen Frauen zum Lesen zu empfehlen. Sie können hier lesen, wie schwer es Frauen früher hatten und welche Vorteile sie heute genießen. Sie schildert in einem flüssigen Stil ihren beruflichen Werdegang und die ständigen Veränderungen in ihrem Leben.


    Zum anderen rechnet sie mit Weggefährten ab und nimmt hier kein Blatt vor den Mund. Sie hat durch ihr Alter bedingt keinerlei Diplomatie mehr nötig. Ebenfalls schonungslos berichtet sie über ihr Verhältnis zu ihrer Mutter, ihrem geschiedenen Mann, ihren Söhnen samt Schwiegertöchtern und Enkeln sowie ihren Haustieren.


    Und natürlich bringt sie immer wieder ihren KZ-Aufenthalt und die Beeinträchtigung z. B. der tätowierten Nummer ins Spiel, was natürlich verständlich und nachvollziehbar ist.


    Sehr empfehlenswert!

  • Weiter leben kenne ich (noch) nicht, das wird sich aber sicher noch ändern. Ruth Klügers Schreibstil hat mir ziemlich gut gefallen. Sie ist eine Frau, die nicht gerade schonend mit den Menschen, denen sie im Laufe ihrers Lebens begegnet umgeht, aber das tut sie mit sich selbst auch nicht. Mit einigen - u. a. Siegfried Unseld und dem unsäglichen Banker der Göttinger Bank rechnet sie gnadenlos ab. Aber das haben die auch nicht anders verdient.


    Sehr eindrucksvoll fand ich die Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft in den 50er Jahren. Die Behandlung macht einen manchmal fassungslos.


    Vielleicht hat nicht jede Gedankenlosigkeit, die ihre Mitmenschen sich ihr gegenüber geleistet haben, ihre Ursache in einer antisemitischen und/oder antifeministischen Einstellung. Ich habe manchmal den Eindruck, dass sie mit einem leichten pawlowschen Reflex auf Unhöflichkeiten und Unachtsamkeiten reagiert. Vielleicht ist sie aber auch aufgrund ihrer Erfahrungen einfach viel sensibler, als andere Menschen, die nicht jeden Faux pas als solchen registrieren. Ich mag da kein Urteil fällen.


    Beim Epilog angekommen, ist man fast traurig, dass das Buch schon zu Ende ist. Absolut lesenswert!

  • Auch ich danke Herrn Palomar für das Wandern lassen dieses Buches, das ich gerade beendet habe.


    Wie der "Vorgängerband" hat mich vorallem die Sprache, der nüchterne und doch offene Stil, die leichte LEsbarkeit der Formulierungen begeisstert. Diese Frau schreibt in Deutsch, einer Sprache, die sie aus gutem Grund fast verdrängt hat und die im Alltag amerikanisches Englisch spricht Bücher, bei denen sich mancher deutsche Autor eine sehr dicke Scheibe abschneiden könnte.


    Dabei schont sich die Autorin durchaus auch selbst nicht, fragt nach Ursachen und Gründen für Entscheidungen, die sie im Nachhinein vielleicht anders getroffen hätte


    Herrn Palomars Ansicht, Ruth Klüger urteile einseitig kann ich so nicht teilen, sie berichtet subjektiv ihr Leben, da ist der Standpunkt nie der des objektiven Dritten, sondern der dessen, der dieses Leben erlebt und erlitten hat und dessen traumatische Erlebnisse dieses Leben geprägt haben und das in einer Zeit, in der vieles, nicht nur die Rolle der Frauen eben völlig anders gesehen wurde als wir heute das für selbstverständlich halten. Sehr instruktiv dazu fand ich ihre Ausführungen über das Rauchen und ihre Abstinenzbemühungen, auch die Bemerkungen zu den Ratschlägen der Ärzte für die Zeit der Schwangerschaft.


    Ein unbedingt lesenswertes Buch.

  • Das Buch hat mir sehr gut gefallen , den Vorgängerband "weiter Leben" kenne ich nicht. Die Sprache ist wie im richtigen Leben und sie nimmt ein Blatt vor dem Mund. An einigen Stellen habe ich es allerdings so empfunden wie Idgie


    Zitat

    Original von Idgie
    Vielleicht hat nicht jede Gedankenlosigkeit, die ihre Mitmenschen sich ihr gegenüber geleistet haben, ihre Ursache in einer antisemitischen und/oder antifeministischen Einstellung. Ich habe manchmal den Eindruck, dass sie mit einem leichten pawlowschen Reflex auf Unhöflichkeiten und Unachtsamkeiten reagiert. Vielleicht ist sie aber auch aufgrund ihrer Erfahrungen einfach viel sensibler, als andere Menschen, die nicht jeden Faux pas als solchen registrieren. Ich mag da kein Urteil fällen.


    Besonders an dem Beispiel mit dem abgeräumten Bankkonto erging es mir so. Ansonsten ist es ein Buch was ich sehr gerne gelesen habe und ich werde mir auch den Vorgängerband mal besorgen.