'Weit übers Meer' - Seiten 001 - 100

  • Zitat

    von JaneDoe
    Anfang des 20. Jahrhunderts war wahrscheinlich auch immer noch automatisch die Frau schuld, wenn ein Ehepaar kinderlos blieb.


    Mag sein, aber die Ehe emotional und sexuell auf Eis zu legen, war damals sicher auch keine Seltenheit. Und vermied den Skandal einer Scheidung!
    Für Männer der gehobenen Schicht gehörte es zur Normalität die eigenen Bedürfnisse im Bordell auszuleben, so ließ sich die unzufriedene Angetraute sicher leichter ertragen!

  • Nach dem Ende dieses Abschnittes gefällt mir das Buch immer mehr, wenngleich es noch etwas schwierig ist, meine Gedanken sofort in Worte zu fassen.


    Seite 58ff, die Gedanken des Zimmermädchens. Wenn das wirklich so war, daß Dienstboten damals nicht heiraten konnten/durften (das findet man ja auch immer wieder in anderen Sachbüchern bzw. z. B. den Erläuterungstafeln in Freilichtmuseen), dann frage ich mich, woher kamen dann die vielen Menschen, die z. B. Dienstboten wurden? Oder bekamen die trotzdem mehr oder weniger alle Kinder?


    Seite 67. Die Zukunft war wie das nächtliche schwarze Meer unter sternlosem Himmel.
    Wieder so ein Satz über die Zukunft; langsam wird mir das unheimlich (s. a. Zitate in meinem früheren Post in diesem Abschnitt). Wie kommt man auf solche Gedanken? Kann man sich so etwas „einfach aus den Fingern saugen“, braucht man dafür einen besonderen Erlebnis- bzw. Erfahrungshorizont?


    Seite 77ff, die Begegnung Henris mit den Russen, und hier wiederum das Motiv der Zukunft. Das Leben Nicolais vor und nach der Hochzeit. Kann es sein, daß das hier ein Buch über den Sinn des Lebens ist, daß dies eines der (vielleicht unterschwelligen) Grundmotive ist?


    Die Marconi-Station (Seite 83). Das erinnert mich daran, endlich das Buch über ihn (das ich wegen zu vieler Leserunden :rolleyes unterbrochen habe) fertig zu lesen.


    Der Kommentar des Schiffsingenieurs (Seite 83ff); sehr gut aus der Sicht der damaligen Zeit beobachtet. Was der wohl sagen würde, wenn er die heutige gesellschaftliche Ordnung, die nun (zumindest nach seinen Maßstäben) völlig aus den Angeln gehoben ist, erleben würde?


    Etwas irritiert bin ich über das Verhältnis zwischen Mrs Henderson und Mr Brown (S. 91). Soweit ich das im Kopf behalten habe, haben die beiden sich auf der Reise kennengelernt. Aber Mr Brown benimmt sich, als ob er das absolute Sagen habe.


    Übrigens vermisse ich sehr ein Personenverzeichnis. Es tauchen viele Protagonisten auf, dazu in wechselnder Zeitebene. Ich habe ohnehin Schwierigkeiten, mir Namen zu merken. Dann noch so viele auf einmal. Das ist in der Tat ein Manko des Buches, welches man bei einer Zweitauflage vielleicht beheben könnte. (Jetzt werde ich mir erst mal die Personenliste aus Vandams Rezi ausdrucken und immer griffbereit halten.)


    Ich denke beispielsweise auch an die im Oktober gelesenen „Salzstädte“ von Abdalrachman Munif. Auch da gibt es eine Unmenge an Personen, und zu Beginn des Buches also zwei Seiten eng bedruckt mit „Dramatis Personae“ und Kennzeichnung der Zugehörigkeiten. Apropos „Salzstädte“, eines meiner Jahreshighlights. Daran muß ich öfters denken. Diese, ich möchte sagen, verschlungene Erzählweise. Dieses weite Ausholen, um dann an einem Punkt anzukommen, der eigentlich nur einen kleinen Schritt von der jetzigen Position entfernt ist. Wenn eine Begebenheit, oder ein Gegenstand, einen an etwas Vergangenes erinnert und darob die Gedanken in die Ferne abschweifen. Hier in „Weit übers Meer“ jedoch, ich möchte sagen, auf eine eher europäische Weise erzählt.


    Es fällt mir äußerst schwer, nicht die letzte Seite zuerst zu lesen, da ich so gar keine Vermutung habe, wohin die Reise gehen wird. Trotz des Sonnenscheins über dem Meer empfinde ich, daß über dem Ganzen eine düstere Melancholie liegt, die aber nicht ins depressive umschlägt. Klingt vielleicht komisch, aber genauer kann ich es (noch) nicht ausdrücken.
    .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Das wurde hier bestimmt schon erwähnt, aber mir gefällt es ausgesprochen gut, dass nicht nur Valentina im Vordergrund steht sondern auch das Leben und die Persönlichkeit der anderen Figuren aufgerollt wird, sodass man sich gleich am Anfang ein Bild über die verschiedenen Charaktere machen kann. Besonders angetan hat es mir der Bildhauer mit seiner ruhigen und gelassenen Art, er scheint lieber im Hintergrund aufzutauchen.

  • Wünsche einen schönen Sonntag!


    Gestern haben hier ja schon einige spekuliert, wohin uns das Buch noch führen wird. Was genau Valentina zu ihrer Flucht getrieben hat, welchen Sinn die Aussageprotokolle (--> die ich ja gestern schon in den höchsten Tönen gelobt habe - dieser Bruch in Erzählstil und Perspektive begeistert mich immer mehr!) haben und ob uns da vielleicht noch ein Verbrechen erwartet.


    Auf Seite 130 des Buches findet man das Aussageprotokoll von Hermine Mey, die sich darin ziemlich abwertend über Valentina äußert und dann sagt:"Vielleicht hat man einfach zu viel Wind um die Geschichte gemacht. Sehen Sie doch nur diese Meute von Journalisten hier!"


    Hmmm.... eine Meute von Journalisten, "nur" weil ein blinder Passagier nach Amerika gekommen ist? Rechtfertigt das wirklich eine solche Aufmerksamkeit? Und weiter: "zu viel Wind um die Geschichte..." Ist damit die Geschichte gemeint, daß Valentina als blinde, vornehme Passagierin reiste oder doch eine ganz andere Geschichte, die wir noch nicht kennen?


    Es bleibt spannend.....


    Liebe Grüße. :lesend

  • Ich habe den ersten Abschnitt soeben beendet.


    @ SiCollier: Zu Mr. Brown muss ich sagen, dass er mich auch nervt. Er hat dieses dominante Verhalten und eine negativ einnehmende Art, die ich gar nicht mag :nono. Da kann man sich ja schon vorstellen, wie er als Ehemann sein würde. Die Frau hätte dann gar nichts mehr zu sagen. :peitsch


    Schön fand ich die Szene, als Henri zu Mr. Henderson in Kabine 27 geht. Diese Szene war sehr zärtlich beschrieben, es wurde genau das richtige Maß an Zweisamkeit getroffen. Sehr anrührend!


    Gefallen hat mir auch die Begegnung zwischen Valentina und Mr. Livingston in der Postkutsche. Mr. Livingston versucht offensichtlich in einem sehr vorsichtigem Maß Valentina zu erreichen. Irgendetwas in ihr - vielleicht ihre Zerbrechlichkeit und Traurigkeit - interessiert ihn und ich glaube, er wird versuchen, sich mit ihr anzufreunden oder gar ihr Interesse an ihn zu wecken.

  • Ich habe heute morgen auch mit dem Buch begonne und in einem Rutsch diesen Abschnitt gelesen.


    Wunderschön, kann ich im Moment nur sagen. Die Atmosphäre paßt wunderbar zu einem Sonntagnachmittag. Ebeso zu meiner momentanen Stimmung.


    Auch muß ich direkt einmal zum Cover äußern.- Das mache ich eigenlich nie, da es mir oft nicht wichtig vorkommt, hier aber mache ich mal eine Ausnahme.
    Es gefällt mir so gut, dass ich es mir auch gerne als Gemälde an die Wand hängen möchte. Habe ich selten, dass ich ein Cover SO gerne und immer wieder ansehen kann.

    Mich versetzt das Buch in Gedanken immer wieder auf die Titanic. Es erinnert mich nicht an das Untergangsszenario, sondern eher an die Stimmung.
    Ich habe mal einen sehr guten Titanic Film gesehen - nein, nicht dieses Liebsdrama mit Di Caprio - sondern einen, der eine ähnlich schöne Stimmung hatte, die Menschen und ihre Verschiedenheit gut eingefangen hat. Aus dem Film ist mir gerade die Stimmung so gut in Erinnerung und diesen zauber hat für mich auch das Buch gerade.

  • Johanna
    Das Cover besteht aus zwei Gemälden. Auf dem ersten Blick habe ich das aber gar nicht bemerkt, weil beides miteinander gut harmoniert. Erst beim zweiten Blick habe ich auch das Sofa bemerkt, das für mich nicht auf ein Schiffsdeck passte. :lache


    An die Titanic habe ich auch immerzu denken müssen, wenn von der 1. und 2. Klasse die Rede war. Die Reise findet ja auch nur acht Jahre früher statt, sodass bestimmt vieles ähnlich war.

    aktuelles Buch: Die Henkerstochter und der Rat der Zwölf von Oliver Pötzsch
    A Killer Closet von Paula Paul

    Bingo 2017

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  • Bücherfresserin,


    wenn Du auf "edit" gehst, kannst Du den Beitrag, der nicht hierher gehört, aber auch spoilern, das ist dieser Button hier:


    Drüber kannst Du ja schreiben, daß der Beitrag erst in den nächsten Abschnitt gehört. Dann hast Du hier nicht zuviel verraten. ;-)

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Zitat

    Original von Dörthe Binkert
    Soviel darf ich vielleicht verraten: es gab diese Frau im weissen Kleid tatsächlich, und die Journalisten stürzten sich damals auf die Story einer schönen, vornehmen blinen Passagierin!


    Ich habe dazu einen Zeitungs-Link veröffentlicht, dieser findet sich als erster Post im Ende-Thread. Auch Fotos vom Schiff (innen und außen) gibt es dort..

  • Ich habe den ersten Abschnitt nun auch beendet.


    Das Cover finde ich hübsch und ansprechend. Ist ja eine nette Idee mit den 2 Bildern. Danke für die Links, Herr Palomar!


    Die Einführung ins Buch fand ich sehr schön. Spannende Schreibe, flüssiger Stil, soetwas mag ich sehr gerne!


    Die Geschichte baut sich spannend auf und nach und nach kommt man auch an Valentinas Beweggründe, warum sie auf dem Schiff ist, was ich sehr gut finde.


    Worüber ich erfreut war, dass die Erzählung von Valentinas Vergangenheit in den Bergen noch weitergeht. War anfänglich etwas enttäuscht, dass ein wichtiger Teil angeblich weggelassen wurde: nämlich, wie sie sich dort in den Bergen fühlte, ob sie wieder aß, ob sie ihre Gedanken an Charles verarbeiten konnte ... Das ist also noch ein kommender Abschnitt. Schön!


    Manchmal muss ich mich allerdings zwingen, geduldig zu bleiben, weil es mir dann etwas zu lange dauert, ehe die Geschichte weiter in Schwung kommt. Nicht von der flüssigen Schreibe, die finde ich konstant, sondern eher von den Dingen, die passieren oder besser, nicht passieren. Es zieht sich ein bisschen. Mal sehen, vielleicht kommt ja noch mal ein Ruck!
    Vielleicht spielt in diesen Gedanken auch rein, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass auf einem Schiff so ein Aufsehends von einer Frau im weißen Kleid gemacht wird. Es wird doch wohl auch andere hübsche Frauen in hübschen Kleidern geben ...! Denn kaum einer weiß doch, dass es sich um eine blinde Passagierin handelt.
    Diese Befragungen haben mich ebenfalls, wie einige andere von Euch, nachdenklich gestimmt!
    Mal sehen, was da noch kommt ...

    :lesend Ich lese: "Weit übers Meer" von Dörthe Binkert


    - Beständigkeit ist der Schlüssel zum Erfolg -

  • SiCollier : nein Mrs. Henderson und Mr. Brown kannten sich schon vor der Reise und haben "festgestellt dass sie beide zufällig die gleiche Reise antreten".
    Das hört sich ein bisschen nach einer Ausrede an.


    Ich weiss auch nicht warum, aber bei LR lese ich nicht so schnell wie sonst. Vielleicht geniesse ich einfach mehr...


    Mich hat das Buch definitiv in seinen Bann gezogen. Valentina ist sehr geheimnisvoll. Sie hat einen schweren Schicksalsschlag erlitten und ist nicht mehr sie selbst. Umso mutiger ist ihre Flucht. Ich glaube für sie war der Akt des fliehens das Bedeutende, sie hat keinen Gedanken an das ankommen verschenkt. Also ich finde ja, dass so eine Flucht, in einer Zeit in dem die äussern Umstände einen definieren (sie ist / war ja reich...), gesellschaftlichem Selbstmord gleichkommt. Valentina ist nun auf sich gestellt, noch schützt sie das schicke Kleid und ihr hübsches Gesicht, aber spätestens in Amerika muss sie sich ganz neu erfinden. Schwierig für eine Frau in diesen Zeiten.
    Ausser natürlich, Mr Livingstone hilft ihr.


    Die Erzählperspektiven finde ich nicht störend, im Gegenteil, man hat den Eindruck "dabei" zu sein, man erlebt das Leben auf dem Schiff von allen Seiten beleuchtet.


    Mich fasziniert auch Henry's Lisette. Er muss ja andauernd an sie denken...Sowieso haben die Haupt-Protagonisten alle eine Verletzung, die sich uns noch nicht richtig erschliesst: Jan und seine hoffnungslose Liebe, Henry und Lisette, Valentina, Mrs Henderson.


    Die eingeschobenen Berichterstattungen lassen darauf schliessen dass noch etwas möglicherweise dramatisches mit Valentina passiert.


    Bis jetzt: ein geheimnisvolles, schönes Buch, das wie ein Film vor dem inneren Auge abläuft.


    Einziges Manko: ich finde die dtv premium Edition auch nicht so gelungen. Die Bilder auf dem Cover sind zwar wundervoll und passend, die Verarbeitung ist aber keine 15 Euro wert. Und dieser bekloppte Satz "Zeit für Gefühle" auf dem Rücken ist auch total daneben, und lässt auf eine Schnulze schliessen.

  • Zitat

    Original von Dörthe Binkert
    Soviel darf ich vielleicht verraten: es gab diese Frau im weissen Kleid tatsächlich, und die Journalisten stürzten sich damals auf die Story einer schönen, vornehmen blinen Passagierin!


    Oh, na das ist ja mal spannend! Der Artikel wird aber erst am Ende des Buches gelesen, sonst weiss ich ja schon alles.

  • Zitat

    Original von Cookiemonster:
    Ich weiss auch nicht warum, aber bei LR lese ich nicht so schnell wie sonst. Vielleicht geniesse ich einfach mehr...


    Mir geht es auch so. Ich lese bei einer Leserunde wesentlich langsamer als sonst. Ich habe aber auch festgestellt, dass ich viel aufmerksamer und genauer lese.

  • @ Cookiemonster
    Ja stimmt; in einem späteren Abschnitt kommt dazu mehr, so daß sich meine Bemerkung hier eigentlich erledigt hat.



    Das hier:

    Zitat

    Cookiemonster
    Einziges Manko: ich finde die dtv premium Edition auch nicht so gelungen. Die Bilder auf dem Cover sind zwar wundervoll und passend, die Verarbeitung ist aber keine 15 Euro wert. Und dieser bekloppte Satz "Zeit für Gefühle" auf dem Rücken ist auch total daneben, und lässt auf eine Schnulze schliessen.

    deckt sich vollständig mit meiner Meinung. Den Satz „Zeit für Gefühle“ habe ich noch gar nicht bewußt wahrgenommen. Der paßt wirklich überhaupt nicht, weil er in eine völlig falsche Richtung denken läßt.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Mir ist gerade eine Formulierung aufgefallen, auf Seite 56 vergleicht Henry Lisette mit dem Morgen, dieser Abschnitt hat mir sehr gut gefallen. Die Person Lisette scheint auch ganz interessant zu sein, vor allem der Satz auf Seite 57 "Ist an einem anderen Ort" lässt darauf schließen, dass wir noch mehr von Lisette hören werden.