Dilek Güngör - Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter

  • Titel: Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter
    Autorin: Dilek Güngör
    Verlag: Piper
    Erschienen: Oktober 2008
    Seitenzahl: 206
    ISBN-10: 3492252664
    ISBN-13: 978-3492252669
    Preis: 7.95 EUR


    Die Autorin:
    Dilek Güngör wurde 1972 in Schwäbisch-Gmünd geboren. Sie ist die Tochter türkischer Einwanderer. Nach ihrem Studium arbeitete sie bei der BERLINER ZEITUNG, für die sie bis 2006 eine wöchentliche Kolumne über die Ereignisse in ihrer deutsch-türkischen Familie schrieb. Jetzt lebt sie mit Mann und Kind in Baden-Württemberg.


    Zum Inhalt:
    Großmutter Fatma liegt im Sterben. Um sie noch einmal zu sehen, reist ihre Enkelin Zeynep aus Deutschland an. Fatma aber hat es nicht eilig mit dem Tod. Sie überrascht die junge Zeynep mit ihrem Pragmatismus, ihrem Witz – und einem abgründigen Geheimnis, das wie ein Schatten über der ganzen Familie liegt.


    Meine Meinung:
    Dilek Güngör hat die Gabe in einer klaren und einfachen, dabei aber sehr ausdrucksvollen Sprache zu erzählen. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hat dieses Buch als ein „einfach sehr schönes Buch“ bezeichnet. Unaufdringlich, dabei aber doch eindringlich bringt uns die Autorin die Berührung dieser beiden sich fremden Welten nahe. Man ist immer wieder über ihre Ausdruckskraft erstaunt, über ihr schnörkelloses Erzählen. Sie steht zu ihren türkischen Wurzeln, ist aber nicht bereit sie kritiklos zu akzeptieren. Sie zeigt deutlich auf die Missstände in der türkischen Realität, sie prangert immer wieder das frauenfeindliche Gebaren der türkischen Männer an.
    Die TAZ verstieg sich zu folgendem Ausspruch: „Dilek Güngörs Familiengeschichten sind irrsinnig türkisch, irrsinnig deutsch und ganz einfach wunderbar.“ Welch ein Unsinn. Dilek Güngörs Bücher sind weder irrsinnig türkisch noch irrsinnig deutsch, was immer das auch sein mag, nein, sie sind einfach nur wirklich gut und sehr lesenswert. Sie machen den Blick frei für eine andere Kultur, sie räumen mit Vorurteilen auf und gerade diese Bücher sind es, die mehr zum gegenseitigen Verständnis der Kulturen beitragen als irgendwelches schwachsinnige Politikergesülze.
    Dilek Güngör verliert nie ihre sprachliche Linie. Mit Sprache schlampt man nicht, Sprache ist dazu da um sich klar auszudrücken. Es ist ganz einfach ein Erlebnis dieses Buch zu lesen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter - Dilek Güngör (3. 11. 2008)


    Zeynep ist dreiunddreißig, Journalistin, aber gerade arbeitslos und ohne Mann. Aus Berlin flüchtet sie sich zu ihren Eltern in eine Kleinstadt. Rückkehr ins behütete Nest, sozusagen. Doch die Gemütlichkeit wird bald zerstört: die Großmutter liegt im Sterben. Allerdings nicht im Haus nebenan, sondern in einem kleinen Dorf in Anatolien. Vater, Mutter und Zeynep holen tief Luft und machen sich dann tapfer auf die Reise. Schließlich ist man Familie und da gehört sich das.
    Zeynep kommt sich besonders merkwürdig vor. Sie hat keine Bindungen an das Dorf, vor fast zehn Jahren war sie das letzte Mal dort. Es gibt einige wenige Erinnerungen an glückliche Kinderferien, an einen wunderbaren Großvater und jede Mengen Kusins und Kusinen zum Spielen. Die Großmutter allerdings ist nur ein blasser Schatten. Was wird sie vorfinden?


    Was sie findet, ist eine landwirtschaftlich und ländlich geprägte Gesellschaft, die ihr ziemlich vorgestrig vorkommt. Männer haben das Sagen, Frauen schuften und schweigen. Im Haus der Großmutter lebt deren Sohn, Zeyneps Onkel Mehmet, dessen Sohn Fevzi und die Schwiegertochter, Özlem, mit ihren beiden Kindern. Die Wohnverhältnisse sind äußerst einfach, Zeynep muß zusammen mit ihren Eltern in einem Raum schlafen. Fassungslos sieht sie zu, wie Schwägerin Özlem die Männer bedient. Die ganze Familie scheint von Onkel Mehmets Launen abhängig zu sein.


    Schlimmer trifft sie zunächst die Begegnung mit Krankheit und dem bevorstehenden Tod eines Menschen in Person der Großmutter. Zuerst abgestoßen und verängstigt, näher sie sich langsam ihrer Großmutter an. Man kann ja mit ihr reden, stellt sie fest, und, mehr noch, die alte Frau hat einiges zu sagen.
    Zugleich wird immer deutlicher, daß im Familiengefüge etwas nicht stimmt. Zeyneps Vater duckt sich vor seinem jüngeren Bruder, eine verwitwete Schwägerin, die Frau eines weiteren Onkels, wird brutal ausgegrenzt. Was ist hier geschehen? Zeynep gibt ihrer Neugier nach und gräbt in der Vergangenheit. Ihr Bild von ihrer Familie verändert sich dadurch radikal.


    Das ist an für sich keine schlechte Geschichte. Mit der Umsetzung bin ich jedoch alles andere als zufrieden, im letzten Drittel des kleinen Buchs war ich schließlich verärgert. Gründlich.
    Was wird uns da eigentlich präsentiert? Ein Dorf, Anatolien, geduckte Frauen, Ehe und Kinder als hauptsächliches Ziel von Frauen. Tyrannische Männer und, wer hätte es nicht gedacht, eine Blutrache-Spur mitten in der Familie. Die Türkei, wie leibt und lebt. Im Klischee-Gewächshaus.


    In der ersten Hälfte des Romans kämpft die Autorin noch dagegen an. Es gibt ziemlich interessante Einblicke in die Beziehungen zwischen denen, die gegangen sind und die, die bleiben mußten. Einige Vorannahmen Zeyneps erweisen sich als überhaupt nicht haltbar. Es gibt ein paar wunderbar geschilderte Blicke auf die Vergangenheit und Zeyneps Kinderzeit. Es gibt auch sehr überzeugend gestaltete Momente im Dialog mit der Großmutter.
    Aber aufs Ganze gesehen trägt nichts davon. Es verbleibt im Skizzenhaften. Tatsächlich sind die Einzelthemen zu groß für die Autorin. Sie sind weder durchdacht noch durchgearbeitet. Angemessen gestaltet sind sie schon gar nicht. Vieles kommt ganz nebenbei daher und ist auf der nächsten Seite auch schon wieder versippert. Das gilt für die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern wie für die ‚großen’ Themen. Es wächst ihr einfach über den Kopf.


    Die Frauenfiguren bleiben recht blaß, sie sind eher nervig mit ihrem ständigen Gerde vom Heiraten und Kinderkriegen. Die wichtige Beziehung Mutter-Tochter setzt ein, wird dann in einigen kurzen Dialogen zusammengedrängt und verbleibt für den Rest des Buchs der Daraufsicht. Nachbarinnen dürfen herumgeistern, die Dorfhebamme (die offenbar gelernte Krankenschwester ist!) ihre Späße machen. Die verstoßene Schwägerin bekommt ihren Auftritt, damit wir auch alles wissen. Tatsächlich wissen wir damit immer noch nichts, denn wir folgen weiterhin nur Zeyneps eher kurzsichtigem Blick.
    Überzeugend ist einzig Özlem, die Schwägerin. Schweigsam, hartnäckig, geduldig, zielgerichtet. Sie weiß, was sie will und das wird sie erreichen. Sie ist eine Gestalt, die einen Roman tragen könnte. Aber auch sie blendet die Autorin aus, sobald sie in die Tiefe gehen müßte.


    Ganz uneinheitlich dagegen die Gestaltung der Hauptfigur. Ihr Auftreten ist kein Zeichen kultureller Zerrissenheit, sondern im Gegenteil von handelsüblicher Ziellosigkeit. Zwar hat sie gekündigt, aber mit der Arbeitssuche nimmt sie es nicht so wichtig. Zeitweise gibt sie sich Plänen hin, ein Film-Interview mit ihrer Großmutter zu machen. Klar, Film ist in. Da sie aber keine Kamera mitgenommen hat, und Onkel Mehmet ihre beiden Versuche, sich eine zu besorgen, boykottiert, gibt sie den Plan wieder auf. Sie macht sich nicht einmal Notizen von all dem, was ihre Großmutter sagt oder auch nur davon, was sie selbst in dieser Situation empfindet. Fragen stellt sie auch kaum. So vergißt man beim Lesen bald, daß sie überhaupt einen Beruf hat.
    Was Zeynep eigentlich am Herzen liegt, ist ihr ehemaliger Liebhaber. Das jedenfalls steht auf den letzten fünfzig Seiten im Vordergrund. Nicht, daß wir mit den Themen Sterben, Blutrache und Verantwortung nicht schon Probleme zum Bearbeiten hätten. Aber nein, da muß unbedingt ein auch nur skizzenhaft angelegter Lover aus Berlin herhalten.
    Daß sie sich zum Schluß noch damit schmückt, daß sie aufopfernd an Großmutters Seite blieb, obwohl Özlem nach wie vor die Hauptlast von Pflege und Hausarbeit trägt, macht sie nicht sympathischer.


    Die Männer sind eben Männer. Was das ist, sagt schon der Name. Sie verschwinden morgens in aller Frühe und kommen abends dreckig heim. Dann wollen sie bedient werden. Wo sie waren? Keine Ahnung. Möglicherweise im Teehaus, es wird oft genug erwähnt. Gehört ja zur Dorf-Kulisse. Im Unterschied zum Bethaus. Ein solches kommt nämlich an keiner einzigen Stelle vor. Unfromm sind die Typen offenbar auch. Die Nennung des Namens Gottes ist nur den Frauen des Buchs vorbehalten. Manchmal fahren Männer in die Stadt, Frauen nehmen sie dann aber nicht mit. Und abends sitzen sie vor dem Fernseher und schreien alle zehn Minuten nach frischer Limo.
    Männer sind also unsympathisch. Wer es zu Beginn des Buchs nicht war, ist es am Ende. Das ist perfekte zeitgeistig-pseudofeministische Demontage von Vaterfiguren. Das geht uns runter wie Olivenöl aus Anatolien.
    Unter einem echten Konflikt versteht Güngör dann Schreiduelle zwischen Familienmitgliedern. Am Ende darf Zeynep auch noch Onkel Mehmet, den bösen bluträchenden Onkel, ankreischen. Das ist Mut! Und tragisch, weil mitten im Gebrüll die Großmutter stirbt. Fehlen bloß noch die anatolischen Geigen.


    Die wichtigste Erkenntnis für Zeynep ist am Ende offenbar, daß auch Großmama vorehelichen Sex kannte und überhaupt Sex für sehr wichtig hält.
    Das ist so wunderbar westeuropäisch-zeitgeistig. Freier Sex macht freie BürgerInnen. Was sonst braucht die Frau?
    Erst das Nachwort schlägt dann, politisch-korrekt, den Bogen zum Beruf. Zeynep arbeitet wieder. Sie steht finanziell auf eigenen Füßen. Toll! Das ist nur jeder vierten Frau in Deutschland vergönnt, teilt sie uns mit. Das Leben ist halt nirgends leicht, irgendwie oder so, mit Kopftuch und ohne.
    An Großmutter mag sie lieber nicht denken. Wozu auch.


    Große Themen, leicht gefaßt. Dann kann nur schiefgehen. Schiefgegangen ist es. Das ist kein Roman über über TürkInnen, die in Deutschland leben. Auch keiner über TürkInnen, die in Anatolien leben. Es ist nicht einmal ein Roman über die heutige Türkei. Es ist eine glatt formulierte und gefällig arrangierte Aneinanderreihung von oberflächlichen Vorstellungen über TürkInnen, die in Deutschland leben, und TürkInnen, die in Anatolien leben. Und über ein Bild von der Türkei, das selbst Zeyneps Großmutter vorgestrig finden würde.
    Ich fürchte allerdings, daß wir noch lange damit werden leben müssen. Manche Fassaden erweisen sich als unangenehm dauerhaft.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus