• Nun will ich auch einmal etwas von mir hier einstellen...:rolleyes . Meinungen, Anregungen und Kritik sind natürlich erwünscht.




    Geliebt werden



    Wir lieben uns, jetzt gerade in diesem Augenblick, ohne daß ich wüßte warum... ohne daß ich wüßte, wann wir begonnen haben.
    Es ist eben so. Liebe eben.


    Mein Blick beginnt seine Reise durch dein Zimmer, langsam wandert er umher, wieder einmal, müde und lustlos. Es ist so leer, dein Zimmer, geradezu minimalistisch eingerichtet, die Wände kahl und schmutzig grau. Es gibt nichts zu entdecken und mir wird schnell kalt. Vergeblich suche ich mit der rechten Hand nach der Bettdecke, wahrscheinlich ist sie zu Boden gerutscht durch die monotone Bewegung deiner Liebe.
    Es wird auch so gehen. Muß ja.


    Ich frage mich, wie spät es wohl mittlerweile sein wird. Es ist seltsam, sobald ich deine Wohnung betrete, verlieren sich Zeit und Raum in deinem Halbdunkel, lösen sich auf. Ich werde orientierungslos.
    Willenlos, während Du liebst.
    Mich liebst.


    Wenn ich den Kopf ein wenig zur Seite drehe, kann ich in den Flur hineinsehen, und ich weiß, an seinem Ende, dort, wo das Dunkel am dunkelsten wird, befindet sich die Wohnungstür. Du hast sie mit einem Riegel und einer Kette zusätzlich gesichert; noch immer kann ich nicht begreifen, wozu all diese Sicherheit gut sein soll. In deiner Wohnung ist doch nichts... nichts bis auf dich, nun gut.
    Ich finde sie übertrieben, diese ganze Sicherheit nur für dich, und ich muß lächeln. Du lächelst zurück, Schweiß rinnt über deine Stirn.


    Auf dem Campus hat man dich schon lange nicht mehr gesehen, niemand fragt, wo du abgeblieben bist. Ich weiß gar nicht, ob außer mir überhaupt jemand weiß, daß es dich gibt. Du gehörst ganz mir und ich bin deine ganze enge Welt.
    Manchmal erdrückt sie mich, die Verantwortung für dich... zu wissen, daß ich dein Bindeglied bin, zwischen dem Leben und der Starre. Doch welche Wahl habe ich?


    Plötzlich drängt dein Körper heftiger, ein wildgewordenes Tier zeigt sich in deinen Augen. Du lebst. Ich bin froh.
    Liebe tut manchmal auch weh, das ist eben so. Liebe eben.


    Eigentlich sind nur acht Monate vergangen, doch es scheint mir unendlich lange her, daß du mich nach einer Vorlesung am Arm festgehalten hast. Ich, erschrocken, jemand hatte mich bemerkt, konnte nicht mehr lautlos aus der Aula schleichen, erstarrt. Plötzlich war ich jemand durch dich.
    Du fragtest, ob ich dir die Wahrscheinlichkeitskalkulation erklären könne, und wie sollte ich es wagen, nein zu sagen? Es ging schnell, ein gestammeltes ja, ein Zettel mit deiner Adresse, ein "bis morgen".


    Es war nicht leicht gewesen, zu dir zu finden, die Plattenbauten sehen alle zum fürchten gleich aus und ich wollte schon aufgeben, als ich schließlich doch noch dein Haus entdeckt habe. 12. Stock, mein Gott war das weit oben.
    Deine Tür stand bereits offen, deine Wohnung wartete auf mich und ich trat ein. Du kamst mir nicht entgegen, ich fand dich in der Küche sitzend. Hallo. Schüchtern klammerte ich mich an das Lehrbuch, setzte mich zu dir, schlug es auf.
    Nicht einmal leere Blätter hattest du in deiner leeren Wohnung, also riß ich dir eines aus meinem Block und begann dir an deinem dreckigen Küchentisch zu erklären, was du wissen wolltest.
    Woche für Woche.
    Ich mochte es, Dir zu helfen, auch wenn wir auf dem Campus so taten, als würden wir uns nicht kennen. Später kamst Du ja eh nicht mehr zu den Vorlesungen, vielleicht weil Dir reichte, was ich dich lehrte.
    Ich mochte es, aus dem Haus zu gehen und zum Abschied zu rufen "Mama, ich komme später wieder, ich gehe einem Freund Nachhilfe geben". Das war sonst noch nie passiert... daß mich jemand kannte und ich fühlte mich wichtig.


    Du hast nie viel gesprochen, nur zugehört, aber das ist eben so, wenn man etwas von jemandem lernen will, dachte ich.
    An dem Tag, als Du mir sagtest, Du liebst mich, erschrak ich, so ungewohnt war es, dich sprechen zu hören.
    Du liebst mich?
    Ich werde geliebt.
    Wie schön.
    Dann hast du mich zum ersten Mal geliebt, auf den Übungsblättern zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, die ich für dich zu Hause zusammengestellt hatte. Du warst gierig, ausgehungert, verzweifelt und ich ließ mich lieben.


    Seitdem du mir deine Liebe offenbart hast, rechnen wir nicht mehr. Ich komme zu dir, weil du mich liebst. Liebe ist ja auch etwas viel Größeres und Wahrscheinlichkeitsrechnung im Vergleich zu ihr belanglos.
    Gelegentlich wage ich an die Zukunft zu denken, an deine, meine, unsere... dann macht sich ein unwirkliches Gefühl in mir breit. Werden wir zusammenziehen? Ich zu dir in deine dunkle Welt? Werden wir Kinder haben? Kinder unserer Liebe?
    Ich überlege, wie wohl deine Stunden und Tage aussehen, mit was sie sich füllen, wenn ich nicht hier bin, um geliebt zu werden. Von Dir geliebt.
    Mir schießt dann immer das Bild von einem Käfer in den Kopf. Du, in deiner Wohnung panzerartig eingeschlossen, regungslos, leblos. Von Staub ernährst du dich, davon gibt es hier ja genug. Zumindest verhungern brauchst du nicht, ein kleiner Trost.


    Ich sehe dir in die Augen, während du mich wütend liebst. Du bist mein Freund.
    Liebe muß auch ertragen können.
    Plötzlich fühle ich nichts mehr, du rollst ab, bleibst auf deinem Panzer keuchend liegen, kraftlos, immer noch zuckend. Käfer.


    Ich stehe auf, atme ein und aus, ein, aus, ein, aus, ein, aus, ein, aus, atme auf und suche meine Kleidung auf dem Boden zusammen, schleiche mich über den Flur zur Tür, befreie mich aus deiner Sicherheit, fahre die zwölf Stockwerke nach unten und trete auf die Straße.
    Die frische Luft tut gut und füllt meine Lungen mit Leben.
    Leben und Liebe.
    Ich muß an meinen Papa denken. Auch er liebt mich wie du.
    Von ihm habe ich gelernt, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden.
    Liebe eben.
    Ich werde geliebt. Wie schön.
    Mir wird übel auf dem Weg nach Hause.

  • Ich mag Deine Geschichte, allerdings ohne genau sagen zu können, warum. Sie hat etwas verstörendes an sich, gerade im zweiten Teil, vieles wird angedeutet, ohne das es ausgesprochen wird....
    Ich habe Deine Geschichte bereits einige Male gelesen, fühlte mich aber nicht in der Lage etwas sinnvolles dazu zu schreiben....so wie jetzt.
    Die Geschichte " fühlt" sich für mich einfach "richtig" an, ich mag sie einfach.

  • Ich habe mir deine Geschichte gleich gestern direkt nach dem Einstellen durchgelesen, allerdings nicht gewusst, wie ich eine Kritik dazu schreiben soll. Mein erster Eindruck deiner Geschichte war, dass ich sie sehr verstörend fand und auf eine seltsame Art auch traurig. Deinen Schreibstil finde ich sehr schön. Ich weiß immernoch nicht, was ich zu deiner Geschichte schreiben soll, da geht es mir ähnlich wie Bodo, ich mag sie, ich weiß nicht warum, und ich fand sie zuerst sehr verstörend, ich habe sie mehrmals gelesen und festgestellt, dass die Geschichte meiner Meinung nach sehr viel Einsamkeit ausdrückt, vielleicht ist das aber auch nur eine Wahnvorstelllung von mir :lache. Ich würde mich freuen mehr von dir zu hören, die Geschichte gefällt mir :wave.

  • Danke für Deine positive Rückmeldung :-) ...


    Zitat

    Original von M101
    ich habe sie mehrmals gelesen und festgestellt, dass die Geschichte meiner Meinung nach sehr viel Einsamkeit ausdrückt, vielleicht ist das aber auch nur eine Wahnvorstelllung von mir.


    Also, da kann ich Dich beruhigen... Wahnvorstellungen hast Du nicht ;-) . Einsamkeit in verschiedenen Erscheinungsformen ist auf jeden Fall eines der tragenden Themen, die diese Geschichte ausdrücken soll.



    Zitat

    Original von M101
    Ich würde mich freuen mehr von dir zu hören, die Geschichte gefällt mir.


    Ich werde ´mal schauen, was ich hier noch so ´rumliegen habe... :wave

  • Hallo, ich wollte auch gerne meinen Senf dazugeben. Ich bin ein wenig hin- und hergerissen, was ich von dieser Geschichte halte. Einerseits ist sie sehr genau was einzelne Empfindungen angeht und ich kann das alles zu einem großen Teil nachvollziehen, anderseits ist die Stimmung ja doch eher träge und ein wenig resignierend - die Freude geliebt zu werden kommt bei mir nicht an. Natürlich vergleiche ich das, was ich lese immer automatisch mit meinen eigenen Erfahrungen.


    Liebe Grüße,
    Antje

  • Zitat

    Original von Loewin
    anderseits ist die Stimmung ja doch eher träge und ein wenig resignierend - die Freude geliebt zu werden kommt bei mir nicht an.


    :gruebel
    Hm... meinst Du, die Protagonistin wird wirklich geliebt ?


    Sie erträgt diese "Liebe", genauer gesagt den Akt des "Liebens", weil sie nichts anderes kennt, was ich ganz am Schluß angedeutet habe:
    "Ich muß an meinen Papa denken. Auch er liebt mich wie du.
    Von ihm habe ich gelernt, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden.
    Ich werde geliebt. Wie schön.
    Mir wird übel auf dem Weg nach Hause."

    Ich habe diese Geschichte nicht geschrieben, um das Gefühl wahrer Liebe auszudrücken, sondern vielmehr um die fatalen Folgen des sexuellen Missbrauchs durch den Vater zu thematisieren.
    Viele Opfer wissen nämlich wirklich nicht, wie sich echte Liebe anfühlt, und geraten deshalb und aufgrund ihrer gleichzeitigen rasenden Sehnsucht danach oft immer wieder in Situationen, in denen sich der Missbrauch wiederholt.
    Die Möglichkeit "Nein" zu sagen, kennen sie nicht und haben es auch nie gelernt.

  • Hab mir deine Geschichte noch ein zweites Mal durchgelesen. Du hast recht. Eigentlich hätte es mir schon beim ersten Lesen auffallen sollen, dass die Stimmung, die du genutzt hast, Absicht ist. Jetzt passt es auch für mich besser zusammen und liest sich stimmig.
    Liebe Grüße,
    Antje

  • Genau das hast Du toll hinbekommen! Dadurch das Du nicht direkt, sondern fast nebenbei diese Verbindung herstellst gewinnt Deine Geschichte ungemein. Im ganzen Text sind viele Zwischentöne versteckt, kaum greifbare Andeutungen, das doch mit dieser Liebe etwas nicht stimmt. Ich würde gerne mehr von Dir lesen!

  • Zitat

    Original von M101 ich habe sie mehrmals gelesen und festgestellt, dass die Geschichte meiner Meinung nach sehr viel Einsamkeit ausdrückt, vielleicht ist das aber auch nur eine Wahnvorstelllung von mir :lache.
    Original von Bücherelfin
    Also, da kann ich Dich beruhigen... Wahnvorstellungen hast Du nicht Augenzwinkern . Einsamkeit in verschiedenen Erscheinungsformen ist auf jeden Fall eines der tragenden Themen, die diese Geschichte ausdrücken soll.


    Das beruhigt mich jetzt aber :lache, nein ich war mir da am Anfang nicht so ganz sicher, weil so viele Gefühle oder eben Nichtgefühle in deiner Geschichte vorkommen. Es würde mich wriklich freuen, wenn du noch etwas reinstellst :-).

  • Ich hab die Geschichte vor ein paar Tagen gelesen und sie ist mir sehr im Gedächtnis geblieben.
    Du schaffst eine ganz eigenartige Atmosphäre, obwohl von Liebe die Rede ist, wirkt alles steril, trist und wie alter Karton.
    Du zeigst, dass es hier um sexuellen Missbrauch geht, ohne mit der Betroffenheits- oder Moralkeule auf den Leser einzuhämmern, stattdessen lässt du es nur leise durchscheinen und wirst erst am Ende präziser, als der Vater erwähnt wird.
    Ich bin von der Geschichte sehr beeindruckt. Das hast du wirklich gut gemacht!

  • Hallo,


    ich habe mir diese Geschichte jetzt auch schon mehrmals durchgelesen.
    Es ist erstaunlich, mit welchen subtilen Mitteln Du es schaffst, Gegensätze zu produzieren. Der Titel bereitet den Leser eigentlich auf ein schönes Erlebnis/Erleben vor. Aber schon die ersten Sätze lassen ihn von dieser Vorstellung Anstand nehmen. Negativ besetzte Dinge, wie den "dreckigen Tisch" benutzt Du, um anzudeuten, dass es eigentlich nicht ihr Ding ist, sich an einen so dreckigen Tisch zu setzen. Wenn es ihr wirklich egal wäre, würde es nicht erwähnt werden müssen, aber so drückt es gleichzeitig ihre Einstellung aus, aber auch die Unfähigkeit, sich davon zu distanzieren und innerlich dagegen aufzubegehren, sich an einen solchen Tisch setzen zu müssen.


    Und so zieht es sich durch die ganze Geschichte. Wenn man einen Satz von Dir liest, kann man sich viel mehr vorstellen, als nur das, was in ihm mit Worten geschrieben steht. Beispiel: die Tatsache, dass sie noch zu Hause wohnt, impliziert, dass sie noch sehr jung sein muss. Zu der Mutter scheint sie ein gutes Verhältnis zu haben, weil sie sich abmeldet. (Sie könnte auch so einfach gehen, aber nein, sie meldet sich ab) Gleichzeitig ist es ihr wichtig, dass auch die Mutter bemerkt, dass sie offensichtlich für andere wichtig ist.


    Wenn ich also Deinen kurzen Text lese, spielt sich vor meinem inneren Auge ein ganzer Roman ab - eine Lebensgeschichte, die etwas sehr Tragisches hat.


    Ich mag Deine Geschichte auch und finde sie sehr gelungen!



    LG,


    Christiane

  • Erstmal Respekt für deinen Mut dieses Thema aufzunehmen und hier zur Diskussion zu stellen.Man läüft leicht Gefahr dieses Thema als Basis für eine vermeintlich gute Geschichte zu "mißbrauchen".
    Mir gefällt besonders daran das der Leser gezwungen wird zwischen den Zeilen zu lesen,mitzudenken ,sich mit dem Thema auseinander zu setzen.Auch in der Realität ist Mißbrauch von Kindern oft nur bei genaueren hinschauen sichtbar.So man bereit ist ihn überhaupt wahrnehmen zu wollen.


    Chrissi spricht das Verhältniss zur Mutter an.Auch hier ist alles offen.Weiß die Mutter davon?Will die Tochter ihr die Wahrheit ersparen?Kann es überhaupt sein das eine Mutter dies alles nicht bemerkt oder ahnt?


    Wie gesagt,ich finde deine Geschichte auch sehr gelungen.