Die Stimme aus dem Brunnen

  • Hallo Leute!


    So, nun möchte auch ich euch etwas von mir Geschriebenes zeigen. Dies hier ist meine erste eigene Geschichte, die ich hier poste. Sie ist zwar schon etwas älter (von 2005), aber ich wüsste dennoch gerne, was ihr davon haltet!
    Kritik nehme ich gerne an (sofern sie nicht abwertend oder gar gemein formuliert ist), immerhin möchte ich mich ja weiter entwickeln und besser werden. ;)


    Viel Spaß beim Leben und liebe Grüße,
    Sky


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    Die Stimme aus dem Brunnen (Teil 1)



    Ein sanfter Frühlingswind wehte den Frauen des Dorfes und deren Kindern um die Ohren, während alle fleißig damit beschäftigt waren, auf dem Feld die ersten Blüten ihrer Ernte einzusammeln. Eine junge Frau wischte sich erschöpft etwas Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Sie richtete sich auf um ihrem schmerzenden Rücken etwas Entspannung zu gönnen und blickte sich zufrieden um.


    Es war ein wunderschöner Tag, wie geschaffen für die Arbeit. Die strahlende Sonne neigte sich langsam dem Horizont und ließ die umliegenden, saftigen, weiten Wiesen in den interessantesten Farben erscheinen. Von allen Seiten konnte man vergnügtes Tratschen der arbeitenden Frauen vernehmen, Lachen war zu hören. Drüben, nahe am Wald schrieen die Kinder laut durcheinander, die Mädchen und Jungs waren wie immer in ihre Spiele vertieft, verweilten in ihrer eigenen kleinen Welt, die noch so unberührt und unverdorben war, dass sich die Erwachsenen jeden Tag danach zurücksehnten.
    Ein letztes Mal hob die junge Frau ihr Messer und setzte es an den Stamm des Dornengewächses, das vor ihren Füßen sprieß, vorsichtig trennte sie den dünnen, dunkelgrünen Stil der Pflanze ab und bückte sich anschließend, nahm den großen, geflochtenen Weidenkorb zu ihren Füßen hoch und legte die letzte gepflückte Rose und ihr Werkzeug hinein zu den anderen Blumen. Es war Zeit, den Heimweg wieder anzutreten.


    Nach und nach packten auch die anderen Frauen ihre Sachen, die eine oder andere klopfe sich etwas Schmutz von ihrer Schürze, die jungen Mädchen, etwa im Alter von 14 Jahren, die zum ersten Mal mit zur Arbeit gekommen waren, wischten sich die von den Rosendornen blutigen Finger im Stoff ihrer Kleider ab, darauf bedacht, keine Miene zu verziehen und sich den unangenehmen Schmerz der kleinen Schnittwunden auf ihren Händen nicht anmerken zu lassen. Sie wollten ihre Mütter stolz machen, wollten als tapfer gelten, ihre Arbeit angemessen verrichten.


    „Sophie!“, rief die junge Frau in Richtung Wald und wartete, bis ein kleines Mädchen neugierig seinen Kopf nach ihr umdrehte, ihre langen braunen Zöpfe im Wind wehend. Sofort kam das kleine Mädchen in dem gelben Kleidchen angelaufen, blieb lachend vor ihrer Mutter stehen und lugte neugierig in den Korb.


    „Habt ihr viel gesammelt, Mama? Diese Rosen sind so wunderschön! Ich freue mich schon darauf, auch einmal eine Rose pflücken zu dürfen!“, meinte das kleine Mädchen begeistert und ihre Mutter lächelte sie glücklich an.


    „Hab noch etwas Geduld, meine Kleine, es wird nicht mehr lange dauern! In ein paar Jahren darfst du mir dann bei der Arbeit helfen! Aber nun sag rasch deinen Freunden Bescheid, wir gehen wieder nach Hause, nicht, dass wir hier jemanden vergessen und zurücklassen!“, entgegnete die junge Frau und strich ihrer Tochter zärtlich übers Haar.


    Das kleine Mädchen nickte eifrig und lief wieder zum Waldrand, wo sie nach ein paar Freunden rief, die sich, wie es die Regeln des neuen Lieblingsspiels der Dorfkinder vorschrieben, im Wald versteckt hatten, um sich von einem der anderen Kinder suchen zu lassen. Kurze Zeit später wanderten die Frauen im Licht der untergehenden Sonne den Feldweg entlang wieder Richtung Dorf, die Kinder bildeten die meiste Zeit das Schlusslicht, wo sie miteinander lachten und sich gegenseitig die kühnsten Abenteuer erzählten, die sie sich mit ihren unschuldigen Gemütern ausdachten. Begleitet wurden sie vom Zirpen der Grillen, das den Anbruch der Nacht ankündigte. Die junge Frau stimmte in die fröhlichen Gesänge der übrigen Dorffrauen ein, in Gedanken war sie bereits wieder zu Hause, wo sie am Herd stand und für ihre Tochter und ihren lieben Ehemann, der ebenfalls bald wieder von der Arbeit kommen würde, ein schmackhaftes Abendbrot zubereitete. Gerade als sie das Tor der Dorfgrenze durchschreiten wollte, hörte sie ihre Tochter nach ihr rufen und blieb sofort stehen.


    „Mama, Mama!“, rief das kleine Mädchen mit den braunen Zöpfen, ihre Mutter konnte Sophie ganz am Ende der Menschenschlange entdecken, wo das Mädchen stehen geblieben war, während die anderen Kinder sich bereits verabschiedet hatten und mit ihren Müttern, Großmüttern und Geschwistern wieder in ihren Häusern verschwanden.


    „Was ist denn los, Sophie! Wo bleibst du denn! Lass uns nach Hause gehen!“, meinte die junge Frau, die angelaufen kam, als sie bei ihrer Tochter wieder stehen blieb.


    „Hörst du das?“, fragte das kleine Mädchen geistesabwesend und deutete mit einer Hand zum Wegrand, auf den steinernen Brunnen, der aus der grünen Wiese ragte, „Da weint doch jemand...“


    Die junge Frau blickte ihre nervös wirkende Tochter verwundert an, dann wanderte ihr Blick zu dem Brunnen und sie lauschte angestrengt. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts hören, das auch nur im Entferntesten wie ein Weinen klang. Etwas verwirrt widmete sie sich wieder ihrer Tochter und schüttelte leicht den Kopf.


    „Was redest du denn da? Ich kann nichts hören!“


    „Aber...“


    „ Vielleicht hast du nur eine streunende Katze oder einen Vogel drüben aus dem Wald gehört, Liebling! Lass uns gehen, du bist sicher müde und hungrig! Ich koche uns etwas Leckeres!“, mit diesen Worten nahm die junge Frau das kleine Mädchen an der Hand und nahm sie wieder mit, den Weg entlang, durch den Torbogen des Dorfes, über den kleinen Dorfplatz zu ihrer kleinen Hütte, die sie mit ihrem Mann und ihrem Kind bewohnte. Das kleine Mädchen warf noch einen letzten flüchtigen Blick über ihre Schulter zurück zum Brunnen.


    „Geh nie zu nahe an den Brunnen, hörst du? Das ist gefährlich, ich will nicht, dass du hineinfällst!“, mahnte die junge Frau ihre Tochter noch, das kleine Mädchen nickte.


    Das war das erste Mal, dass Sophie die Stimme aus dem Brunnen gehört hatte und auch weiterhin hörte sie sie immer und immer wieder wenn sie an dem Brunnen vorbeikam. Sie war fest davon überzeugt, ein Kind aus dem Brunnen weinen zu hören, genauer ein kleines Mädchen, doch niemand aus dem Dorf wollte ihr glauben, alle wollten ihr weis machen, dass sie sich das nur einbildete, böse Zungen behaupteten sogar, das kleine Mädchen hätte sich die ganze Geschichte nur ausgedacht um Aufmerksamkeit zu erregen. Doch Sophie log nicht, sie wusste, was sie hörte und wollte der Sache früher oder später auf den Grund gehen.


    Eines Tages, als die anderen Dorfkinder Sophie wieder einmal ausgelacht hatten, weil sie anscheinend immer noch diese Stimme aus dem Brunnen hörte, verkroch sich das kleine Mädchen abends nach dem Essen in ihrem Bett und spielte noch etwas mit ihrer Stoffpuppe. Ihre Eltern hatten sie ins Bett gebracht, bevor sie auf einen Besuch zu ihren Nachbarn aufgebrochen waren und so konnte Sophie ungestört spielen. Nach einer Weile krabbelte sie unter ihrer Bettdecke hervor und machte das Licht an, irgendwie war es doch nicht das Wahre, im Dunkeln zu spielen.


    „Wollen wir nicht mal nachsehen, ob wir etwas schönen Schmuck für dich finden, Becky?“, meinte das kleine Mädchen zu ihrer Puppe und antwortete mit verstellter Stimme: „Doch, das wäre sehr schön!“


    Dann kletterte sie aus dem Bett und verließ das kleine Zimmer, in dem sie schlief, tapste durch die kleine Hütte in das Zimmer ihrer Eltern, wo sie anfing, in Mutters Kommode herumzuwühlen. Neben ein paar hübschen Goldketten und der Perlenkette ihrer Großmutter fand Sophie auch noch eine dünne silberne Kette mit einem meerblauen, tropfenförmigen Anhänger, die sie noch nie an ihrer Mutter gesehen hatte. Bei genauerem Hinsehen sah es so aus, als würde der blaue Stein leuchten, nur ein kleines Bisschen, doch er leuchtete, Sophie griff danach und hielt die Kette in ihrer Hand.


    „Was ist das?“, fragte sie nachdenklich und betrachtete die Kette genauer. Sie konnte nichts ungewöhnliches entdecken, keine Inschrift oder Ähnliches, nur den leuchtenden, tropfenförmigen Stein an der silbernen Kette, der sie an eine Träne erinnerte. Inzwischen hatte Sophie ihre Puppe zur Seite gelegt und öffnete den kleinen Verschluss der silbernen Kette. Vorsichtig legte sie sich die Kette um den Hals und betrachtete sich im trüben Licht einer Kerze im Spiegel ihrer Mutter. Das Leuchten des Steins war wieder verschwunden, vielleicht hatte sie sich das ja auch nur eingebildet oder es war eine Lichttäuschung gewesen.


    „Mutter hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich mir die Kette ausleihe, oder was meinst du?“, fragte das kleine Mädchen zu ihrer Puppe gewandt, nahm Becky auf den Arm und ging wieder in ihr Zimmer zurück, „Ich glaube, ich habe in meiner Geheimkiste noch ein kleines Silberkettchen, das ich dir geben kann, Becky...“


    Am nächsten Tag bemerkte Sophies Mutter am Frühstückstisch die Kette, die ihre Tochter trug und sah sie verwundert an.


    „Wo hast du denn diese Kette her, Sophie... warst du wieder an meinem Frisiertisch?“, fragte die Mutter und reichte ihrem Mann eine mit Butter bestrichene Scheibe Brot. Das kleine Mädchen nickte eifrig.


    „Ja, tut mir leid, dass ich dich nicht gefragt habe, aber ich habe etwas für Becky gesucht und da habe ich die Kette gefunden. Du trägst sie doch nie, darf ich sie haben?“, fragte das Mädchen und sah ihre Mutter mit bittenden Augen an. Die junge Frau lächelte sanft und nickte anschließend.


    „Natürlich, meine Kleine, aber pass ja gut darauf auf, ja? Diese Kette gehörte meiner Schwester, als sie noch ein kleines Mädchen war...“, plötzlich war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden und ein trauriger Blick an dessen Stelle getreten.


    „Du hast eine Schwester? Das wusste ich ja gar nicht? Wo lebt sie denn?“, fragte das Mädchen neugierig, ihre Mutter sah sie traurig an.


    „Als ich klein war, besaßen meine Schwester und ich beide eine solche Kette...“, meinte die junge Frau und griff zaghaft nach dem blauen Anhänger, „Ihre war diese hier, mit dem blauen Stein, ich hatte eine Kette mit violettem Stein. An einem Tag tauschten wir die Ketten, einfach nur zum Spaß. Als wir dann mit den anderen Kindern im Wald Verstecken spielten, verschwand sie plötzlich spurlos...“, meinte die junge Frau, ihre Tochter und ihr Mann sahen sie mitleidvoll an.


    „Ist sie denn nicht wieder aufgetaucht?“, fragte Sophie aufgeregt. Ihre Mutter schüttelte den Kopf und schloss die Augen.


    „Nein... nie wieder...“, meinte sie traurig, wischte sich eine einzelne Träne aus den Augen, „Leider ist sie nie wieder aufgetaucht, obwohl das ganze Dorf nach ihr suchte haben wir sie nicht wieder gefunden... „
    Sophie schniefte leise: „Das ist traurig...“


    „Aber Sophie! Deswegen musst du doch nicht weinen!“, lächelte ihre Mutter und strich ihr durchs dunkelbraune Haar, „Ich habe mit diesem blauen Stein ein schönes Andenken an sie. Immer wenn ich sie vermisse nehme ich den Stein in meine Hand und bete für sie. Pass mir ja gut auf die Kette auf, ja?“ Sophie nickte.


    „So und jetzt lass uns gehen, ich muss wieder zur Arbeit!“, meinte die junge Frau schließlich, als sie den Tisch abräumte und sich von ihrem Mann verabschiedete. Sie band sich ihre Arbeitsschürze um und hob den Weidenkorb mit dem Messer auf, den sie neben der Türe stehen gelassen hatte. Sophie gab ihrem Vater noch einen Abschiedskuss, folgte ihrer Mutter und zusammen verließen sie das Haus um sich mit den anderen wieder auf den Weg zum Feld zu machen.

    dancing through the clouds... dreaming with the sky...


    :lesend Ulrike Schweikert - Dracas

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  • Die Stimme aus dem Brunnen (Teil 2)



    Auf dem Nachhauseweg hörte Sophie wieder dieses klägliche Weinen vom Brunnen, dieses Mal noch lauter als sonst und bereits als der Brunnen noch nicht einmal in ihrem Blickfeld war. Die Sonne war bereits untergegangen und die jüngeren Kinder ließen sich von ihren Müttern tragen. Die kleinen Jungs hingegen spielten die starken Männer und trugen stolz die mit weißen Rosen bis zum Rand gefüllten Weidenkörbe für ihre Mütter. Sophie ging neben ihrer Mutter her, als sie den Brunnen erblickte und neugierig hinüber blickte. Dort saß ein kleines Mädchen mit langen, dunkelbraunen Haaren und einem weißen Sommerkleidchen kauernd am Brunnenrand und vergoss verzweifelt Tränen. Sophie sah das kleine Mädchen voller Mitleid an. Das Mädchen musste in ihrem Alter sein, sie sah ihr sogar ein bisschen ähnlich, ihre Haare hatten die selbe Farbe wie ihre eigenen.


    „Wer ist das, Mama?“, fragte Sophie und zupfte ihre Mutter am Saum ihrer Schürze.


    „Wen meinst du?“, entgegnete die junge Frau und blickte ihre Tochter verwundert an.


    „Na das kleine Mädchen da am Brunnen!“, antwortete Sophie und zeigte mit ihrer Hand in die Richtung des Brunnens.


    „Sophie, ich sehe niemanden...“, antwortete ihre Mutter leise und sah ihr Kind besorgt an. Ihre Tochter lief plötzlich los, zum Brunnen, erschrocken lief ihre Mutter ihr nach.


    „Aber sieh doch, da sitzt sie! Und sie weint!“, meinte Sophie und stützte sich am Rande des Brunnens ab, das weinende Mädchen saß ihr gegenüber auf der anderen Seite des Brunnens. Warum tat ihre Mutter so, als könne sie das Mädchen nicht sehen?


    „Sophie, hör auf damit!“, meinte ihre Mutter aufgebracht, „Langsam machst du mir Angst, da ist niemand!“


    „Das ist nicht wahr!“, wehrte sich Sophie. Das kleine Mädchen hatte inzwischen ihren Kopf angehoben und sah Sophie aus traurigen, tränennassen Augen an.


    „Maria?“, fragte das kleine Mädchen mit leiser Stimme. Sophie sah sie verwundert an.


    „’Maria’?“, wiederholte sie verwirrt.


    „Seit wann nennst du mich beim Vornamen?“, meinte ihre Mutter plötzlich aufgebracht und schnappte nach der Hand ihrer kleinen Tochter.


    „Was? Nein... das...“, protestierte das Mädchen, konnte ihren Satz jedoch nicht zu Ende bringen, denn ihre Mutter zog sie mit sich, weg vom Brunnen. Das Mädchen in dem weißen Kleid streckte verzweifelt ihre Hände nach Sophie aus. Konnte wirklich niemand außer ihr dieses weinende Mädchen sehen?


    „Hör doch endlich auf mit diesen Hirngespinsten! Da ist niemand! Niemand außer dir sieht oder hört hier ein weinendes Mädchen, findest du das nicht seltsam?! Das ganze Dorf redet schon davon, du seihst verrückt, willst du, dass die Leute dich für verrückt halten? Also hör auf, solchen Unsinn zu erzählen!“, mittlerweile schrie ihre Mutter beinahe. Sie wollte nicht glauben, dass ihre Tochter so etwas sagte. Sie war doch nicht verrückt! Warum sah sie auf einmal Dinge, die nicht da waren? Tränen stiegen in ihre Augen, hoffentlich war ihre Tochter nicht krank! Ihre Familie hatte schon so viel mitmachen müssen, eine geisteskranke Tochter war das Letzte, das sie noch brauchen konnte. Vielleicht log ihre Tochter ja auch einfach nur, erfand diese Geschichte mit dem Mädchen, das niemand außer ihr sehen konnte, doch warum sollte sie das tun? Verzweifelt lief die junge Frau mit Sophie an der Hand nach Hause, flüchtete vor den mitleidvollen und lästernden Blicken der anderen Frauen, die sich in ihre Haut zu brennen schienen.
    Als Sophie sich noch einmal umdrehte, um nach dem kleinen Mädchen zu sehen, war sie verschwunden. Dort saß kein Mädchen mehr und sie hörte auch niemanden mehr weinen. Vielleicht war das Mädchen in den Wald gegangen...


    In der selben Nacht lag Sophie stundenlang wach. Sie konnte einfach nicht einschlafen, immer und immer wieder drehten sich ihre Gedanken um das weinende Mädchen und hielten sie vom Schlafen ab. Wieso weinte das Mädchen nur die ganze Zeit? Warum war sie so traurig? Wieso konnte nur sie dieses Mädchen sehen? Und warum hatte das Mädchen sie ‚Maria’ genannt? Kannte sie ihre Mutter? Sophie wusste, wenn sie der Sache nicht auf den Grund gehen würde, würde sie nie wieder schlafen können, sie musste Antworten auf ihre Fragen bekommen, egal wie.
    Und deshalb beschloss das kleine Mädchen, noch in der selben Nacht das Geheimnis zu lüften. Entschlossen warf sie die Bettdecke zurück und kletterte aus dem Bett. Sie zog sich ihre Schuhe an und verließ leise, darauf bedacht, ihre Eltern nicht zu wecken das Haus, nur mit einer Kerze als Wegweißer und ihrer Kette um den Hals, auf den Weg zum Brunnen.
    Draußen war es kalt. Der Wind pfiff durch die Bäume und ließ die Blätter und das etwa Knöchel hohe Gras rauschen. Vorsichtig hielt Sophie eine Hand vor die Flamme der Kerze um sie vorm Erlischen zu bewahren. Schließlich hatte sie sich durch das schlafende Dorf geschlichen und die Dorfgrenze überquert, auf dem steinigen Feldweg ging sie zum Brunnen, der nur ein paar Meter außerhalb des Dorfes war.


    Dort angekommen wurde sie auch schon erwartet. Das kleine Mädchen war wieder da, wieder saß sie in ihrem weißen Kleid am Rande des Brunnens und hatte das Gesicht in ihren Händen vergraben, weinte. Sie wirkte blass, beinahe weiß, ihre Haut hatte fast dieselbe Farbe wie der Stoff ihres Leinenkleidchens und Sophie kam es so vor, als würde der Körper des kleinen Mädchens in Weiß hell strahlen. Das musste das Licht des Mondes sein, der kugelrund am Himmelszelt stand und die Umgebung in ein leichtes Grau tauchte, jedenfalls dachte sie das zu Anfang. Als sich Sophie dem Brunnen näherte, blickte das kleine Mädchen plötzlich hoch, sah Sophie überrascht an.


    „Maria! Da bist du ja! Warum bist du nicht gekommen? Ich warte schon so lange hier auf dich! Ich muss dir etwas sagen!“, meinte das kleine Mädchen verzweifelt und sah Sophie aufgeregt an. Ihre Tränen liefen über ihre Wange, das kleine Mädchen weinte immer noch bitterlich und wollte sich nicht beruhigen.


    „Ich... ich bin nicht Maria... mein Name ist Sophie!“, meinte sie leise und senkte den Kopf. Das Schluchzen des in Weiß gekleideten Mädchens verstummte augenblicklich.


    „Was? Aber du siehst doch genauso aus wie Maria!“, entgegnete das Mädchen enttäuscht und strich sich hastig eine ihrer langen dunkelbraunen Haarsträhnen hinters Ohr.


    „Meine Mutter heißt Maria...“, meinte Sophie plötzlich, sie wusste selbst nicht genau, warum sie das gesagt hatte, doch sie hatte das Gefühl, dass das Mädchen das wissen sollte. Etwas verdutzt sah das kleine Mädchen sie an, schien zu überlegen. Schließlich fragte sie zögernd, welches Jahr man gerade schrieb, als Sophie ihr antwortete, wirkte das kleine Mädchen bestürzt.


    „Aber wie ist das möglich? So viel Zeit ist schon vergangen?... Dann muss ich dich wohl verwechselt haben, tut mir leid! Also... du bist Marias Tochter?“, fragte das kleine Mädchen nachdenklich. Sophie nickte. Das Mädchen in dem weißen Kleid lächelte und wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht, „Na so was, du siehst genauso aus wie sie!“


    „Woher kennst du meine Mutter? Und was möchtest du ihr sagen?“, fragte Sophie schließlich neugierig und stellte den Kerzenhalter am Rande des Brunnens ab. Das Mädchen lächelte sie nur an. „Bist du vielleicht... ein Geist?“


    „Ich bin Anna. Ich möchte deiner Mutter etwas geben, würdest du es für sie mitnehmen?“, meinte das Mädchen schließlich ohne auf Sophies letzte Frage einzugehen. Natürlich erklärte Sophie sich damit einverstanden.


    „Dann komm mit!“, meinte das Mädchen, schwang ihre Füße über den Brunnenrand. Als ihre weiße Haut das Wasser berührte, blieb es ganz still. Kein Plätschern war zu hören, keine Kreise zogen sich über das Wasser, das Mädchen glitt einfach so durch die Wasseroberfläche, ohne dass das Wasser auch nur eine einzige Reaktion zeigte. Es war, als wäre sie gar nicht da. Sophie blinzelte und rieb sich kurz die Augen. Das kleine Mädchen war seltsam, sie konnte kein normaler Mensch sein. Vielleicht war sie wirklich ein Geist. Doch wieso hatte Sophie dann keine Angst vor ihr?


    „Na los, jetzt komm schon!“, meinte das weiße Mädchen, als es seinen Kopf wieder aus dem Wasser streckte, die Wasseroberfläche schien unberührt und spiegelte nur das weiße Licht des Vollmondes und der Sterne wider.


    „Wie, du meinst, ins Wasser?“, fragte Sophie verdutzt, das Mädchen nickte, „Natürlich! Du musst etwas von dort unten holen! Bitte... Ich schaffe es nicht, es hochzuheben!“, meinte das Mädchen etwas verzweifelt.


    Sophie zögerte und warf einen unsicheren Blick ins Wasser. Ihre Mutter hatte sie vor dem Brunnen gewarnt, sie wusste nicht, wie tief er war und das Wasser musste eiskalt sein. Sophie konnte nicht da hineinsteigen, sie konnte doch nicht schwimmen!


    „Ich kann nicht schwimmen!“, meinte Sophie und blickte das Mädchen entschuldigend an.


    „Was? Aber das macht doch nichts! Ich helfe dir!“, antwortete das Mädchen, streckte ihre Hände aus dem Wasser und griff nach Sophie, zog sie vom Rand des Brunnens ins Wasser, Sophie bekam Panik, schrie verzweifelt und strampelte mit den Füßen und Händen, um das Mädchen abzuschütteln, doch nichts half. Das Mädchen lächelte sie nur weiter an und zerrte an ihren Füßen, tauchte unter und zog Sophie mit sich. Sie konnte gerade noch einmal tief Luft holen bevor sie mit einem lauten Platsch die Wasseroberfläche durchstieß und vollkommen in das kalte Nass eintauchte. Verzweifelt kniff Sophie die Augen zusammen, hielt die Luft an. Um sie herum war es kalt, eiskalt. Etwas zog sie immer weiter nach unten, als sie die Augen vorsichtig öffnete konnte sie sehen, dass das Mädchen, Anna, sie immer noch am Bein festhielt und in die Tiefe des dunklen Brunnens zerrte. Ja, Anna hielt sie fest, so sah es zumindest aus, spüren konnte sie ihre Hände jedoch nicht. Verzweifelt versuchte sie, sich mit ihren Händen nach oben zu kämpfen, der Wasseroberfläche entgegen, doch es gelang ihr nicht. Was hatte das Mädchen bloß vor? Jetzt hatte Sophie Angst bekommen, was, wenn sie ertrank? Wollte das Geistermädchen sie vielleicht töten?


    „Hab keine Angst!“, hörte Sophie plötzlich Annas Stimme in ihrem Kopf, das Mädchen jedoch bewegte seine Lippen nicht, „Ich passe schon auf dich auf!“
    Schließlich hörte Sophie auf, sich zu wehren und gab auf. Irgendetwas in ihr verriet ihr, dass sie dem Mädchen vertrauen konnte. Sie griff nach dem blauen Stein an ihrer silbernen Halskette und schloss den Anhänger in ihre Hände. Er würde sie beschützen...


    Es dauerte nicht lange, bis Sophie wieder Boden unter ihren Füßen spüren konnte, alles um sie herum war dunkel, pechschwarz wie die Nacht, nur Anna, die neben ihr stand und die beiden am Grund des Brunnens festhielt leuchtete in strahlendem Weiß. Spätestens jetzt war sich Sophie sicher, dass es sich bei dem Mädchen um einen Geist handelte. Doch das Mädchen schien keine bösen Absichten zu haben, das konnte Sophie spüren.
    Plötzlich hob Anna eine Hand und deutete zum Grund des Bodens. Sophie folgte ihrer Hand mit ihrem Blick und entdeckte schließlich ein kleines, unscheinbares Funkeln vor ihren Füßen.


    „Was ist das?“, fragte sich Sophie in Gedanken und unerwartete Weise bekam sie eine Antwort von Anna, die in ihrem Kopf zu sprechen schien.

  • Die Stimme aus dem Brunnen (Teil 3)



    „Ich habe es verloren, als ich einmal am Brunnen gespielt habe. Es gehört nicht mir, es gehört Maria! Ich habe nicht aufgepasst und so ist es mir ins Wasser gefallen. Ich wollte es noch zurückholen, doch dann fiel ich ins Wasser... ich konnte nicht schwimmen...“


    Sophie bückte sich und griff nach dem funkelnden Gegenstand.


    „Ich muss nach oben...“, dachte sie, langsam aber sicher wurde ihre Luft knapp. Sofort reagierte Anna, stieß sich vom Boden ab, Sophies Hand in ihrer und schwamm flink wie ein Fisch wieder zurück zur Wasseroberfläche. Sophie tauchte auf und rang nach Luft, kletterte am Brunnenrand wieder nach oben. Der eisige Wind pfiff ihr um die Ohren, sie fror erbärmlich in ihrem nassen Nachtgewand und mit ihren nassen Haaren. Sie setzte sich neben ihre abgestellte Kerze auf die kalte Steinmauer und atmete tief durch, Anna stieg neben ihr aus dem Wasser, sie schien kein bisschen nass zu sein.


    „Ich danke dir!“, meinte das kleine Mädchen und lächelte Sophie an. Diese hielt ihre geballte Faust näher an das Licht der Kerze, öffnete ihre Hand und betrachtete den funkelnden Gegenstand, den sie gerade vom Grund des Brunnens heraufgeholt hatte. Plötzlich stockte ihr der Atem. In ihren Händen hielt sie einen Anhänger, der an einer silbernen Kette befestigt war. Einen tropfenförmigen, leicht leuchtenden Anhänger, genau denselben, den auch sie um ihren Hals trug, nur in Violett. Verdutzt drehte sich das Mädchen zu Anna um, die sie immer noch dankbar anlächelte.


    „Aber... das ist doch...“, stotterte sie und starrte das Mädchen neben sich verwundert an.


    „Ich habe lange darauf gewartet, es wieder zu bekommen... Das gehört Maria... wärst du so nett, es ihr wieder zu geben? Bitte sag ihr von mir, dass es mir leid tut, dass ich nicht besser darauf aufgepasst habe, ja?“, meinte Anna schließlich und kletterte vom Brunnenrand, stellte sich ins Gras, ihr Körper war immer noch von diesem weißen Leuchten umgeben.
    Sophie starrte sie nur ungläubig an. Sie wusste, wen sie vor sich hatte, doch sie konnte es einfach nicht glauben. Etwas verwirrt nickte sie.


    „Ja... natürlich...“, antwortete sie leise.


    „Vielen Dank! Du hast mir wirklich sehr geholfen! Du bist ein sehr nettes Mädchen!“, antwortete das Geistermädchen freundlich, „Ich hoffe, ich habe dir vorhin keinen all zu großen Schrecken eingejagt! Also gut, dann kann ich ja jetzt beruhigt gehen...“


    Das kleine Mädchen lächelte Sophie an, „Noch einmal Vielen Dank!“


    Mit diesen Worten drehte sie sich um und steuerte auf den Wald zu. Plötzlich fiel Sophie etwas ein, sie sprang auf und lief dem Mädchen hinterher.


    „Warte noch einen Moment!“, das Mädchen blieb stehen und drehte sich um, wartete, bis Sophie vor ihr zu Halt kam. Sophie hob beide Hände und hantierte am Verschluss ihrer Kette herum, „Ich glaube, ich habe hier noch etwas, das dir gehört!“, meinte sie und nahm schließlich die Kette mit dem blauen Anhänger ab. Sie deutete Anna, ihre Hand auszustrecken und ließ den Anhänger mit Kette in ihre Hand fallen, auf wundersame Weise erstrahlte der Anhänger in seinem schönsten Blau, freudig nahm das Geistermädchen die Kette und legte sie sich um den Hals.


    „Vielen Dank! Und grüß meine Schwester!“, meinte sie noch, dann drehte sie sich wieder um und ging auf den Wald zu. Sophie blieb einfach stehen und blickte dem Mädchen hinterher. Und noch bevor sie im Dickicht des Waldes verschwinden konnte, verblasste Annas Körper und verschwand. Sophie lächelte, strich sich ihre nassen Haare aus dem Gesicht und blickte auf den violetten Anhänger in ihrer Hand, den sie am nächsten Morgen ihrer Mutter geben würde. Der kalte Nachtwind legte sich um sie, ließ sie erzittern, doch das Mädchen war froh. Sie wusste, dass sie von nun an kein weinendes Mädchen mehr am Brunnen hören würde, das Getratsche im Dorf um das verrückte Kind würde aufhören, denn die kleine Anna hatte nach so vielen Jahren nun endlich ihren Seelenfrieden gefunden.



    „Habt ihr schon gehört? Im Wald soll es ein Haus geben, in dem es spuckt!“, lautete ein Gerücht, das sich Jahre später an einem warmen Frühlingstag im Dorf verbreitete.


    „Nein, wirklich?“


    „Lasst uns doch mal vorbeischauen, vielleicht können wir ja jemandem helfen!“, meinte ein braunhaariges, junges Mädchen mit einem Korb frisch gepflückter, weißer Rosen auf dem Arm.


    „Aber dort lebt doch niemand!“, widersprach eine ihrer Freundinnen.
    „Ach, wirklich? Woher willst du das wissen?“


    „Was redest du da? Du glaubst doch nicht etwa an Geister, oder Sophie?“


    Das junge Mädchen blickte zur Seite, ihre Mutter stand neben ihr und pflückte ein paar Rosen. Ihr langes Haar wehte im Wind. Um ihren Hals trug die Frau eine silberne Kette, die von einem violetten, tropfenförmiger Anhänger geziert wurde. Sophie lächelte.


    „Doch, natürlich!“



    Ende