'Der Krüppelmacher' - Seiten 396 - Ende

  • Da ja sonst anscheinend noch keiner so weit ist, poste ich hier schonmal, bei den anderen Abschnitten, die ich gestern im Galopp gelesen habe, weiß ich nicht mehr genau, bis wohin sie gingen.


    Eins fällt mir auf: Lisa spielt eher nur eine Nebenrolle, durch ihren Tod kommt Matthäus zu dem Entschluss, Jiska nicht zu verkrüppeln...


    Ich denke, daß das die Stelle ist, die Günter ansprach, bezüglich der Glaubwürdigkeit von Matthäus. Ich gebe zu, daß ich hier meine Schwierigkeiten habe. Ich nehme Matthäus alles ab, seine blinde Liebe, seine Verschwendungssucht, seine Pferdeliebe, all die Eseleien, die er begeht, aber warum er ausgerechnet im Angesicht dieses sterbenden Mädchens seine Meinung ändert, kann ich nicht 100%ig nachvollziehen. Leider. Ich habe zwar noch nicht ganz zu Ende gelesen, mir fehlen noch 50 Seiten, die letzten Entscheidungen sind noch nicht gefallen, aber ich habe irgendwie das Gefühl, daß diese Haltung von Matthäus "falsch" ist, daß man sie ihm nicht abnimmt.


    Ob und wenn ja welche Entwicklung noch folgt, werde ich ja heute abend sehen, wenn ich den Rest "verschlinge"


    Hat sonst noch jemand das Buch beendet? Bouquineuier, bei Deiner Rezi klang etwas ähnliches an, was hälst Du davon?

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Ich hatte mit diesem plötzlichen Sinneswandel auch Probleme. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, dessen ganzes Universum sich um sich selbst dreht, angesichts einer so kurzen Situation plötzlich seine komplette Einstellung ändert. Ich weiß, dass auch kurze Augenblicke prägend sein können, aber einer Type wie Matthäus nehme ich den Wandel nicht ab.

  • Matthäus Meinungsänderung bezieht sich hier ja explizit darauf, daß er sich weigert, jemanden gegen seinen Willen zu verkrüppeln. Diejenigen, die zuvor kamen, waren ja alle auf ihn angewiesen und wollten es so, während die Mädchen gezwungen wurden.


    Vielleicht liegt dort der Unterschied, allerdings finde ich dies immer noch nicht als ausreichende Begründung für den Sinneswandel.


    Ich bin gespannt, was die anderen Eulen und auch Günter dazu sagen.

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  • Dieser Augenblick, in dem Lisa stirbt, ist ein Auslöser. Zuerst, wie Caia sagt, nur dafür, sich zu verweigern. Dann aber, im Anschluss, wird tatsächlich ein Umdenkungsprozess in Gang gesetzt. Etwas Verschüttetes in seinem Innern wird wiedererweckt. Es gibt diese kurzen, prägenden Augenblicke, die einem Weckruf gleichen und die Persönlichkeitsveränderungen hervorrufen, ich habe sie selbst erlebt. Ich wollte darstellen, dass die Kraft, die Lisa selbst noch im Tod hat, ihm selbst Kraft gibt, aus seiner Situation der Lethargie und der Sinnlosigkeit hinauszufinden - wie ein Licht in der Finsternis. Lisas selbstbestimmter Befreiungsakt wird zu einem Vorbild für Matthäus, sich selbst aus den Fesseln seiner Kraftlosigkeit zu befreien, ohne dass er sich dessen wirklich bewusst ist.


    Zuerst äußert sich das ja tatsächlich nur darin, dass er sich weigert, Jiska zu verkrüppeln (was übrigens in der Tat erstmals eine Verkrüppelung gegen den Willen der zu Verkrüppelnden wäre). Daraus entwickelt sich aber langsam die Erkenntnis des Matthäus, dass es an der Zeit ist, endlich Verantwortung zu übernehmen. Zuerst für sich, dann für andere. Eine Entwicklung, die später auch Judith instinktiv in diesem Mann spürt.


    Das Bettelmädchen wird so zu einem Bild, einem Symbol - denn Matthäus hat sich zwar sinn- und ziellos durch sein Leben treiben lassen, aber zugleich war er immer einer, der nach Sinn und Ziel suchte (siehe das Verlassen es Elternhauses, seine traurige Liebe zu Sophie, seine Gier nach Anerkennung in der Gesellschaft). Vielleicht ohne es zu wissen.


    Ich möchte darüber hinaus noch anmerken, dass der mittelalterliche Mensch in sehr großem Maß von gefühlsmäßiger Sprunghaftigkeit geprägt war. Symbole waren für ihn von existentieller Bedeutung. Ein Blitzeinschlag in der Nähe - und schon wurde das ganze Leben umgekrempelt. Lisas Todesblick war für Matthäus dieser Blitzeinschlag.

  • Zitat

    Original von Caia
    Ich bin gespannt, was die anderen Eulen und auch Günter dazu sagen.


    Mich hat das jetzt nicht so gestört, war ich doch im Gegenteil ganz froh, dass er Jiska nicht verstümmelt hat-


    Was mich persönlich gestört hat, dass Lisa sterben musste, da komme ich gar nicht drüber hinweg.
    Sorry, aber ich finde sie hätte das Ende verdient, dass nun Jiska bei Matthäus bekommt. Ich hätte persönlich lieber lesen wollen, wenn Günther die beiden Rollen getauscht hätte.

    to handle yourself, use your head, to handle others, use your heart
    SUB 15
    _______________________________________________________
    :kuh:lesend

  • Für mich fühlt sich das "richtig" an, Lisa war immer die Stärkere von den beiden Mädchen. Jiska hätte ich den Schritt des Selbstmordes nicht zugetraut, dafür war sie zu brav und gehorsam, während Lisas Tat für mich durchaus stimming in ihren Charakter paßt.

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  • Zitat

    Original von Salimbene
    Na, ganz klar ist das Buch auch die Beschreibung einer tiefen Sinnkrise im mittleren Lebensabschnitt eines Mannes. Orientierungslos stolpert Matthäus durch ein immer strukturloser werdendes Leben, fast nur noch triebbestimmt. Er agiert nicht, reagiert nur noch. Sein Blick für die Realität ist verstellt. Er fühlt nur noch eine tiefe Leere in sich, die er z.B. mit dem Kauf des Roten Kleides zu füllen versucht.


    Ich nehm das mal in den letzten Abschnitt :-)


    Das war einer der Punkte, mit denen ich mich schwer getan habe. Zum einen spricht Matthäus von der Liebe, war noch nie so verliebt etc. und dann behandelt er Mirjam am Ende doch wie eine ganz gewöhnliche Hure und gibt ihr Geld, damit sie ihn ranlässt. Das hat mich abgestoßen und war für mich nicht nachvollziehbar. Ab da hatte er er für mich eigentlich ganz verloren.


    Mir war er zu jömelig (jammerig). Vielleicht merkt man daran, dass er ein Immi ist ;-)
    Der Kölner an sich ist gelassener, was er nicht ändern kann, nimmt der Kölner hin und jammert nicht drüber. Er kann eh nichts dran ändern. :grin


    Kölsches Grundgesetz

  • Bouquineur
    In der Tat ist Matthäus ein Immi, das ist eine der Konstanten seines Lebens: Das Gefühl, in Köln nicht akzeptiert zu werden, vergeblich nach Anerkennung zu suchen. Er hat das Gefühl, niemals wirklich heimisch sein zu können in dieser Stadt.


    Dass Matthäus bei der Bademagd von der "großen Liebe" schwadroniert, ist ein zentraler Teil seines Selbstbetrugs. Diese vermeintliche große Liebe ist eine krankhafte Obsession. Der letzte, schmerzhafte Versuch, seinem Leben Sinn zu geben. Wirkliche Liebe ist das nicht. Das erweist sich natürlich auch in der Tatsache, dass er sich diese "Liebe" zum Schluss mit Geld erkauft. Das mag abstoßend sein, aber es ist für mich eigentlich eher armselig und bemitleidenswert, folgerichtiger Höhepunkt der Sinnkrise im Leben unseres Protagonisten.


    Unter diesem Blickwinkel ist es - glaube ich - auch gut erklärbar, dass sich diese wahnhafte Liebe nach dem Tod der Bademagd wie Rauch im Wind im Nichts auflöst.

  • Das Judith ausgerechnet ihm, der nie in seinem Leben sein Geld beisammen halten konnte, das Amt als Kastellan und Stellvertreter gibt, scheint mir eher ein Verzweiflungsakt zu sein, und daran zu liegen, dass sie sonst niemanden kennt.
    Aber ich frag mich noch immer, ob er bei dem ganzen neu gewonnenen Selbstwertgefühl nicht doch noch einen Rückfall erleidet.
    Kann aber sein, dass ihm das erste mal in seinem Leben jemand etwas zutraut, und dass ihn das anspornt, wirklich gut zu arbeiten. Auch hat er jetzt jemanden, für den er arbeiten kann: Jiska, die er adoptiert hat. Ausserdem, da Miriam ja wegen ihm umgebracht wurde, wäre es wohl nur anständig, sich um ihr Kleinkind zu kümmern. So vertrottelt, dass er das nicht überrissen hat, kann ein Mann gar nicht sein.


    Ausserdem frag ich mich noch immer, wer vor Matthäus beim Geldhändler war. Eigentlich müsste der alte Abraham die Jüdin Miriam gekannt haben, Seine Frau und ihre Freundinnen haben sich sicher das Maul über die abtrünnige spanische Volksgenossin zerrissen, die sich im Badehaus prostituiert; da ist sicher im Sippenverband nachgefragt worden, wer das ist, von wo sie kommt, mit wem sie verwandt ist. Wenn sie in Spanien Schande über die Familie gebracht hat, kann sogar sein, dass sie als Schwangere zu entfernten Verwandten geschickt wurde, und das hat sie sich sicher nicht bieten lassen, und ist bei der ersten Möglichkeit aus der Schutzhaft ihrer Anverwandten abgehauen, um sich selbst irgendwie durchzubringen.


    Momolo lässt das mit Jiska sicher nicht auf sich sitzen: Jiska war sein Spielzeug, und der Stellvertreter des Capitano klaut sie ihm... der wird garantiert sauer werden. Das schreit nach Banden-Krieg.

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

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  • Etwas hat mich noch gestört: Niccolo DI Venezia? :gruebel 1396 nennt sich ein venezianischer Kaufmann der etwas auf sich hält und auf seinen Patrizier-Stand anspielt, wahrscheinlich Niccolo DA Venezia, vielleicht ist er nützlich und zufällig Witwer; er passt zu Judith. Er kann sie in sein internationales Handelsimperium einführen, alt genug um vor ihr zu sterben, ist er auch, irgendwie muss das Haus Hirzelin ja endlich zu großem Geld kommen; sogar mit dem Zusatzeinkommen vom Capitano hatte man nicht den Eindruck, dass da besonders viel Geld war; es hat jedenfalls nicht ausgereicht, um sich in die strategischen Machtpositionen der Stadt einzukaufen und auf gute alte - nicht nur italienische Art einen Bravo für Mommersloch zu bestellen, und das ist eher ein Armutszeichen für einen Unterwelts-Capitano...
    Dass dem guten Junker auf einer seiner Nachttouren ein tödlicher Raubüberfall durch Unbekannt passiert, oder dass er stark betrunken im Rhein ertrinkt, dafür hätte ich als Capitano nach dem ersten Auftritt in meiner Schreibstube gesorgt. In die Richtung: 'Wer ist das grad gewesen, Mommersloch? Seine Art gefällt mir nicht, Lauritz. Die Bruderschaft soll dafür sorgen, dass das Mommersloch WAR.'
    Das mit der rechten Hand des Machthabers wäre zwar ein Grund gewesen, einen Mord etwas zu überdenken, aber nicht lange: nach dem zweiten Antrag am Schiff wär die Angelegenheit beschlossen gewesen. :rolleyes Wer meint er, dass er ist? Dass Mommersloch mal weg vom Fenster der Macht ist, wär eine gute Gelegenheit ihn aufzuspüren und endgültig loszuwerden, die Sache mit der Erpressung schreit ja nach Vendetta. Auch den armen, eigentlich traurigen Schreibknecht kann man so nicht davon kommen lassen, genausowenig wie den Abtrünnigen Momolo... Da heisst's für den Stellvertreter des Capitano die Ärmel aufkrempeln. Hoffentlich verpatzen das diese Unterwelts-Amateure nicht wieder... Vielleicht ist dieser Massimo ein geeigneter Mann fürs Grobe - sofern er nicht ein Spion des Momolo ist...


    Es hat mich etwas verwundert, dass Matthäus bei seinem Werdegang nicht längst Rotwelsch kann, das ist ja wohl die Grundvoraussetzung, um in einer Bruderschaft von Bettlern weiter zu kommen, es war ja neben dem Jiddischen die internationale Gaunersprache der Fahrenden. Und als Feldscherer und Troßbegleiter gehörte er ja dazu.

    DC :lesend


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  • Mehrfach empfanden es Leser/innen als unglaubwürdig, dass Judith ausgerechnet Matthäus zu ihrem Stellvertreter im Hause Hirzelin macht. Das muss an dieser Stelle offenbar einmal erläutert werden.
    1. Judith hat nicht das Wissen des Lesers/der Leserin. Sie weiß nichts davon, dass Matthäus ein Versager ist, der in der größten Sinnkrise seines Lebens steckt. Sie muss ihn doch mit ganz anderen Augen sehen! Folgende Tatsachen, Matthäus betreffend, sind ihr bekannt: Er ist ein zuverlässiger Erfüllungsgehilfe des Capitano gewesen. In einer Extremsituation (Beseitigung der Hure) hat er funktioniert. Er hat sich aber aus menschlichen Gründen geweigert, Jiska zu verstümmeln - das hat Judith imponiert. Dass er die Marktmeisterschaft verlor, rechnet Judith (nicht zu Unrecht) der Feindschaft durch Mommersloch zu. Dann begegnet sie ihm wieder als ihrem Befreier aus dem Kerker. Ohne seine alchimistischen Fähigkeiten wäre sie dem Tode geweiht. Auf der gemeinsamen Flucht erweist er sich als verlässlicher Partner. Das ist ein Bild von Matthäus, dass grundlegend verschieden ist von dem Bild, das die Leser im Verlaufe des Buches von Matthäus gewonnen haben.
    2. Judith hat keine andere Wahl. Sie weiß nicht, wie die Kölnischen Unruhen enden. Wird es sein wie bei der Weberschlacht, fünfundzwanzig Jahre zuvor? Mit Straßenkämpfen, Toten, Terror? Um ihren Sohn zu schützen, muss sie sofort fliehen. Aber wem kann sie vertrauen? Es muss jemand sein, der um die dunklen Hintergründe des Hauses Hirzelin weiß. Und er muss sofort zur Verfügung stehen - Judith kann nicht lange suchen. Und da kommen nur der Hauptmann Lauritz und eben Matthäus in Frage. Und Lauritz will diese Rolle nicht.
    3. Matthäus gehört als Kaufmann und Apotheker zur bürgerlichen Mittelschicht; er hat einen ehrenhaften Beruf und eine akzeptable Stellung im Gesellschaftsgefüge der Stadt Köln und kommt auch insofern für die Stellung als "Vogt" im Hause Hirzelin in Frage.
    4. In der symbolhaften Zeit des Mittelalters, in der die Handlung der Menschen maßgeblich durch Vorzeichen und Sinnbilder bestimmt wurde, muss sich Matthäus alleine schon durch die Art und Weise, wie er in ihr Leben getreten ist, als der Mann aufdrängen, dem sie ihr Haus anvertrauen wird. Die Vorzeichen deuten auf ihn, auf niemand anderen.