'Phantastische Erzählungen' - Kapitel "William Wilson"

  • Diese Erzählung hat mir bis jetzt noch am besten gefallen, obwohl ich auch hier ziemlich früh sicher war, in welche Richtung das geht.
    Ich hoffe ihr habt mehr Spaß bzw Grusel an dieser Leserunde.

  • Mich hat der Bericht von William Wilson auch sehr beeindruckt. Schon das vorangestellte Motto verrät ja, um was es dabei, zumindest zum Teil, geht: da macht einer zeitlebens einen Kampf mit sich selbst aus. Und es ist ausgerechnet der hart erkämpfte und schließlich auch errungene Sieg (über sich selbst), der den Erzähler ins Unglück stürzt.


    Die Geschichte ist aber m.E. so angelegt, dass man sie als „Rechenschaftsbericht“ lesen muss, eine Art Verteidigungsschrift (die auch vor Gericht standhalten sollte): Das wird schon im zweiten Absatz sehr deutlich ausgesprochen: „I long, in passing through the dim valley, for the sympathy – I had nearly said for the pity – of my fellow men.“ („Ich sehne mich, bei meiner Wandrung im finstern Tal, nach der Anteilnahme – beinah hätt´ ich gesagt, nach dem Mitleid meiner Mitmenschen. Gern würd ich es sehen, wenn sie glauben könnten, dass ich in gewissem Maße der Sklave von Umständen gewesen bin, die außerhalb menschlicher Kontrolle liegen. [...] Und sterbe ich nicht, als ein Opfer des Grauens & Mysteriums der wildesten aller Visionen unterm Mond?”) Der Erzähler, das ist klar, sieht sich selbst als „Sklave“ seiner Vorstellungswelt, als „Opfer“ einer gewissermaßen höheren Gewalt. Und die Frage ist, ob der Leser ihm diese Version „abkauft“ – um im Bild zu bleiben: müsste einer, der sich so verteidigt, freigesprochen werden?


    Ein wenig misslich ist, dass wir nicht wirklich erfahren, was der „Angeklagte“ so alles auf dem Kerbholz hat: im Text ist ausführlich von Falschspielerei , also Betrug, und von Ehebruch die Rede. Vom Rest gibt´s nur Andeutungen: es soll sich aber um „unverzeihliche Verbrechen“ bzw. „Gipfel der Verworfenheit“ handeln.

  • Dies ist die erste Geschichte von E.A.P. welche ich gelesen habe. Beeindruckt - das hat sie auch mich. Am Anfang hatte ich etwas Probleme mich in den Schreibstil einzufinden, dies legte sich dann aber schnell.

  • Gänsehaut... Vor allem wenn sich am Ende die zahlreichen Mosaiksteine und beiläufig erwähnten Merkwürdigkeiten zu einem Gesamtbild zusammenfügen...


    Einige Anmerkungen zu dieser Geschichte, die sich in meiner Ausgabe befinden, finde ich hochinteressant und möchte sie euch nicht vorenthalten:

    • Bei der Beschreibung der Schulzeit flossen auch autobiographische Aspekte ein: Von 1818-1820 besuchte Poe ein Internat im englischen Stoke Newington, dessen Gebäude im wesentlichen mit denen hier beschriebenen übereinstimmen


    • Oscar Wilde, der Poe sehr schätzte, soll von dieser Geschichte zu seinem Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" inspiriert worden sein
  • Zitat

    Original von milla
    Einige Anmerkungen zu dieser Geschichte, die sich in meiner Ausgabe befinden, finde ich hochinteressant und möchte sie euch nicht vorenthalten:

    • Bei der Beschreibung der Schulzeit flossen auch autobiographische Aspekte ein: Von 1818-1820 besuchte Poe ein Internat im englischen Stoke Newington, dessen Gebäude im wesentlichen mit denen hier beschriebenen übereinstimmen


    • Oscar Wilde, der Poe sehr schätzte, soll von dieser Geschichte zu seinem Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" inspiriert worden sein




    Vielen Dank für die Infos.


    Lieben Gruß


    Beatrice

  • Zitat

    Bei der Beschreibung der Schulzeit flossen auch autobiographische Aspekte ein: Von 1818-1820 besuchte Poe ein Internat im englischen Stoke Newington, dessen Gebäude im wesentlichen mit denen hier beschriebenen übereinstimmen


    Poe hat im Text vermutlich noch weitere Spuren hinterlassen: der Doppelgänger des Erzählers wurde, wie dieser sagt, am 19. Januar 1813 geboren; Poe kam am 19. Januar 1809 in Boston zur Welt. Man muss davon ausgehen, dass zwischen Autor und Ich- Erzähler weitere Gemeinsamkeiten bestehen. Alkohol, Drogen und Glücksspiel waren Poe offenbar nicht fremd. Ob er dabei unter ähnlichen Skrupeln wie die Hauptperson gelitten hat?


    Das Schulgebäude, das Poe hier beschreibt, scheint mir wieder ein wenig mehr als nur der bloße Schauplatz des Geschehens zu sein. Mir sind der gefängnisartige Charakter (Glasscherben auf der Mauerkrone; ein mit eisernen Bolzen versehenes wuchtiges Tor) und die Beschreibung der verschachtelten und verwinkelten (Irr-)Gänge und Räume besonders aufgefallen. Trotz allem klingt in der Poes Worten eine gewisse Sehnsucht nach der Schulzeit durch: die Stadt wird als „traumhaftes und beruhigendes Fleckchen“, das alte Schulgebäude als „verzauberter Palast“ bezeichnet. Mir schien es fast so zu sein, als ob der Erzähler es vorgezogen hätte, zeitlebens ein „Gefangener“ zu bleiben – die wirklichen Schwierigkeiten, von denen die Geschichte handelt, setzen ja auch erst nach der „Entlassung“ aus der Schule in der Beliebigkeit der Studienzeit ein.

  • Zitat

    Original von John Dowland
    Poe hat im Text vermutlich noch weitere Spuren hinterlassen: der Doppelgänger des Erzählers wurde, wie dieser sagt, am 19. Januar 1813 geboren; Poe kam am 19. Januar 1809 in Boston zur Welt. Man muss davon ausgehen, dass zwischen Autor und Ich- Erzähler weitere Gemeinsamkeiten bestehen. Alkohol, Drogen und Glücksspiel waren Poe offenbar nicht fremd. Ob er dabei unter ähnlichen Skrupeln wie die Hauptperson gelitten hat?


    Stimmt, gut, dass die diese Parallelen noch erwähnst! :-) Ich glaube dass jeder Süchtige in "klaren Momenten" mehr oder weniger Skrupel empfindet. Schenkt man dem wikipedia-Artikel Glauben, hatte Poe zwar ein Alkoholproblem, aber offenbar wurde diesem Image auch kräftig nachgeholfen:


    Zitat (Quelle: wikipedia):
    Dass Poe in den USA so nachhaltig verdammt und als zügellos und alkoholabhängig hingestellt wurde, liegt unter anderem an seiner Verfeindung mit den führenden Literaten und Verlagen seiner Zeit, die er immer wieder in bissigen und harten Satiren angegriffen hatte. Sein von ihm selbst bestellter Nachlassverwalter, Rufus Wilmot Griswold, ein konservativer Christ, sorgte dafür, dass sich das Bild Poes als eines trunksüchtigen Sünders in den USA verfestigte.


    Auf jeden Fall scheint er kein langweiliges Leben gehabt zu haben, ich werde mich auf jeden Fall mal nach einer Biographie umsehen :gruebel

  • Zitat

    Original von milla


    Ich glaube dass jeder Süchtige in "klaren Momenten" mehr oder weniger Skrupel empfindet.


    Du hast Recht – Poe wird in klaren Momenten Skrupel empfunden haben. Und nach dem zu urteilen, was wir bisher gelesen haben, können solche klaren Momente nicht die Ausnahme gewesen sein: nach der zehnten Flasche Rotwein entstehen solche Texte nicht (oder ist da jemand anderer Auffassung?)


    Die Frage wäre, ob Poe seine Skrupel (ähnlich wie der Erzähler in William Wilson), gern abgelegt hätte. Ob er es, ebenso wie dieser, als Erleichterung empfunden hätte, von ihnen befreit zu sein... (Wobei mir allerdings der Kern der Geschichte im Aufzeigen dessen zu liegen scheint, wohin solch eine "Befreiung" führt.)


    Zitat

    Original von milla


    Zitat (Quelle: wikipedia): Dass Poe in den USA so nachhaltig verdammt und als zügellos und alkoholabhängig hingestellt wurde, liegt unter anderem an seiner Verfeindung mit den führenden Literaten und Verlagen seiner Zeit, die er immer wieder in bissigen und harten Satiren angegriffen hatte. Sein von ihm selbst bestellter Nachlassverwalter, Rufus Wilmot Griswold, ein konservativer Christ, sorgte dafür, dass sich das Bild Poes als eines trunksüchtigen Sünders in den USA verfestigte.


    Das ist ein spannender Aspekt! Teil´ es doch bitte mit, wenn Du hier weiter fündig wirst!