Der weisse Tiger - Aravind Adiga

  • Verlag C.H.Beck, 2008, gebundene Ausgabe, 319 Seiten


    Originalverlag: Free Press, New York


    OT: The white Tiger
    Übersetzt von Ingo Herzke



    Kurzbeschreibung (Klappentext):


    Balram Halwai ist ein ungewöhnlicher Ich-Erzähler: Diener, Philosoph, Unternehmer, Mörder. Im Verlauf von sieben Nächten und in der Form eines Briefes an den chinesischen Ministerpräsidenten erzählt er uns die schreckliche und zugleich faszinierende Geschichte seines Erfolges - der ihm keineswegs in die Wiege gelegt war. Balram - der "weiße Tiger" - kommt aus einem Dorf im Herzen Indiens. Seine düsteren Zukunftsaussichten hellen sich auf, als er, der klügste Junge im Dorf, als Fahrer für den reichsten Mann am Ort engagiert wird und mit ihm nach Delhi kommt. Hinter dem Steuer eines Honda City entdeckt Balram - und wir mit ihm - eine neue Welt. Balram sieht, wie seinesgleichen, die Diener, aber auch ihre reichen Herren mit ihrer Jagd nach Alkohol, Geld, Mädchen und Macht den Großen Hühnerkäfig der indischen Gesellschaft in Gang halten. Durch Balrams Augen sehen wir das Indien der Kakerlaken und Call Center, der Prostituierten und Gläubigen, der alten Traditionen und der Internetcafés, der Wasserbüffel und des mysteriösen "weißen Tigers".
    Mit seinem ebenso unwiderstehlichen wie unerwarteten Charisma erzählt uns Balram von seiner Flucht aus dem Hühnerkäfig, dem Sklavendasein - eine Flucht, die ohne Blutvergießen nicht möglich ist. Eine Geschichte voller sprühendem Witz, Spannung und fragwürdiger Moral, erzählt in einem unnachahmlichen und fesselnden Ton. Keine Saris, keine exotischen Düfte und Gewürze, keine Tabla-Musik und Maharadschas - dies ist das Indien von heute. Und mehr als das. In seiner Kritik am Sklavendasein ist es ein Angriff der dritten auf die erste Welt. Amoralisch und respektlos, anrührend und absolut zeitnah



    Über den Autor (Quelle: Verlag C.H.Beck):


    Aravind Adiga, wurde 1974 in Madras geboren, wuchs teilweise in Sydney, Australien, auf, studierte englische Literatur an der Columbia University und am Magdalen College in Oxford. Er arbeitete als Korrespondent für die Zeitschrift Time und für die Financial Times.
    Er lebt - ohne Diener - in Mumbai, Indien.
    Sein erster Roman "Der weiße Tiger" erscheint in 16 Ländern und erhält im Oktober 2008 als vierter Debütant den begehrten Booker Prize.



    Meine Meinung:


    Anlass für Balram Halwai seine Lebensgeschichte zu erzählen, ist die Ankündigung, dass der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao das indische Bangalore Besuchen will.
    In sieben Nächten erzählt Balram in einem Brief an Jiabao, wie aus ihm, dem Jungen Munna aus dem Dorf Laxmangarh, der Unternehmer Ashok Sharma aus Bangalore wurde.


    Der Autor lässt uns direkt teilhaben am Indien des 21. Jahrhunderts. Schonungslos, offen, aber mit viel Ironie schildert er die Abgründe, die sich auch im heutigen Indien zwischen Arm und Reich, zwischen "Finsternis" und "Licht" auftuen.
    Die Kasten spielen dabei immer noch eine wichtige Rolle.


    Balram Halwai, geboren in der Kaste der Zuckerbäcker, war eigentlich ein Leben als Diener in einem Teehaus bestimmt. Er tut sich jedoch schon früh als Ausnahme hervor, weil er als Dorfjunge lesen kann (daher der Name 'weisser Tiger', da dieser eine Ausnahmeerscheinung ist). Balram kommt als Fahrer und Diener eines Großgrundbesitzers seiner Region mit dessen jüngerem Sohn Ashok nach Dehli, die Stadt, in der "Finsternis" und "Licht" aufeinander treffen.
    In Dehli lernt Balram schnell, dass man nur durch Korruption und Gewalt ins "Licht" kommen kann. Er befreit sich aus dem "Hühnerkäfig" und steigt in kurzer Zeit vom ausgebeuteten Fahrer zum Chef eines großen Taxiunternehmens in Bangalore auf.


    Adiga erzählt spannend, amüsant und realitätsnah die abenteuerlich anmutende Geschichte von Balram, der auch vor Mord nicht zurückschreckt, um ins "Licht" zu kommen. Ich konnte mich dabei sehr gut in die Gefühle und Gedanken des Aufsteigers Balram hineinversetzen.


    Der Autor liefert trotz vieler Fakten einen lebendigen Roman ab, der ganz auf Handeln und Denken der Protagonisten beruht. Trotz des großen wirtschaftlichen Aufschwunges herrschen in Indien weiterhin Ungerechtigkeit und Ungleichheit.


    Aravind Adiga hat für seinen Debütroman zu Recht den diesjährigen Booker Prize erhalten.


    Auf jeden Fall 10 von 10 Punkten :fingerhoch!

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Ah Sigrid, du warst schneller. :wave


    Meine Meinung: Schon nach wenigen Seiten verstand ich, warum genau dieses Buch diese hohe Auszeichnung bekommen hat – es nimmt den Leser fast sofort gefangen, entführt ihn in ein Indien, dass weitab verklärter Weichzeichnungen der Medien existiert. Hier duftet es nicht nach Räucherstäbchen und man sieht keine in prachtvolle Saris gekleidete Menschen, sondern man lernt die Underdogs kennen – die, die auch heute noch wenig Chancen haben, aus ihrem Kastensystem auszubrechen. Es geht um Korruption, Lügen der Politik und den großen Unterschied zwischen Armen und Reichen - zwischen Herren und ihren Dienern, die wie Sklaven behandelt werden. All das erzählt Balram, der Protagonist dieser so aufregenden Geschichte, freilich ohne sich zu beklagen, sondern mit einer naiven Mischung aus Frechheit, Charme und gewollt unfreiwilliger Komik. Er beschreibt, wie er sich aus der Abhängigkeit zu seinem Herrn befreit hat, und versucht nichts zu beschönigen. Auf unbedarfte Weise plaudert er nicht nur über sein Leben, sondern über alles, was er sieht und denkt.


    Zitat: Der Anblick dieser blonden Ausländerinnen – und sie werden rasch merken, das Bangalore heutzutage voll von ihnen ist – hat mich vielmehr davon überzeugt, dass die Weißen ein Auslaufmodell sind. Sie sehen alle so ausgemergelt aus – so schwächlich. Nie sieht man mal eine mit einem Bauch. Dafür mache ich den amerikanischen Präsidenten verantwortlich: Er hat die Sodomie in seinem Lande gesetzlich erlaubt, und jetzt heiraten Männer anstatt Frauen andere Männer. Das kam im Radio. So etwas führt zum Niedergang der Weißen. Außerdem benutzen Weiße oft ihr Mobiltelefon und zerstören so ihr Gehirn. Das ist eine bekannte Tatsache. Handys verursachen Hirnkrebs und lassen die Männlichkeit schrumpeln. Die Japaner haben sie erfunden, um den Weißen gleichzeitig die Hirne und die Eier auszutrocknen…


    Es macht ungeheuren Spaß, diesem respektlosen und amüsanten Erzähler zu lauschen und ich hätte gern noch mehr von und über ihn erfahren. Fast war ich am Ende etwas enttäuscht, als ich las, dass der Autor der Klasse der Privilegierten angehört und nicht, wie der Held seiner Geschichte, aus der tiefsten Finsternis Indiens stammt. Insgesamt ein absolut rundes Lesevergnügen und ein Buch, dass sich lohnt…

  • Tolles Buch! Der Ich-Erzähler ist ein sympathisches Schlitzohr, der dem chinesischen Premier Wen Jiabao in einem fiktiven Brief über Indien erzählt. Jiabao ist nach Indien gekommen, um die Wahrheit über Bangalore zu erfahren und indische Unternehmer zu treffen. Balram erhählt ihm eine andere Wahrheit, nicht die, die in den Hochglanzbroschüren steht, die man dem Premier ganz sicher mitgeben wird. Er erzählt ihm, wie es dazu kam, dass er seinen Chef umgebracht hat und wie man in Indien Unternehmer wird. Er erzählt seine Geschichte auf eine humorvolle, respektlose Weise und vielleicht wird gerade dadurch die ganze Tragik der Geschichte bewusst.


    Ich freue mich, dass der Autor den Man Booker Prize 2008 gewonnen hat. Ein würdiger Gewinner.


    5 von 5 Amazon-Sternen.


    Ich hab diese englischsprachige Ausgabe gelesen (Das Cover des Buches ist schwarz, Amazon hat wohl ein falsches Bild):
    .

  • Danke für die Rezis, das Buch ist nun auch auf meiner Wunschliste gelandet. Am liebsten würde ich sofort zuschlagen, aber ich versuche ja momentan, mich ein wenig zusammenzureißen, was meine Buchkäufe angeht. :brabbel

  • Richtig - unglaublich tolles Buch ----------------------------


    "Halten Sie hier in Bangalore - und auch in anderen Städten und Dörfern Indiens - die Ohren offen, dann hören Sie die Unruhe, das Gerede, die Drohungen mit Aufstand. Männer sitzen unter Straßenlampen und deuten mit den Fingern zum Himmel. Werden sie alle sich eines Nachts vereinen - und den Hühnerkäfig zerstören?"


    Aravind Adiga beantwortet die Frage - und er beantwortet sie mit "Nein". Indien sei kein Land für Revolutionen, Indien ist das Land für "Reich und Arm", für "Herrscher und Diener", klar strukturiert.
    Balram arbeitet vorerst als 2. Fahrer seines Herrn, entledigt sich des 1. Fahrers und steigt so zu einer Vertrauensperson seines Arbeitgebers auf. Er fährt durch Delhi und es scheint, er fährt durch die ganze Welt. Und er gibt sich nicht zufrieden.


    "Der Dichter Iqbal hatte so recht. Sobald man das Schöne in der Welt sehen kann, hört man auf, Sklave zu sein. (...) Würde man jedem armen Jungen Zeichnen und Malen lehren, es wäre das Ende der Reichen in Indien"


    "Der weiße Tiger" zeichnet ein Bild des Indien von heute. Ein Sittenbild, das Kastensystem tief verwurzelt, Aufstiegschancen nur ohne Moral. Balram lernt von seinem Arbeitgeber, lernt wie man weiterkommt und schreckt auch vor Mord - und damit der Vernichtung seiner eigenen Familie - nicht zurück.
    Dass das Ganze nichtsdestotrotz ein luftiges Stück großer Literatur ohne erhobenen Zeigefinger ist verdankt man dem Autor. Da sollte man sich noch auf Großes gefasst machen.


    "Ich stand also neben dem großen Buchfeld. In der Nähe von Büchern, selbst wenn sie in einer fremden Sprache geschrieben sind, Exzellenz, fühlt man so eine Art elektrischer Spannung in sich aufsteigen. Das passiert einfach..."


    Genau.

  • Ichhabe das Buch gestern an nur einem Tag durchgelesen und war begeistert! :anbet Von der ersten Seite war ich durch die Art des Erzählens in der Geschichte drin und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Ich musste vor allem das ein oder andere Mal doch herzlich lachen beim Lesen, da das Buch einfach sehr amüsant erzählt wird.


    Zitat

    Original von Sigrid2110


    Auf jeden Fall 10 von 10 Punkten :fingerhoch!


    :write
    Da ist Aravind Adiga wirklich ein Volltreffer gelungen! :anbet

  • jetzt werd ich doch sehr neugierig auf das Buch. :-]
    Es liegt auf meinem SUB, aber erst muss ich noch zwei Bücher vorher lesen :
    das eine habe ich ja nun schon angefangen und das andere ist ein Leihbuch -da will ich natürlich nicht allzulange mit warten. :-)


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Ich hab das Buch mittlerweile auch gelesen und vergebe auch volle Punktzahl. Es ist ja eigentlich schon alles zu dem Buch gesagt worden, kann ich alles so unterschreiben. Großartiges Buch, großartig geschrieben, der Autor hat verdienterweise den Booker-Preis bekommen.


    Am liebsten würde ich 100 Sätze draus zitieren, aber ich denke, da muss dann jeder doch selber das Buch lesen. ;-)


    Nochmal ein tolles Highlight zum Jahresende!!

  • Ich habe das Buch vor ein paar Wochen in der von Delphin verlinkten englischen Ausgabe gelesen und war ebenfalls begeistert. Balram ist ein toller Ich-Erzähler, der die, eigentlich alles andere als, lustige Geschichte mit ihren sehr realen Fakten unterhaltsam sarkastisch zu erzählen weiß. Es gibt wirklich unzählige Sätze und Pointen, die man hier zitieren könnte, aber auch ich bin der Meinung, man sollte das Buch unbedingt selbst lesen und den schwarzen Humor genießen!

  • Ah, es freut mich, dass euch beiden das Buch auch so gut gefallen hat! :-)


    Wie habt ihr das eigentlich mit den Briefen empfunden? Durch die Form und den Aufbau des Romans habe ich es schon so empfunden, als würde Balram wirkliche Briefe schreiben. Gestern bin ich aber auf ein Interview mit Adiga gestoßen, in dem er folgendes sagt:


    Zitat

    What made you choose to write an epistolary novel? What makes it work as a vehicle for this particular story?


    This isn't an epistolary novel: there are no real letters involved. The narrator is lying in his small room in Bangalore in the middle of the night, talking out aloud about the story of his life. It's a story he can never tell anyone-because it involves murder-in real life; now he tells it when no one is around. Like all Indians, who are obsessed (a colonial legacy, probably) with the outsider's gaze, he is stimulated to think about his country and society by the imminent arrival of a foreigner, and an important one. So he talks about himself and his country in the solitude of his room.


    http://www.themanbookerprize.com/perspective/articles/1125


    Den einen Satz habe ich fettmarkiert, da er mich doch etwas erstaunt. Wenn das nur ein Selbstgespräch ist, dann hätten die Kapitel auch nicht in Briefform geschrieben werden müssen - meiner Meinung nach.

  • Ich wollte noch sagen, dass ich das Buch auch auf Englisch gelesen habe.


    Und wie Ihr hab ich es als Briefform wahrgenommen... zwar nicht unbedingt Briefe, die er abschickt, aber dass es sich um Selbstgespräche handelt, ist bei mir auch nicht so rüber gekommen :gruebel

  • Ich hatte die Briefe als eine Art Tagebuchführung aufgefasst, wobei dies eben in Briefform geschah, um das sarkastische auch rüberbringen zu können. Würde man als reinen Tagebuchaufschrieb einfach nicht so schreiben. Gerade zu Beginn hat mich das in die Geschichte "gelockt", da gerade der Gedanke daran, dass er diese Dinge wirklich an den Premier schreibt, überaus erheiternd ist. Allerdings relativiert sich das recht bald und eigentlich macht sich der Briefcharakter nur am Anfang eines jeden Kapitels bemerkbar. Es spielt ja dann auch wirklich keine Rolle mehr.

  • Ja, es stimmt schon, dass es danach keine Rolle mehr spielt - ich habe mich ja nur gewundert, warum Adiga diese Form des Briefromans wählt und man (zumindest ich) den Eindruck bekommt, dass Balram auch wirklich Briefe an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao schreibt, wenn das doch eigentlich alles ein Selbstgespräch ist.


    Ich war einfach ein wenig erstaunt, als ich das gelesen habe - vor allem, da das Buch von anderen Kritikern ja doch eigentlich häufig als epistolary novel beschrieben wird.

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Ich war einfach ein wenig erstaunt, als ich das gelesen habe - vor allem, da das Buch von anderen Kritikern ja doch eigentlich häufig als epistolary novel beschrieben wird.


    Zu Recht erstaunt. Es ist auch irreführend. Ich hatte(habe) keine Kritiken gelesen und war von daher sehr unvoreingenommen. :grin