„Kinder brauchen Literatur!’ erklärte Sibyl Gräfin Schönfeld vor einiger Zeit in einem Interview mit einer Abwandlung der bekannten Forderung Bettelheims „Kinder brauchen Märchen!“
Nun kann man darüber streiten, was Kinder brauchen, nicht streiten kann man aber darüber, was sie mit diesem kleinen Buch hier bekommen: Märchenhafte Geschichten, geschrieben von zwei der bedeutendsten Vertreter der russischen Literatur.
Es sind fünf Geschichten, drei von Gorki, zwei von Katajew. Gorki erzählt in der Fabel ‚Das Spätzlein’ wie kindlicher Vorwitz einen in böse Klemmen bringen kann. Gut, daß Spätzlein Pumpel Mama an seiner Seite hat. Die grünen Augen der Katze funkeln wirklich gefährlich!
Eine Mischung aus Fabel und Schelmengeschichte ist die zweite Erzählung ‚Iwanuschka, der Narr’. In ihr erfährt man, was passiert, wenn Iwanuschka, der wirklich nicht gescheit ist, gleichzeitig auf die Kinder, die Kartoffelsuppe und die Haustür aufpassen soll, während Bären im Wald lauern. Aber Iwanuschka bringt sogar Bären zum Lachen, und daher geht alles gut aus, für die Kinder, die Kartoffelsuppe und die Haustür. Ja, auch für die Bären, obwohl der feuerrote Gockel höchst kriegerisch kräht!
‚Was Jewsejka passierte’ ist eine märchenhaft-träumerische und ein wenig gespenstische Geschichte von einem kleinen Jungen, der beim Fischen im Meer einschläft und ins Wasser fällt. Auf dem Meeresgrund begegnen ihm die merkwürdigen Bewohner des Wassers. Das ist ganz lustig, findet Jewsejka, aber dann bekommt er doch Angst. Das Wasser drückt doch ganz gewaltig. Gerade rechtzeitig hat er einen Einfall ...
Nach Gorki dann zwei Geschichten von Katajew über das kleine Mädchen Genia. In beiden sind Elemente des kindlichen Alltags mit Märchenmotiven vermischt.
In der ersten Geschichte muß Genia beim Bäcker einkaufen. Auf dem Rückweg frißt ihr ein Hund die Kringel ‚zwei mit Kümmel für den Papa, zwei mit Mohn für die Mama, zwei mit Zuckerguß für sich selber und ein kleines rosafarbenes Kringelchen für das Brüderchen Paul’ weg. Eine geheimnisvolle alte Frau tröstet Genia und schenkt ihr das Blümchen Siebenblatt. Wirft man ein Blütenblatt in die Luft und sagt dazu einen Spruch, kann man sich einen Wunsch erfüllen. Genia ist selig. Bloß das mit dem Wünschen klappt nicht so recht. Als sie sich dann noch das Spielzeug der ganzen Welt wünscht, o, weh!
Erst im letzten Augenblick besinnt sie sich, und so kommt die Familie doch noch zu ihren Kringeln. ‚Zwei mit Kümmel für Papa, zwei mit Mohn für Mama ...’ Man singt am Ende fast mit.
In der letzten Geschichte ist Genia mit der Familie im Wald, Erdbeeren pflücken. Das gefällt ihr gar nicht. Dieses Bücken, dieses Suchen! Gut, daß das Pilz - und Wurzelmännchen zufällig vorbeikommt. Auf das Lied seiner Schalmei hören die Beeren und zeigen sich. Wenn das Pilz - und Wurzelmännchen Genias Krüglein bekommt, erhält Genia dafür die wunderbare Schalmei. Gesagt, getan.
Nur: wenn sie kein Krüglein hat, womit kann sie dann Erdbeeren sammeln? Wenn sie aber das Krüglein hat, hat sie keine Schalmei.
Nein, das Leben ist nicht einfach.
Ganz spielerisch wird hier mit einem Grundkonflikt umgegangen, den Kinder lösen müssen, das Übernehmen von Arbeitsaufgaben innerhalb der Familie, auch wenn sie überhaupt keinen Spaß machen.
Von der Thematik her vielfältig, dem Kinderalltag angepaßt, witzig, immer mit einer Moral versehen, wie es sich für Fabeln und Märchen gehört, ist das ein sehr gut zusammengestelltes Lese - und vor allem Vorlesebüchlein. Die Sprache hat ‚Märchenton’, ist stark rhythmisiert, Ausdrücke und Sätze wiederholen sich, immer wieder gibt es kleine Verse und Lautmalerisches.
Die schwarz-roten Federzeichnungen von Gitta Kettner zeigen rundlich-fröhliche Figürchen, die oft zwischen Spielzeuggestalten und realistischen Figuren changieren. Sie verweisen noch einmal auf die Mischung aus Märchenhaftem und Alltag. Süßlich sind allerdings auch sie an keiner Stelle.
Das Buch erschien 1963 in der Reihe ‚Die kleinen Trompeterbücher’ als Nummer 39. Heute liegt es als Nachdruck vor. Leider fehlt auf der Neuausgabe der Name der Illustratorin.