Originaltitel: "Nation"
Meine Rezension bezieht sich auf die englischsprachige Ausgabe. Die deutsche Ausgabe erscheint im April 2009.
"Nation" ist ein Buch, das in einem parallelen Universum spielt, in einer Welt, die unserem viktorianischen Zeitalter sehr ähnlich ist. In Groß-Britannien hat Charles Darwin gerade seine Evolutionstheorie veröffentlicht und sämtliche Mitglieder des Königshauses sind auf einen Schlag gestorben, bis auf Nr. 137 der Thronfolge, der sich gerade als Gouverneur einer britischen Kolonie im pelagischen (= pazifischen) Ozean befindet und nicht weiss, dass er soeben König geworden ist.
Mau ist ein Junge der gerade an der Grenze zum Mann steht. Zu diesem Zweck hat er einige Tage auf "Boy's Island" verbracht. Auf dieser Insel lassen Jungen ihre Jungen-Seele zurück und sie erhalten ihre Männerseele, wenn sie es schaffen, innerhalb von 30 Tagen ein Kanu zu bauen und zur Insel "The Nation" zurückzupaddeln und einige Rituale durchlaufen. Mau ist gerade auf dem Weg zurück als ein Riesen-Tsunami "Nation" überflutet und alle Einwohner tötet. Mau schafft es zurück auf die Insel, mehr tot als lebendig und in einem seelenlosen Stadium zwischen Junge noch als Mann gefangen.
In den nächsten Tagen strandet Ermintrude als einzige Überlebende des Schiffes "Sweet Judy". Sie ist die Tochter des zukünftigen Königs von England (wovon sie aber nichts weiss) und war auf dem Weg in die britische Kolonie war, um bei ihren Vater zu wohnen. Ermintrude (oder auf Daphne, wie sie sich später nennt) ist ein wissbegieriges Mädchen, das heimlich den Vorlesungen der "Royal Society" lauscht und mit den Einschränkungen kämpft, die die feine englische Gesellschaft ihren Frauen auferlegt.
Daphne und Mau finden nach einigen Missverständnissen zusammen und langsam bevölkert sich auch "The Nation" wieder. Zunächst mit einer Frau, die nicht spricht und ihrem Baby, sowie einem einheimischen Priester, der krampfhaft versucht, die alten Rituale aufrecht zu erhalten, obwohl er mehr an den Glauben glaubt als an die Götter.
Im Buch geht es darum, wie Religionen entstehen und was sie aufrecht erhält, aber auch darum, das zu tun was wichtig ist, um Werte, Freundschaft, Loyalität und den Abbau von Vorurteilen. Es geht darum, Dinge kritisch zu hinterfragen und es ist eine Einführung in wissenschaftliches Denken und Arbeiten. Der Autor hinterfragt Kolonialismus, die Überheblichkeit der Industriestaaten gegenüber den sogenannten "Entwicklungsländern" und unser Weltbild (das im Roman buchstäblich auf den Kopf gestellt wird). Quantenphysik und multiple Universen spielen auch eine Rolle.
Der Humor ist eher leiser als in den Scheibenwelt-Romanen. Es gibt schon humorvolle Stellen, aber das Buch ist eher philosophisch und teilweise auch sehr traurig und tragisch und es beschönigt nichts. Am Anfang kommt Mau nicht etwa auf eine leergespülte Insel, sondern da liegen Leichen seiner Angehörigen, die er erstmal bestatten muss.
Ich liebe Terry Pratchetts Metaphern. Zum Beispiel: "Die Stille fiel wie ein Hammer, der aus Federn gemacht war." Und einige Zitate sind so schön, dass ich gerade bedauere, dass ich sie nicht gleich markiert habe. Die Kapitelüberschriften sind eine Geschichte für sich: "It takes a lifetime to learn how to die" oder "Believing is seeing." Teilweise war mir die Botschaft ein bisschen zu dick aufgetragen, ich mag es lieber ein bisschen subtiler. Aber trotzdem war es ein schönes Buch, das zum kritischen Denken anregt.
Scheibenwelt-Romane sind auf Englisch ja nicht immer einfach zu lesen (und auf Deutsch sind sie nicht lustig), aber "Nation" kann meiner Meinung nach jede Eule lesen, die Bücher wie Harry Potter auf Englisch lesen kann. Obwohl ich bei einigen Wortspielen trotzdem froh bin, dass ich sie nicht übersetzen muss.
Über den Autor
Terry Pratchett, geboren 1948, fand im zarten Alter von 13 Jahren den ersten Käufer für eine seiner Geschichten. Heute zählt der kleine Mann mit dem großen schwarzen Schlapphut zu den erfolgreichsten Autoren Großbritanniens und ist einer der populärsten Fantasy-Autoren der Welt. Seit 1983 schreibt er Scheibenwelt-Romane. Inzwischen widmet er sich ganz seiner Schöpfung, und seine Gemeinde wird täglich größer. Dabei ist er zweifellos der Autor mit dem skurrilsten ehemaligen Beruf: Er war jahrelang Pressesprecher für fünf Atomkraftwerke beim Central Electricity Generating Board. Nach eigener Auskunft hat er nur deshalb noch kein Buch darüber geschrieben, weil es ihm ja doch keiner glauben würde. Seinen Sinn für Realsatire hat der schrille Job jedenfalls geschärft. Ansonsten wohnt der Große Terry, wie ihn seine Fans zu nennen pflegen, mit seiner Frau Lyn in der englischen Grafschaft Wiltshire. Dort schreibt er an seinem nächsten Scheibenwelt-Roman oder diskutiert mit seinen Fans im Internet.
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