Selma Lagerlöf - Jerusalem

  • Titel: Jerusalem
    Autorin. Selma Lagerlöf
    Verlag: DTV
    Erschienen: Oktober 2008
    Seitenzahl: 613
    ISBN-10: 3423136952
    ISBN-13: 978-3423136952
    Preis: 12.90 EUR


    Die Autorin:
    Selma Lagerlöf (1858 - 1940) gelang mit ihrem ersten Roman "Gösta Berling" der internationale Durchbruch. 1909 erhielt sie den Literaturnobelpreis; 1914 wurde sie als erste Frau Mitglied der Schwedischen Akademie.


    Zum Inhalt:
    In Mittelschwedens schweigender und großartiger Landschaft leben die Ingmarsöhne auf ihrem uralten Hof. Die veränderten Zeiten haben Unruhe in ihr Dasein gebracht. Die Bauern auf den weltabgeschiedenen Höfen tragen eine religiöse Sehnsucht im Herzen. Und so geraten sie unter den Einfluss eines charismatischen Führers. Sie verlassen ihre schwedische Heimat, um in Jerusalem die Wiederkunft Christi zu erwarten. Nur einer der Ingmarsöhne bleibt zurück, jedoch um den Preis einer hohen Schuld: Um den Hof halten zu können, bricht er ein Verlöbnis und heiratet eine reiche Bauerntochter.


    Meine Meinung:
    Beeindruckend, mit sehr viel Gefühl und Engagement geschrieben. Selma Lagerlöf ist eine wirklich große Erzählerin. Eine sehr stimmungsvolles Buch, getragen auch von der skandinavischen Ruhe und Schwermut. Beeindruckend auch ihr tiefer Glaube, den sie mit sehr liebenswerter Naivität vorträgt, den sie aber niemanden aufdrängt. Selma Lagerlöf erzählt mit einer emotionalen Tiefe, die man heute bei den zeitgenössischen Autorinnen zumeist vergeblich sucht. Im Mittelpunkt ihres Buches stehen die Menschen, ihr Leben, ihr Fühlen, ihr Dasein schlechthin. Niemand ihrer handelnden Personen kommt zu kurz. Jede und jeder hat ihren bzw. seinen Platz in diesem Buch. Alle sind wichtig, egal ob reich, schön, arm oder hässlich. Auf dem Buchrücken wird davon gesprochen, dass dieses Buch „eine literarische Wiederentdeckung“ ist. Dem kann man wirklich nur uneingeschränkt zustimmen.
    Sehr lesenswert.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Bedingtes Ja.


    Aber zuerst mal danke, daß Du hier Lagerlöf vorstellst. Ich wußte nicht, daß 'Jerusalem' wieder aufgelegt wird.


    Lagerlöf gehört zu meinen bevorzugten Schriftstellerinnen, ich besitze fast alle Romane von ihr und einige Bände mit Erzählungen. Ihre christliche Grundüberzeugung nervt mich zuweilen, aber da sie eine großartige Schriftstellerin ist, kann ich darüber hinwegsehen. Sie missioniert ja nicht.
    :lache



    'Jerusalem' ist alles andere als einfache Lektüre. Der Roman ist eine Studie über Sehnsucht.
    Der ersten Band, in dem die innere Entwicklung der Gemeinde hin zu einem strikt fundamentalistisch-christlichen, zugleich aber mystischen Verständnis des Glaubens und ihr daraus resultierender Aufbruch nach Palästina beschrieben wird, ist einfach nur überwältigend.
    Da wird eine Atmosphäre erzeugt, ein emotionales Mit-Empfinden in eienr Stärke, der man sich kaum entziehen kann, gleich, wie man zum christlichen Glauben steht.
    Das ist große Literatur.


    Lagerlöf geht hier bis zu äußersten Grenze, Visionen eines lebendigen Jesus (die Begegnung im Wald) eingeschlossen. Es ist nie kitischig, nicht sentimental, es ist einfach überzeugend. Echt.
    Die Charaktere 'stimmen', vom einfachen Gläubigen bis hin zu den Eiferern, Männer wie Frauen.
    Die inneren Konflikte, die diese konzentrierte Hinwendung zum Glauben auslösen, überzeugen auch heute noch. Sie nimmt ihre Figuren sehr ernst und gesteht ihnen alle recht zu, Fehler eingeschlossen.
    Das ist Erzählkunst, Konzeption und Sprache finden nahezu nahtlos zusammen.


    Weniger gelungen finde ich den zweiten Teil, vor allem die zweite Hälfte. Lagerlöf hat ihn auch nach dem ersten Erscheinen noch mehrfach umgearbeitet, war aber nie zufrieden damit.


    Ich fürchte,es liegt daran, daß es keine passende Lösung für den Konflikt gibt.
    Was scheitert hier, die Kolonie? Der Glaube? Die Beziehungen? Die Mystik?
    Oder einfach das Konzept endgültig, weil man nach einer solchen Überhöhung, wie es die Auswanderung ist, darstellerisch einfach nicht noch höher kommt?


    :gruebel



    Meine private Meinung war immer, daß Gertrud eigentlich hätte sterben müssen, daß also die Szene mit ihrem Hitzschlag konsequent zu diesem Ende hin hätte geführt werden müssen. Die Szene selbst halte ich übrigens für eine der ganz, ganz großen Szenen der Literatur.


    Nun ist Lagerlöf selbst so ein lebensbejahender Mensch, ein düsteres Ende einer Figur, die ihr so ans Herz gewachsen ist (das merkt man beim Lesen bald, wie sie zu Gertrud steht) hat sie offenbar nicht schreiben wollen/können.
    Und so sackt für der zweite Band bald ab.
    Das Ende ist einfach zu glatt.


    Das ist, wohlgemerkt, meine Privatmeinung.


    Eigentlich bräuchten wir blaustrumpf hier. Das ist nämlich 'ihr' Terrain.
    :grin


    Wer es versuchen will mit diesem Buch, soll es unbedingt tun.
    Allerdings ist zu bedenken, daß es breit angelegt ist, da ist noch viel von der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts enthalten.



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Du rufst, magali? Ich eule eile. Nunja. Eule mit Weule.


    Also.


    Klar nervt das, wenn jemand dermaßen im Glauben schreibt wie Selma Lagerlöf.


    Aber das mit dem schwächeren zweiten Teil, das habe ich gar nicht so mitbekommen. Das liegt vermutlich daran, dass ich ihn nicht als eigenständigen Teil wahrgenommen habe, sondern durch meine einbändige Ausgabe immer mal wieder durchbrause. Vielleicht ist mir die Geschichte mittlerweile auch ein bisschen zu vertraut, Jerusalem lese ich durchschnittlich zweimal im Jahr, wenn ich viel reise, öfter.


    Vielleicht ist auch Ingmar Ingmarsson so aufgebaut, dass ich unwillkürlich ihn als Zentralfigur des ganzen Romans erlebe. Mitten in der flirrenden Hitze Jerusalems frage ich mich tatsächlich, wie es ihm in Dalarna wohl ergehen mag. Somit wird natürlich selbst Getrud - auch gegen meinen Willen - mir zur Nebenfigur, deren Schicksal daher durchaus ein bisschen weniger sorgfältig in Sachen Plausibilität und Befriedigung der Leseerwartung ausfallen kann.


    Aber sei es, wie es sei: Ein Roman, in dessen zweiten Satz die Autorin bereits die Grenzen des Erzählens absteckt ("dass man es gar nicht beschreiben kann"), der hat was.

    Wer einmal aus dem Schrank ist, passt nicht mehr in eine Schublade.
    Aber mein Krimi passt überall: Inge Lütt, Eine Bratsche geht flöten. ISBN: 978-3-89656-212-8. Erschienen im Querverlag

  • :grin



    Ich habe den Roman erst zweimal gelesen. Alte Ausgabe, die beiden Teile klar gekennzeichnet.
    Ingmar ist Zentralfigur, ja.
    Trotzdem bin ich nach wenigen Seiten bei Gertrud und da bleibe ich. War immer schon so. Ich lese es als ihre Geschichte.
    :gruebel


    Ich halte Lagerlöf ja für eine überzeugte Feministin, wahrscheinlich mehr, als ihr selbst bewußt war.
    :lache
    Wahrscheinlich liegt meine (etwas heftige) Interpretation daran.




    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Klar. Wenn ich mir die Frauenfiguren von Selma Lagerlöf anschaue, habe ich meist das Gefühl, die sind immer einen Zacken größer - als im Leben im bestimmt, aber meistens auch als die Männer. Und prompt haben sie auch mehr Schicksal. Oder es schlägt fester zu.


    Dass das nun ausgerechnet in "Jerusalem" nicht dazu führt, dass ich ganz bei Gertrud bleibe, kann ich mir so recht nicht erklären. Klar ist sie mir "rischtisch wischtisch" - und genauso klar ist da immer wieder dieser Ingmar Ingmarssson.


    Vergleiche ich den mit "Gösta Berling", so tritt der oft hinter Marianne Sinclair oder Elisabeth Dohna zurück. Und erst Margarete Celsing, die Majorin auf Ekeby! Gegen die kommt Gertrud irgendwie nicht so recht an - schon gar nicht in Jerusalem.


    Und ja, auch in meiner Ausgabe sind die beiden Bände erkennbar von einander getrennt. Ich lese sie nur eben nicht so. Es geht weiter, immer weiter. Ob durch die Wälder Dalarnas oder über die staubigen Straßen Jerusalems - Hauptsache, weiter.


    Ich weiß nicht, als was Ihr "Jerusalem" lest. Mir ist kein Entwicklungsroman, kein Sittenbild, nicht Heimatkunde und auch nicht exotischer Ausflug. Mir ist es eine "Riesenstory", verästelt und faszinierend. Dass es nebenher auch ein Roman als Moralische Anstalt ist, je nun. Ich lese weiter.

    Wer einmal aus dem Schrank ist, passt nicht mehr in eine Schublade.
    Aber mein Krimi passt überall: Inge Lütt, Eine Bratsche geht flöten. ISBN: 978-3-89656-212-8. Erschienen im Querverlag