Rolf Lappert - Nach Hause schwimmen

  • Schon der Titel beinhaltet für Wilbur mehrere Unmöglichkeiten: Er hat kein Zuhause. Und schwimmen kann er nicht. Vielmehr hat er eine so tiefsitzende Angst vor Wasser, dass er selbst Heißgetränke ausschließlich über einen Trinkhalm zu sich nimmt, um die Kontrolle über die Flüssigkeit zu haben.


    Wilbur ist ein klein gewachsener, körperlich schwacher, hochbegabter Junge, der einen schwierigen Start ins Leben hat. Seine Mutter stirbt bei der Geburt, sein Vater verlässt ziellos und voller Verzweiflung das Spital und den kleinen Sohn, der in Heimen, bei Verwandten und in Pflegefamilien aufwachsen muss. Nachdem Wilburs Großmutter bei einem Unfall getötet wird, hat das Leben für den Jungen keinen Sinn mehr. Er lässt sich treiben, sucht nach Möglichkeiten, die den Schmerz erträglich machen, betäubt sich mit Kinofilmen und später mit Alkohol, lässt sich mehr als einmal auf den Grund sinken, den Grund eines tiefen Wassers oder auch den Grund von etwas, das ihn mit lichtloser Stille umfängt und Erlösung verspricht. Aber die Erlösung kommt nicht - entweder wird Wilbur aus dem Wasser gezogen oder er strampelt am Ende doch so sehr, dass er wieder auftaucht, nach Luft schnappt und sich an den nächsten Strohhalm klammert, der im Wasser treibt.


    Sein Leben ist gesäumt von Menschen mit enttäuschten Erwartungen, falschen Entscheidungen, unerfüllten Wünschen, Einsamkeit, menschlicher Größe, Suchtproblemen, überschüssiger Liebe und von Bruce Willis, dessen Filme in Wilbur die Hoffnung wecken, dass man alle Gefahren überleben kann, wenn man es schafft, so zu sein wie John McClane. Und wenn man überleben will.


    Man muss sich Zeit nehmen für dieses Buch, für die vielschichtigen Figuren, für Wilburs Suche nach Liebe. Und man wird belohnt mit einer Geschichte, in der die Hoffnung immer vorhanden ist, dass jeder schwimmen lernen kann.

  • Zitat

    Original von Eskalina
    Danke dir, ich musste grad schmunzeln, weil ich in den Threads die mich interessieren immer auf dieselben "Verdächtigen" treffe... :wave


    das ging mir gerade auch so, als ich diesen Thread öffnete, um meinen Senf dazuzugeben :lache


    So ganz im Klaren bin ich mir nun nicht, wie mir dieses Buch denn jetzt eigentlich gefallen hat.
    Denn eines hat es sicherlich: mich sehr gut unterhalten. Die Sprache hat mich eingelullt (auch wenn, meine Vorredner erwähnten es bereits, die ausufernde Himmel- und Wolken-Metaphorik manchmal etwas außer Kontrolle geriet), die zwei Handlungsstränge, die Wilburs Schicksal abwechselnd in Wilburs eigener Rückschau und als konventionelle chronologische Erzählung schildern, sind gekonnt zusammengeführt und nahezu perfekt abgestimmt und nicht zuletzt ist fast das gesamte Personal herzerfrischend sympathisch.


    So habe ich erst, nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, festgestellt, was für ein Kotzbrocken Wilbur eigentlich ist: Er suhlt sich in Selbstmitleid, weil seine Mutter bei seiner Geburt starb und sein Vater sich verdrückte und merkt dabei gar nicht, dass so viele wohlmeinde Menschen seinen Lebensweg kreuzen, dass es glatt für drei Waisenkinder reichen würde.


    Zitat

    Und man wird belohnt mit einer Geschichte, in der die Hoffnung immer vorhanden ist, dass jeder schwimmen lernen kann.


    Ja, selbst wenn man sich so hartnäckig dagegen sträubt wie Wilbur :wow


    Genau das hat für mich die Geschichte am Ende zu optimistisch gemacht.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Ich fand diesen Extraschuss Optimismus zum schluss recht erholend, nachdem ich das Buch über weite Strecken sehr stockend zu lesen fand, da Wilbur mir einfach zu depressiv war.
    Das ganze Buch über bleibt viel dunkel, gefolgt von einem Lichtblitz zum Schluss. Ja dieser gegensatz ist ziemlich krass.
    Dennoch freue ich mich, diese Geschichte gelesen zu haben, inlusive des Schreibstils des Herrn Lappert.

    "It is necessary to distinguish [...] between languages as such and their speakers. Languages are not hostile one to another. They are, in the contrast of any pair, only similar or dissimilar, alien or akin."
    -J. R. R. Tolkien, "English and Welsh"