Familienbande - Norma Klein (ab 14 J)

  • OT: Family Secrets 1985



    Der Name der US-amerikanischen Autorin Norma Klein (1938 - 1989) steht für sehr gut beobachtete und sehr sorgfältig geschriebene Jugendromane. Die Geschichten sind stets hochkomplex, die Sprache unverwechselbar und ‚realistisch’. Kleins Ansatz ist aufklärerisch und modern, weswegen ihre Bücher unweigerlich ins Blickfeld der ZensorInnen geraten. Family Secrets hat bis heute seinen Platz auf der Liste der 100 Bücher, die am häufigsten den Ruf nach einem Verbot ausgelöst haben, zusammen mit Romanen wie Fänger im Roggen, Die Abenteuer von Tom Sawyer, Von Mäusen und Menschen oder Die Farbe Lila.


    Peter und Leslie kennen sich von klein auf, auch ihre Eltern sind befreundet. Doch in diesem Sommer funkt es plötzlich, aus Leslie und Peter wird ein Paar. Ehe die beiden noch weitere Pläne machen können, werden sie von den Ereignissen überrollt. Leslies Mutter hat ein Verhältnis mit Peters Vater, die Eltern wollen sich scheiden lassen.
    Innerhalb weniger Monate müssen sich die beiden Siebzehnjährigen der Trennung der Eltern, der raschen Hochzeit von Leslies Mutter und Peters Vater, die sie zu Stiefgeschwistern macht, sowie dem Kummer der verlassenen Elternteile stellen.


    Damit nicht genug, beginnt auch das letzte Jahr der Highschool, das für Peter auch die Vorbereitung auf Harvard bringt. Leslie dagegen ist vor allem mit dem Theaterstück beschäftigt, das die sehr fordernde Leiterin der Theatergruppe ausgesucht hat. Sie beschert Leslie eine Rolle, durch die Leslie gezwungen ist, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
    Die Beziehung von Leslie und Peter steht unter keinem guten Stern.


    Erzählt wird die Geschichte in Einzelkapiteln, abwechselnd von Peter und Leslie. Klein gelingt das Kunststück, zwei ganz unterschiedliche Charaktere zum Sprechen zu bringen und so auch zwei völlig unterschiedliche Blickwinkel zu präsentieren. Teenager-Egoismen und das Recht auf Individualität prallen aufeinander, die Liebesgefühle der bedien reiben sich an Loyalitätsgefühlen zu den eigenen Eltern. Die beiden Siebzehnjährigen müssen sich verstehen lernen, ihre Beziehung definieren und mit dem fertigwerden, was die Erwachsenen anrichten.


    Die Eltern, die man nur aus den Augen ihrer Kinder sieht, sind gleichfalls höchst überzeugend geraten. Nelson, Peters Vater, ist sportlich, gutaussehend, zugleich leidet er darunter, daß er nie ein große Schauspieler geworden ist. Er kann von keiner Frau die Finger lassen, auch die Ehe mit Leslies Mutter Aline wird scheitern. Aline ist nach außen selbstbewußt, innerlich aber hilflos, sie will vor allem behütet werden, Peters Mutter, Hope, das Hausmütterchen, findet dagegen überraschend die Kraft zu einem echten Neunanfang. Leslies Vater, Preston, wird mit dem Leben nur noch fertig wird, indem er ihm mit einer so starken Ironie begegnet, daß jedes echte Gefühl für andere dabei nur untergehen kann.
    Die Eltern sind nicht ‚böse’, es wird auch niemand verurteilt, sie werden eher in ihren Schwächen gezeigt und in ihrer Hilflosigkeit.


    Die Themen Körperlichkeit und körperliche Liebe, Scheidung, Drogen - die Teenager kiffen gelegentlich und trinken Alkohol - sowie Verhütung - einmal wird die Pille erwähnt - haben dem Roman im Handumdrehen das Urteil eingebracht, leichtfertig bis unmoralisch zu sein. Dabei gibt es nicht eine erotische Szene, verblüffend ist eher die Selbstverständlichkeit, mit der hier mit der Frage körperlichen Begehrens unter Teenager umgegangen wird. Es ist so normal wie essen und trinken, und dient eher dazu, die Frage von Standards, das Aussehen betreffend zu diskutieren, ein weiteres Kern-Thema dieses Buchs. Nelson und Aline sind besessen von Schönheit und Fitneß, Leslie ist zart und schmal, Peter dagegen fühlt sich zu dick und hat unter Streßeinfluß regelmäßig an Freßanfällen zu leiden.
    Das Theaterstück, in dem Leslie so sehr gegen die ihr aufgezwungene Rolle kämpft, nimmt breiten Raum ein, da es für Leslies Entwicklung sehr wichtig ist. Die Leiterin der Theatergruppe vertritt darüberhinaus eine sehr feministische Position, die zugleich als Spiegel für Leslies schwierige Familiensituation zwischen einer emotional bedürftigen Mutter und einem über-ironischen Vater eingesetzt wird. Wer stark ist und wer schwach und wie man Stärke/Schwäche überhaupt definiert, ist ein weiteres Thema dieses Buchs.


    Die Handlung erstreckt sich über ein ganzes Jahr. Leslie und Peter erweisen sich als liebesfähig und kritisch zugleich, höchst verletzlich, aber am Ende auch fähig, für sich einzustehen. Die Geschichte wird streckenweise zum psychologischen Kammerspiel mit hoher Spannung.


    Alles andere als leichte Jugendlektüre, sondern ein tiefgehender, langsam erzählter, anspruchsvoller Roman, der auch so lange Zeit nach seinem ersten Erscheinen noch überzeugt.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus