OT: Kira-Kira 2004
‚Kira-kira’ ist japanisch und bedeutet: glänzend, leuchtend. Es ist das Bild, das Lynne von der Welt hat, genauer von den Dingen, die sie liebt. Das Meer, z.B. und die Sterne oder die Augen der Menschen. Es ist aber auch das, was Lynne aus den Dingen machen kann, sie bringt sie zum Leuchten. Vor allem für ihre kleine Schwester Katie.
Katie und Lynne Takeshima leben in den USA der frühen fünfziger Jahre. Ihre Eltern haben ein winziges Geschäft für asiatische Lebensmittel in einer kleinen Stadt in Iowa. Doch das Geschäft rentiert sich nicht, sie müssen schließen. Hilfe kommt vom Bruder des Vaters, Onkel Katsuhisa. Er arbeitet in einer Hühnerfabrik in Georgia. Es gibt eine kleine japanische Gemeinde dort und er wird Katies Eltern eine gute Stelle in der Fabrik verschaffen. So ziehen die Takeshimas nach Georgia.
Die Umstellung fällt nicht leicht, weder für die Eltern noch für die Kinder. Doch Lynne versteht es auch in Georgia, für Katie die Welt zum Leuchten zu bringen. Das ändert sich auch nicht, als die Familie Zuwachs bekommt, Sam, den kleinen Bruder. Im Gegenteil, die Familie wird stärker. Was Lynne für die vier Jahre jüngere Katie ist, wird Katie für Sam, Entdeckerin und Deuterin der Welt.
Erzählt wird konsequent aus der Perspektive Katies. Zuerst ein sehr kleines Mädchen, das mit einfachen Worten die Familienverhältnisse und Spiele mit der großen Schwester darstellt, wächst die Geschichte mit der Weiterwerden ihres Blickwinkels, je älter sie wird. Selbst die angebetete Lynne wird, zu Katies eigenem beträchtlichen Schrecken, plötzlich kritischer gesehen.
Doch die Familie muß sich plötzlich einem ganz anderen Problem stellen, Lynne wird schwer krank und stirbt mit fünfzehn. Es ist schließlich Katie, die trotz ihres Schmerzes verhindert, daß die Familie daran zerbricht. Sie nimmt Lynnes Vermächtnis an. Etwas leuchtet weiter in der Welt. Kira-Kira.
Dieses Buch ist die wunderbare Geschichte zweier Schwestern. Es ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden und eine herzerwärmende Familiengeschichte. Es ist aber auch die wenig schöne Geschichte vom Anderssein, vom Leben in einer Umgebung, die weitgehend von Rassissmus geprägt ist. Es gibt geradezu verrückte Situationen, zum Beispiel die, als Takeshimas in Georgia eintreffen und sich mit dem Schild ‚Farbige nach hinten’ konfrontiert sehen. Sie sind aber keine Farbigen, das gesteht ihnen sogar die Motelbesitzerin zu. Indianer sind sie auch nicht, die dürfen schon gar nicht ins Haus. Wer also sind sie?
In der kleinen Stadt leben Japaner und Weiße fast völlig getrennt, obwohl die Japaner längst im Land geboren und aufgewachsen sind. Lange spricht in der Schule niemand mit Lynne. Lynne allerdings kann sich durchzusetzen, überall, immer. Sie ist eine Heldin und ein Genie, Katie weiß das genau. Was das Lynne kostet, erfährt man erst gegen Ende des Buchs und auch dann nur ein wenig davon.
Wirklich entsetzlich sind die Schilderungen der Arbeitsbedingungen. Sowohl Vater als auch Mutter arbeiten in Doppelschichten zu Hungerlöhnen, um die Familie durchzubringen. Die Schichten sind so bemessen, daß nicht einmal ein Gang zur Toilette möglich ist. Die Arbeiterinnen tragen Windeln. Und das in den sechziger Jahren. Betriebsräte oder Gewerkschaften werden mit Gewalt verhindert. Und auf Hühnerfleisch kann man zeitweise durchaus den Appetit verlieren.
Der Traum vom Haus wird in einem Verzweiflungsschritt wahr, die Kosten für Lynnes Krankheit stürzt die Familie fast völlig ins Elend. Aufrappeln müssen sie sich immer wieder selbst.
Das Ganze ist, wie gesagt, auch eine Familiengeschichte. Es wird ein Zusammenhalt, ein Zusammenspielen der einzelnen Familienmitglieder geschildert, wie man es nur sehr selten lesen kann. Die Eltern lieben sich und sie lieben ihre Kinder, die Kinder lieben die Eltern. Allerdings nicht bedingungslos, all diese Liebe beinhaltet eine erhebliche Menge an Respekt voreinander. Es gibt drei große Fehler, die als nahezu unentschuldbar gelten: schlagen, lügen, stehlen. Fast jeder in der Familie verstößt das eine oder andere mal gegen diese ‚Gesetze’. Jedesmal ändert sich das ganze Gefüge und zwar für Kinder ebenso wie für die Erwachsenen. In einer atemberaubenden Schlüsselszene muß sich Katies Vater bei seinem Arbeitgeber entschuldigen. Zu Recht. Für das kleine Mädchen ist die Situation kaum zu ertragen. Aber ihr Vater zeugt ihr, daß man um Entschuldigung bitten kann, ohne seinen Stolz zu verlieren. Und das ist nur ein von vielen Stellen, die eine beim Lesen äußerst nachdenklich machen.
Zugleich nimmt sich die Autorin sehr viel Raum für jedes einzelne Familienmitglied. Die zarte Mutter, die zunächst ein wenig etepetete scheint, die sich aber trotz aller Zartheit als energisch und zäh herausstellt, bereit, neue Wege zu gehen. Der stille liebevolle Vater, der zuletzt explodiert, aber sich treu bleibt. Der leicht verrückte Onkel, der seine Ohren knacken lassen kann, dessen Spinnerei jedoch vor allem überschäumender Frohsinn ist, der ihn in Krisen zum Felsen in der Brandung werden läßt. Die wunderbare Lynne, die die Fähigkeit besitzt, die Welt für alle zum Leuchten zu bringen, aber auch einen ausgeprägten Hang zur Tyrannei hat. Und vor allem Katie, die aus dem Schatten ihrer Schwester heraustreten muß und lernen, selbst Entscheidungen zu treffen.
Raum gibt es auch für Kummer, seelischen Schmerz und tiefe Trauer, Kadohata erspart einer nichts. Freude und Humor gibt es auch, das Leben hat viele Seiten. Katie ist eine sehr genaue Beobachterin und Berichterstatterin, es ist ein gemächliches Buch, sie nimmt sich Zeit. Für die schlimmen wie für die schönen Momente.
Das Buch wurde mit der Newbery Medal ausgezeichnet, dem Preis für, wie es heißt, ‚einen außergewöhnlichen Beitrag zur amerikanischen Kinderliteratur’.
Es ist tatsächlich ein außergewöhnliches Buch.