Aus der Amazon.de-Redaktion
Jeden Sommer verbringt der kleine Aljoscha die Ferien bei seiner französischen Großmutter Charlotte in dem Städtchen Saranza, am Rande der riesigen sibirischen Steppe gelegen. Eines Tages findet Aljoscha einen Koffer, angefüllt mit Fotos und Erinnerungsstücken aus der Jugendzeit Charlottes in Paris. Dieser Koffer und die Erzählungen seiner Großmutter werden Aljoschas Leben von Grund auf verändern.
Charlotte, die es als junge Rot-Kreuz-Schwester ins bürgerkriegsgeschüttelte Rußland des Jahres 1921 verschlagen hat, läßt in dem Jungen die ganze Poesie des Fin de siècle aus dem Paris ihrer Jugend erstehen und baut in Aljoscha allmählich eine Gegenwelt zum trostlosen Sowjetalltag auf. Außerhalb der wundervollen Ferientage nämlich sieht Aljoschas Leben anders aus: Stalinistische Prachtbautenkälte und Waffenfabriken bestimmen das Bild seiner Heimatstadt, einem Riesenmoloch an der Wolga. Die Schule formt ihre Kinder nach dem Muster junger Sowjetmenschen, westliche Feindbilder werden ihnen eingeprägt und die verzauberten Sommerabende auf dem Balkon der Großmutter rücken bald wieder in weite Ferne.
Ganz behutsam, in epischer Breite, führt uns der 1957 in Sibirien geborene Andreï Makine in die Welt von Charlottes Erzählungen ein. Immer gieriger saugt Aljoscha die Anekdoten der Großmutter in sich auf, die von einem Treffen mit Marcel Proust ebenso zu berichten weiß wie vom Zarenbesuch in Paris, und die ihrem Enkel vermittels Madame Bovary erste zart-erotische Empfindungen einimpft.
Dies alles ist für Aljoscha nicht nur einfach. Die von der Großmutter beschworene Idealwelt droht, ihn seiner eigenen Identität zu berauben. Er wird ein Suchender. Und doch bleibt diese Suche nur ein Stochern im Nebel der Vergangenheit, der sich erst im Verlauf einer späteren eigenen Reise in das Paris seiner Großmutter lichtet. –Ravi Unger
Kurzbeschreibung
In den Weiten der sibirischen Steppe will Aljoscha von seiner Großmutter alles über ihr versunkenes Atlantis hören, über Paris um die Jahrhundertwende.
Das Buch ließ mich zurück, wie nach einer Gehirnwäsche.
Es war ein unglaubliches Gefühl, die letzten Seiten zu lesen…auf eine gewisse Art hatte ich ein ganzes Leben und mehr gelesen.
Alle die Geschichte der Großmutter Charlotte, die es immer wieder nach Rußland zieht und deren Leben sich unaufknüpfbar mit diesem Land verbindet, ist unglaublich stark. Im Ersten Weltkrieg die letzte Reise dorthin, dann quer durch das nachrevolutäre Rußland bis nach Sibirien, die präsize Beschreibung der Nöte der Landbevölkerung, ihr Einsatz im Zweiten Weltkrieg und die Schrecken der Stalin-Zeit - dieser Erzählstrang alleine ist einfach unglaublich. Man ist ganz dicht dran am geschehen, ist selber in den Isbas und sieht die Taiga vor sich. Noch nie hatte ich eine solche Sehnsucht nach der Weite Rußlands. Und selten wurden die Landschaften dieses Landes, aber auch seine Härte so wunderschön beschrieben.
Der zweite Erzählstrang ist der des Enkels Aljoscha, welcher über einen Koffer voller Zeitungen und Fotos und der Sprache der Großmutter einem Frankreich annähert, welches er nie ganz erfassen kann - was die Frage aufwirft, ob man ein Land je ganz erfassen kann, indem man es nur über Bücher kennen lernt. Und man kommt zu dem Schluß, dass der Satz, man könne über Bücher überall hinreisen, insofern falsch ist, als das man bestenfalls ein flüchtiger Tourist ist.
Schön auch, wie herrausgestellt wird, wie sich durch den Gebrauch einer anderen Sprache die Denkweise zu verändern beginnt.
Dieser Nachkomme schildert das Aufwachsen im sowjetischen Russland - Wettkämpfe im Kalaschnikow-Zusammensetzen inklusive. Auch das Gefühl des Ausgestossenseins, das Bewußtsein der Fremdartigkeit durch seine Herkunft, die Sehnsucht nach Frankreich wird großartig transportiert.
Insgesamt ein unglaublich gutes Buch, welches mich tief beindruckt zurücklässt - und das passiert selten.
# Gebundene Ausgabe: 316 Seiten
# Verlag: Hoffmann und Campe (November 2002)
# Sprache: Deutsch
# ISBN-10: 3455051359
# ISBN-13: 978-3455051353
Bilder zum Buch gibt es unter http://nomasliteraturblog.word…s-franzosische-testament/