Deutschland, gefühlte Heimat. Hier zu Hause und trotzdem fremd?! - Elke Reichart

  • Ein Lese-Bericht


    Cover und Inhaltsverzeichnis zeigen sich bunt und international. Ghana und Israel, China und Palästina, Afghanistan, Ukraine, Kasachstan, Türkei, Marokko, Bolivien. Eine Münchner Journalistin hat mit zwölf jungen Menschen gesprochen, die, so der Text auf der Rückseite des Buchs, gemeinsam haben, daß sie oder ihre Familien aus anderen Staaten nach Deutschland gekommen sind.
    Die Geschlechter sind fair aufgeteilt, sechs jungen Frauen, sechs junge Männer, die jüngste ist sechzehn, die ältesten sind Ende zwanzig.
    Herausgekommen sind drei Interviews und neun Porträts von zwölf jungen Menschen, die ..., hier stocke ich. Ja, was?


    Die Fotos fallen mir ein, es sind tolle Porträtaufnahmen. Da sind sie, diese jungen Menschen. Ein wenig glatt gebügelt, vielleicht?
    Freundlich sehen sie aus, offen, der Blick ein wenig skeptisch? Sehe ich das nur so oder liegt es an der Fotografin (Doris Katharina Künster)? Was sagen diese schönen Bilder?
    Viel helle Haut, einmal schwarze, sehen wir von Gerald Asamoah ab, der das Vorwort beisteuerte. Ein junger Mann aus China, stehen die Augen der jungen Frau aus der Ukraine ein wenig schräg? Würde ich angesichts der dunkelhaarigen Schönheit an Marokko denken, stünde es nicht dabei? Ist es wichtig, daß ‚Marokko’ dabei steht? Für einige der jungen Leute schon, sie betonen, daß man ihnen ihre Herkunft nicht ansieht. Bei fünf von ihnen trifft es zu, man sieht sie an und denkt nicht: ‚Ausländer’. Was denke ich da?
    Und vor allem, was denkt die Autorin? Das Aussehen ist wichtig für sie, fast in jedem Text gibt es eine Bemerkung dazu.


    Ich kehre wieder zu den Texten zurück. Den Anfang machen zwei junge Frauen, Stichworte links vom Kapitelanfang sagen mir, was ich erwarten kann. Oder was ich zu erwarten habe? Zwei Türkinnen in Deutschland. Zwei unterschiedliche Leben. Zwei Interviews.


    Marla ist sechzehn, Pinar 26. Beide Frauen sind in Berlin geboren, beide haben einen deutschen Paß. Wer macht sie zu Türkinnen? Ihre Familie? Ein klares ‚Nein’ in Marlas Fall. In der Türkei’ bin ich Deutsche, sagt sie. Das Land kennt sie nur von Ferienaufenthalten. In Istanbul hat sie Schulröcke gesehen, die so kurz waren, daß es sie, ein Teenager, ein wenig schockierte. Sie bezeichnet sich selbst als Atheistin. In ihrer Klasse, in einem Gymnasium in Grunewald, ist sie die einzige Türkin. So formuliert es die Autorin des Buchs. Marla sagt von sich, daß sie Berlinerin ist. Ich runzle die Stirn beim Lesen. Wer macht Marla zur Türkin?


    Pinars Geschichte ist anders, sie ist bekennende Muslima. Dennoch sagt sie von sich, daß sie Berlinerin ist. Ihre Geschichte fasziniert und erschreckt mich. Schon in der Grundschule wurde sie per Lautsprecher ins Sekretariat gerufen, wenn es galt, aus dem Türkischen zu übersetzen. Im Gymnasium mußte sie für jede Schandtat fundamentalistischer Moslems geradestehen. Vor der Klasse, auf einen Wink der LehrerInnen hin. Ihre Schwestern tragen keine Kopftücher. Wer machte Pinar zur Türkin?
    Die Journalistin fragt und notiert eifrig. Aber sie fragt nie zurück. Außer wenn es darum geht, ob Pinar in die Türkei ‚zurückkehren’ werde, eine merkwürdige Formulierung angesichts der Tatsache, daß Pinar in Berlin geboren und aufgewachsen ist und die Türkei nur aus Ferienbesuchen kennt.


    Ich blättere weiter. Stefan aus Kasachstan, schon in der Einleitung erwähnt, hatte ein schlimmes Schicksal, warnt mich die Autorin. Kaum in Deutschland angekommen, geriet seine Familie in die ‚Jahrhundertflut’ der Elbe. Ich stutze. Hinter der Flut steckten weder die Sowjetunion noch die deutschen Ausländerbehörden. Doch die Autorin will jedes wässrige Detail hören. Viel Raum nimmt auch die beschwerliche Reise aus Kasachstan ein. Die wenig schönen Erfahrungen mit Deutschen stehen für sie nicht im Vordergrund. Überdies hat Stefan es gut. Er landete in einem Prestigeausbildungsprogramm von BMW. Die Autorin freut sich.
    Was auch schön ist, sie versäumt nicht, es darzulegen, ist, daß man Stefan nicht ansieht, daß er aus Kasachstan stammt. Nun, er ist Deutscher, oder? ist man geneigt mit milder Stimme und sanftem Verweis auf gewisse Abstammungsregeln bei der Erteilung bundesdeutscher Pässe an sog. ‚Rußlanddeutsche’ einzuwerfen.


    Ganz anders Noor aus Afghanistan, dessen Familie zunächst als politische Flüchtlinge anerkannt war, den Status aber aus nicht geklärten Gründen nach kürzester Zeit wieder verlor. Die Autorin hat das interviewen inzwischen aufgegeben. Sie schreibt nur noch auf. Vieles davon stammt aus ihrem eigenen Kopf, allerdings sind ihre Ansichten und die Äußerungen der Interviewpartner nicht immer klar abgegrenzt.
    Bei Noors Geschichte packt eine das kalte Grausen. Die Autorin schreibt brav mit und scheint sich ganz wohl zu fühlen. Noor hat Familie, das gibt Kraft. Aus dem zornigen Gymnasiasten wurde ein zielstrebiger ruhiger junger Mann, er will Medizin studieren. Das ist fein! Deswegen darf er auch sagen, daß es der deutschen Gesellschaft ein wenig an Menschlichkeit fehlt.
    Weil sie Ausländer schlecht behandelt? Aber nein. Weil sie ihre Alten ins Heim abschiebt. Das schreibt sogar die Welt.
    Daß Noor Probleme hat, Deutschland als Heimat zu sehen, erschreckt die Journalistin dann aber doch so sehr, daß sie tatsächlich zurückfragt. ‚Nach all den Jahren immer noch nicht?'
    Noor gibt keine Antwort. Er ist ein ausgesprochen höflicher junger Mann, der ältere Damen nicht beunruhigen möchte.


    Keine Nachfrage kommt auf eine Bemerkung des chinesischen Stundenten in Clausthal-Zellerfeld, daß er für seinen Studienaufenthalt eine deutschen Vornamen habe annehmen müssen. Ich stutze. Wie war das? Noch in China erklärte ihm eine Studentin aus dem Schwarzwald, daß er das müsse, und daß der Vorname ‚Andreas’ zu ihm passe. Ich bin geneigt, das für einen Flirtversuch zu halten, bis ich nur eine Seite später auf die Aussage stoße, daß auch der offizielle China-Beauftrage einen deutschen Vornamen bekommen habe. Was ist das für eine Regelung? Gilt sie nur für die Uni Clausthal? Oder haben die beiden sich taufen lassen? Was ist hier los?
    Die Journalistin scheint das völlig normal zu finden, es ist ihr weder eine Recherche noch einen Kommentar wert. Wo beginnt für sie Rassismus?
    Abgesehen davon, daß ich nicht verstehe, was das Porträt eines Austauschstudenten in einem Buch über Deutschland als Heimat zu suchen hat. Aber vielleicht handelt es auch von etwas anderem, die Autorin ist sich da nie so ganz sicher.


    Kommen wir zum schlimmsten Fall. Ein junger Mann, Deutscher. In Deutschland geboren, hier lebend, deutsche Staatsbürgerschaft. Die Herkunfts - Angabe im Inhaltsverzeichnis lautet: Israel.
    Ich lese es zweimal, verstehe nicht. Ein Druckfehler?
    Mitnichten. Der junge Mann ist Jude.
    Also sind alle Juden Israelis? Ausländer?
    ‚Ich bin in Deutschland geboren und deutscher Staatsbürger’ sagte er von sich selbst. Wer macht ihn zum Ausländer?
    Ich lege das Buch zur Seite. Ich bin sehr böse.


    Sehr viel später lese ich weiter. Ich lese von den beiden Palästinensern, die einen deutschen Paß haben, weil ihre Mutter Deutsche ist. In Hamburg haben sie schlechte Erfahrungen gemacht, in Köln gute. In Köln fühlen sie sich wohl, was die Journalistin gleich anregt, sich darüber auszubreiten, daß Süddeutsche eben freundlicher sind als Norddeutsche.
    Aber warum sollen in einem solchen Buch unüberlegte Vorurteile nicht auch mal die eigenen Leute treffen?


    Als nächstes lasse ich mich begeistern vom wunderbar literarischen Text von Elena Margulis aus der Ukraine, Slam-Poetin. Alles, was der Journalistin dazu einfällt ist: ‚super Figur, super Aussehen’ und dann noch: 'super Performance’. Danach hält sie die Klappe und ich bin dankbar.


    Dankbar bin ich auch im Artikel über die junge Frau aus Marokko über den Hinweis auf die Zeitschrift Gazelle, die sie herausgibt, und die sich speziell an jungen Frauen mit ‚Migrationshintergrund’ richtet. Ich wußte nichts davon, ich habe es sofort notiert.
    Einige Absätze des Beitrags stammen aus der Zeitschrift. Interessante Lektüre.
    Nicht dankbar bin ich über einige Sätze der Journalistin. Einer gilt dem Vater der jungen Frau und lautet ‚.. 1979 trennte er - ein Moslem - sich von seiner ersten Frau, ... und holte sich aus seiner Heimat eine zweite Frau.’
    Da sieht man es, die Moslems. Trennen sich von einer Frau und holen sich gleich die zweite.
    Was für seltsame Bilder hat diese Journalistin in ihrem Kopf? Ich würde ihr gern das Buch dagegen schlagen, vielleicht wacht sie dann endlich auf.


    Der Dornröschenschlaf hält an. Die jungen Frau aus Ghana, Mabel, in Frankreich geboren und damit Französin, liefert eine faszinierende Innensicht. Was für ein Leben für eine 26jährige!
    Die Journalistin findet vor allem spannend, daß sie eine 60-Quadratmeter-Wohnung an der Alster für 280 Euro Monatsmiete gefunden hat. Warum sonst würde sie uns mit diesen unwichtigen Details langweilen?
    Zugegebenermaßen hat sie auch nichts zu schreiben. Zu Ghana fällt ihr aus den leeren Weiten ihres Kopfraums zu, daß das Land ‚früher einmal den schönen Namen „Goldküste“ getragen hat.’
    Wie romantisch!


    Die Küstenstreifen Westafrikas bekamen ihre Namen nach dem Produkt, das die Vertreter europäischer Raubstaaten dort zusammenrafften, um es wegzuschleppen und anderswo ihre Vermögen damit zu machen. Deswegen hieß der angrenzende Küstenstreifen „Sklavenküste“. Zugegebenermaßen nicht so ‚schön’.
    Schön ist aber, daß Mabel in das ‚Land ihrer Väter’ fahren darf. Ihre Mutter stammt offenbar aus Grönland.
    Schön ist auch, daß ihre inzwischen altgewordenen Eltern sich wahrscheinlich wieder nach Ghana begeben werden. Sie waren politische Flüchtlinge, aber, so versichert uns die Journalistin, diese Zeiten sind vorbei. Auch schmerzen ihre Gelenke sicher nicht so sehr in der Wärme des goldenen Lands ihrer Väter und überhaupt ist das tägliche Leben in Afrika einfacher.
    Sie wird es schon wissen.


    Das letzte Kapitel ist aufregend. Mir stockt der Atem. Frau Journalistin auf dem Höhepunkt: sie trifft, man wagt es kaum zu schreiben, eine Illegale. Huch!
    In München! Huch-huch!!


    Am Busbahnhof ‚Müncher Freiheit’ wollen sie sich treffen. Frau Jounalistin friert, o, je. Was sie nicht alles auf sich nimmt, um, ja, wie lautete doch gleich ihr Thema? Also, um Dings aufzuspüren. Mit einer Illegalen. Isabella, nennt sie sich, aus Bolivien. Von ihr gibt es kein Photo.
    Dafür fällt der Journalistin auf, wie viele Ausländer sich um sie herum tummeln. Noch nie zuvor ist ihr das aufgefallen. Sie lebt in München, ist, nach ihrem Foto im Buch geschätzt, gut fünfzig Jahre alt. Ich nehme an, daß sie üblicherweise Auto fährt.


    ‚Isabella’ kommt, und Frau Journalistin taumelt kopfüber in die Welt der Illegalen. Ohne die in München nichts mehr funktionieren würde, wie ihr ein Migrationsforscher versicherte. Sie arbeiten überall, unter Tarif, versteht sich. Bis sie erwischt und rausgeworfen werden. Wir sehen die Autorin auf der Schwelle des investigativen Journalismus.
    Weswegen sie gleich erzählt, wie sich ‚Illegale’ Behandlungen bei Ärzten erschleichen. Mit den Chipkarten andere. O! Aber da stehen doch falsche Gesundheitsprofil darauf.
    Womit Frau Journalistin auch noch ihrer Zeit voraus ist. Noch gibt es diese Chipkarten nicht.
    Von dieser geistigen Anstrengung endgültig erschöpft, liefert sie uns rasch noch eine ordentliche Portion rosagefärbten Zuckerguß. Fort mit der Anwältin, die ‚Isabellas’ Papiere fälscht und sie als Gegenleistung als illegales Kindermädchen beschäftigt. Immerhin darf sie bei ihr bei Tisch mitessen. Bei Löhnen unter Tarif wird ein Butterbrot wohl noch drin sein?
    Aber: fort damit.
    Her mit Isabellas neuer Geschichte, sie hat sich verliebt. So schön. Wir sind glücklich.


    Nein, sind wir nicht. Dieses Buch ist empörend. Es ist konzeptlos, gedankenlos. Die Auswahl der Befragten hat nicht Hand noch Fuß. Irgendwie ‚stammen’ die jungen Leute von ‚Nicht-Deutschen’ ab. Manchmal sind sie auch Juden. Glücklicherweise mit polnischen Vorfahren, uff! Gerettet.
    Fremd ist halt fremd. Auch wenn man es nicht sieht.


    Heimat? Man bekommt den Eindruck, daß es vor allem darum geht, daß an Deutschland, das der Autorin sehr am Herzen liegt, kein Fleckchen bleibt. Wer kann sich beklagen? Die jungen Leute haben es doch geschafft. Es war hart, aber nun haben sie eine günstige Wohnung und eine Zukunft! Wer keine hat, ist wenigstens verliebt.
    Deutschland, Deutschland. Alles ist gut und wer noch keinen Gartenzwerg hat zum Knuddeln, sollte sich umgehend einen besorgen.


    Wer auf der Strecke bleibt, sind die Interviewten. Was sie sagen, ist schrecklich und schreckenerregend. Sie zahlen einen hohen Preis. Nur wer sehr aufmerksam liest und den süßlichen Schleier des bornierten Gutmenschentums durchdringt, der hier über alles gelegt wird, sieht die Rechnung. Und jeden einzelnen Posten darauf.
    Ein Wunder, daß sie soviel Humor udn Geduld haben. Mit uns.
    Das Buch bringt einiges an Erkenntnis für kritische und vor allem wohlinformierte Leserinnen und Leser. Erkenntnisse über dieses Land und so manche Menschen in ihm.
    Als Einstieg zum Thema ‚AusländerInnen in Deutschland’ ist es aber rundunm und völlig ungeeignet.
    Keine schöne Lektüre.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Als Einstieg zum Thema ‚AusländerInnen in Deutschland’ ist es aber rundunm und völlig ungeeignet.
    Keine schöne Lektüre.


    Erst mal Danke für die Warnung. Da in meinem aktuellen Buch gerade ein Aufeinanderprallen westlicher und arabischer Lebens- und Denkart passierte, fiel mir diese Buchvorstellung wieder ein. Gibt es denn ein geeignetes Buch zum Einstieg ins bzw. erste Information zum Thema? Kannst du etwas empfehlen?

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")